Das christlich-jüdische Verhältnis im Spiegel des Neuen Testaments
Zwei Thesen
von Peter Hirschberg

Es hat sich gezeigt, dass das Neue Testament das nicht an Christus gläubige Judentum teils sehr kritisch sieht, es aber an keiner Stelle eine explizite Substitutionstheorie vertritt. Zwar gibt es nicht wenige neutestamentliche Texte, die man, wenn der jüdische Kontext fehlt, im Sinne der Enterbungstheorie missverstehen kann, doch der eigentliche Sündenfall der Kirche fand nicht in neutestamentlicher, sondern in altkirchlicher Zeit statt. Antijudaismus und Judenhass sind keine direkten Folgen des christologischen Bekenntnisses der Kirche. Das heißt nun freilich nicht, dass das neutestamentliche Zeugnis in Bezug auf das jüdische Volk heute ohne Wenn und Aber nachgesprochen werden kann. Hier ist aufgrund der radikal veränderten Situation eine gründliche hermeneutische Besinnung nötig, in der dem Zeugnis des Paulus in Röm 9–11 wiederum ein besonderer Stellenwert zukommen muss. Dies soll im Folgenden in Thesenform versucht werden.

1. Die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes, so wie Paulus sie in Röm 9–11 lehrt, muss Basis einer neuen christlich-jüdischen Verhältnisbestimmung sein. Dabei ist theologisch zu begründen, warum innerhalb der Vielfalt neutestamentlicher Stimmen Röm 9–11 der Vorzug zu geben ist, und welche Bedeutung in diesem Rahmen den anderen Israelzeugnissen zukommt.

Es gibt kaum eine aktuelle Stellungnahme im christlich-jüdischen Dialog, die nicht auf Röm 9–11 Bezug nimmt. Die daraus abgeleitete Überzeugung von der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes ist zu einem Grundaxiom christlicher Israeltheologie geworden. Doch mit welchem Recht beruft man sich vor allem auf diesen Text? Eines ist ja klar: Sollte das paulinische Israelzeugnis innerhalb des Neuen Testaments das Einzige sein, das eine positive Israeltheologie vertritt, also eine Theologie, die auch das Israel post Christum natum positiv würdigt, dann müsste man theologisch schon sehr gute Gründe haben, um im Namen dieses einen Zeugnisses alle anderen zu relativieren. Doch dies ist so auch nicht der Fall. Trotz entscheidender Unterschiede gibt es, wie wir gesehen haben, nicht wenige fundamentale Gemeinsamkeiten. An dieser Stelle möchte ich nur noch einmal hervorheben, dass wir im lukanischen Doppelwerk, in der Johannesoffenbarung und im Matthäusevangelium Hinweise auf eine eschatologische Hoffnung für Israel gefunden haben. Zugegeben: Manches ist dabei noch vage und offen geblieben. Aber ist nun umgekehrt bei Paulus alles klar und eindeutig? Auch bei dem „ganz Israel“, das nach Röm 11,26 durch den aus Jakob kommenden Parusiechristus gerettet werden soll, geht es nicht um alle Juden im wörtlichen Sinn, sondern um die eschatologische Vollzahl, eine Größe, die numerisch und personell gerade nicht genau zu bestimmen ist. Die paulinische Gewissheit der Rettung ganz Israels, das Hoffnungsbild des Sehers (Offb 21f ) und die eschatologische Perspektive des Lukas weisen also zumindest grob in die gleiche Richtung, auch wenn es keiner so klar und eindeutig formuliert hat wie Paulus.

Der entscheidende Unterschied zwischen Röm 9–11 und den übrigen Israeltheologien liegt woanders. Er besteht in der Wertung des aktuell nicht an Christus gläubigen Israel. Wir haben gesehen, dass sich nach Matthäus, der Johannesoffenbarung, dem Johannesevangelium und wahrscheinlich auch nach dem lukanischen Doppelwerk das nicht glaubende Israel selbst aus dem erwählt bleibenden und in Christus seine Kontinuität findenden Israel herauskatapultiert. Das Gottesvolk Israel wird nicht enterbt – so die klassische Substitutionstheorie –, aber diejenigen, die nicht an Christus glauben, enterben sich selbst. Im Gegenzug dazu begreift Paulus Israel dialektisch. Die nicht an Christus glaubenden Juden sind verstockt, sie sind aus dem Ölbaum ausgebrochen, sie sind „Feinde um euretwillen“, aber sie sind und bleiben dennoch erwählt: geliebt um der an die Väter ergangenen Verheißungen willen.

Woher kommt dieser Unterschied? Er kommt daher, dass Paulus das Schicksal Israels konsequent von seiner Rechtfertigungslehre her zu begreifen versucht. Letztlich geht es ja vor allem um die eine Frage, die Frage, worauf es vor Gott ankommt. Auf seine Verheißungstreue, die auch über unseren Ungehorsam triumphieren wird? Oder auf unser Tun? Paulus spricht sich klar für die Verheißungstreue Gottes aus, und dieser zentrale Punkt paulinischer Theologie hat m. E. normativen Charakter. Erstens, weil er einer konsequent von Kreuz und Auferstehung her entfalteten Christologie entspricht (Röm 3,21–30; 5,6–11.12–21). Zweitens, weil sich darin das bleibend Gültige der reformatorischen Urerfahrung (KlKat Art. 3; CA IV) spiegelt: Wir verdanken unseren Glauben und das Gute, das durch unser Leben geschieht, nicht unserem so großartigen Gehorsam, sondern dem Geheimnis der göttlichen Gnade. Anders kann ich jedenfalls nicht glauben und denken. Anders kann ich auch nicht davon ausgehen, dass der Kirche immer noch die Verheißung des auferstandenen Christus gilt: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt 28,20) Wenn wir nun aber tatsächlich aus dem Glauben heraus leben, dass diese Kirche trotz all ihrer Fehltritte, Versäumnisse und grauenvollen Taten (gerade auch gegenüber Juden) immer noch von Gott geliebt und gehalten ist, wie können wir dann denen, die der Gott Jesu Christi zuerst erwählt hat, diese bleibende göttliche Zuwendung streitig machen? Wenn die Gnade und die Verheißungstreue Gottes den Vorrang haben, dann muss dies für beide gleichermaßen gelten, für die Kirche und für Israel.

Natürlich ist das nicht die einzig mögliche theologische Option. Es ist zum Beispiel aller Ehre wert zu überlegen, ob sich Gott nach dem Ungehorsam von Juden und Christen inzwischen nicht einem ganz anderen Volk zugewandt oder sich gar endgültig von seiner Welt zurückgezogen hat. Es ist jedenfalls durchaus nachvollziehbar, wenn Friedrich-Wilhelm Marquardt angesichts von Auschwitz seine Eschatologie nur noch als in den Konjunktiv gesetzte Frage zu formulieren wagt: „Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?“117 Solche Zweifel zeigen zumindest, dass man es sich nicht zu leicht macht und keiner „billigen Gnade“ huldigt. Wenn christlicher Glaube jedoch trotz all dieser ernst zu nehmenden Bedenken sein Zentrum darin hat, genau dies mit aller Macht zu verneinen, weil die göttliche Liebe im Kreuz Jesu Christi menschliche Schuld und Sünde endgültig und ein für alle Mal überwunden hat, dann kann dieser Zweifel an der Güte Gottes keine Lösung sein, dann ist eine Leugnung der Verheißungstreue Gottes eine Verleugnung des für Israel und uns gekreuzigten Jesus.

Sind diese Überlegungen richtig, dann kann, ja muss man in einem weiteren Schritt darüber nachdenken, ob der größte Unterschied zwischen der paulinischen Konzeption und den anderen neutestamentlichen Israeltheologien nur mit der Israelfrage als solcher zu tun hat, oder ob er nicht noch stärker mit zwei unterschiedlich akzentuierten Typen von Anthropologie – und dementsprechend natürlich auch von Soteriologie – zusammenhängt. Paulus käme zu seiner positiven Sicht dann vor allem deshalb, weil er konsequent von seiner in der göttlichen Verheißungstreue verankerten, christologisch begründeten Rechtfertigungslehre her denkt. Matthäus, der Seher Johannes und sicher auch noch andere neutestamentliche Autoren würden dem „freien Willen“ des Menschen dagegen mehr zutrauen und kämen deshalb auch zu anderen Wertungen. Bei Matthäus zum Beispiel, um nur einen Autor dieser Gruppe exemplarisch herauszugreifen, ist es zwar durchaus so, dass die in Christus konzentrierte Gnade dem Tun des Menschen vorausgeht, der Gehorsamsakt des Menschen also auf die Gnade folgt.118 Dennoch ist die uns begegnende Gnade wesentlich enger als bei Paulus an die Weisungen des Messias gebunden. Sie aktualisiert sich geradezu in diesen Weisungen, so dass man an der Gnade des Messias keinen Anteil hat, wenn man seine Worte nicht auch wirklich befolgt. Ein im Grunde genommen sehr jüdischer Ansatz, weil hier die göttlichen Weisungen der Gnade nicht entgegengestellt werden, sondern selbst als Ausdruck göttlicher Gnade, als Evangelium verstanden werden.119 Sie bringen dem Gehorsamen Heil und Heilung. Die Kehrseite freilich ist: Ohne Gehorsam gibt es kein Heil! Und dieser Gehorsam scheint nach Auffassung des Matthäus nun tatsächlich stärker als bei Paulus eine menschliche Möglichkeit zu sein. Ein Ansatz, der bei der Offenbarung – auch wenn dort Toragehorsam etwas anderes bedeutet als bei Matthäus – sehr ähnlich ist. Die Gemeinden der Sendschreibenstädte können ihrer Erwählung verlustig gehen, wenn sie nicht Buße tun (Offb 2,5; vgl. auch 2,16.22f; 3,3). Noch einmal: Müssen wir statt zwischen zwei Israeltheologien zwischen zwei systematisch-theologischen Grundoptionen wählen?

Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheint. Schon Paulus ist – um eine Formulierung Bonhoeffers aufzunehmen – kein Vertreter einer „billigen Gnade“. Gerade ihm ist die nicht aufzulösende Dialektik von Gnade und Freiheit bewusst. Das kommt vielleicht am treffendsten in Phil 2,12f zum Ausdruck, wo er schreibt: „Also, meine Lieben, – wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit – schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen“. Nach diesem Wort sollen die Christen sich mit Furcht und Zittern darum bemühen, selig zu werden, weil (!) alles an Gottes Wirken liegt. Das klingt ein wenig so, als ob man zu jemandem sagen würde: Streng dich kräftig an, aber eigentlich sind alle deine Bemühungen sowieso umsonst. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären, wenn die Logik nicht völlig ad absurdum geführt werden soll? Vielleicht kann man es so verstehen: Nach Paulus liegt tatsächlich alles an Gottes Wirken, an seiner Gnade. Deshalb soll der Mensch nichts aus sich selbst heraus tun, sondern im Vertrauen auf die göttliche Gnade leben und arbeiten. Er soll sich rückhaltlos Gott anvertrauen. Freilich, und darin liegt die bleibende Paradoxie: Das soll er tun. Dazu wird er aufgefordert. Paulus sagt eben nicht: Es ist gleichgültig, was ihr tut, Gott wird schon alles zum Guten wenden. Sondern: Es liegt alles an Gott, ja, aber gerade deshalb kommt es darauf an, dass ihr euch ihm ganz und gar anvertraut. Diese Dialektik von Gnade und Freiheit ist dem paulinischen Glaubensverständnis zutiefst zueigen. Sie vereinigt zwei gegensätzliche und logisch nicht zu vereinbarende Erfahrungen120, die für sich betrachtet aber dennoch wahr und gültig sind. Erfahrungen, die nach Paulus auch dort gemacht werden, wo ein Mensch zum Glauben findet:

„Paulus kann seinen eigenen Weg immer nur dialektisch charakterisieren: Er kann nicht sagen, er habe sich entschlossen zu glauben, aber auch nicht, Gott habe ihn gezwungen zu glauben. (…) Das Ich, das glaubt, ist ein neues Ich (2 Kor 5,17). Glaube entsteht nicht dadurch, daß der Mensch aus sich heraus sein Selbstverständnis ändert oder zur Einsicht kommt, sondern dadurch, daß dem alten Ich ein neues Ich gegenübertritt. Das neue Ich erachtet das alte Ich als ‚mitgekreuzigt‘ (Röm 6,6.11). Daher nennen spätere ntl. Schriften das Werden des Glaubens Wiedergeburt ( Joh 3,3.5; 1 Petr 1,3) oder Sehend-Werden eines Blindgeborenen ( Joh 9). Und doch ist dies nur die eine Seite: Der Glaube ist zugleich Antwort des ganzen Menschen. Er ist – als menschliches Verhalten beschrieben – in seinem Kern Gewißwerden, Zutrauen zu Gottes Zusage (Röm 4,16–25), eine Äußerung des Fühlens; er ist weiterhin Gehorsam (Röm 1,5; 6,16 ff; 10,16 f), eine neue Ausrichtung des Willens, und schließlich Erkennen (1 Kor 8,2f), ein neues Denken. Der ganze Mensch wendet sich der Wirklichkeit Gottes zu und verhält sich demgemäß.“121

Nun muss man allerdings eines ohne Wenn und Aber zugeben: So sehr Paulus um die Dialektik von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade bzw. Vorherbestimmung weiß, seine Dialektik ist, gerade weil sie eine aus Kreuz und Auferstehung gewonnene Dialektik ist, alles andere als ausgewogen. Paulus gibt aufgrund seiner Glaubensperspektive der göttlichen Verheißungstreue eindeutig den Vorzug. Er vertraut darauf, dass Gott mit den in der Taufe Erwählten zu seinem Ziel kommt (Röm 8,30; Phil 3,12). Genauso wie er darauf vertraut, dass Gott mit dem durch die Väter erwählten Israel ans Ziel kommt (Röm 9,6; 11,25f ). 122

Vielleicht kann es helfen, diesen Sachverhalt an einem Beispiel aus dem Bereich der Physik zu illustrieren, das manchmal in populären physikalischen Büchern angeführt wird, um blutigen Laien die Relativitätstheorie Einsteins etwas verständlicher zu machen. Man stelle sich folgende Situation vor: Zwei Menschen spielen in einem Eisenbahnwaggon Tischtennis. Die entscheidende Frage heißt nun: Welche Entfernung legt der Ball von einem Aufschlag zum anderen zurück? Aus der Sicht der Spielenden sind das, sagen wir einmal, 1,50 Meter! Das ist unbestreitbar wahr. Ganz anders sieht es allerdings aus, wenn man dieses Tischtennisspiel erstens von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, nämlich aus der Perspektive eines am Bahngleis stehenden Zuschauers, und man zweitens noch davon ausgeht, dass der Zug am Fahren ist. Auf einmal legt der Ball nämlich nicht nur 1,50 Meter zurück, sondern vielleicht 5 oder 10 Meter, je nach Schnelligkeit des Zuges. Beides ist wahr, auch wenn es sich vom jeweiligen Standpunkt aus um widersprüchliche Angaben handelt. Mir kommt es nun ein wenig so vor, als ob Paulus bei der Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade beide Standpunkte kennt. Er kennt den Standpunkt der Spielenden, ist sozusagen selbst Mitspieler – und pocht in diesem Rahmen auch auf die uns gegebene Freiheit –, ist in bestimmter Hinsicht aber auch Betrachter am Bahngleis, so dass er das Spiel von der Außenperspektive aus sehen kann, aus der Perspektive des Glaubens, bei der alles an der göttlichen Gnade hängt und von der her dann die menschliche Tat auch wieder gehörig relativiert werden kann.

Bezogen auf Israel: Als christusgläubiger Jude steht er mitten in der Auseinandersetzung. Er kämpft darum, dass Juden sich Christus zuwenden, er leidet darunter, dass die meisten es nicht tun. Sogar seine Heidenmission ist nicht unwesentlich davon bestimmt, Juden dadurch „eifersüchtig“ zu machen. Aus dieser Perspektive nimmt er den menschlichen Ungehorsam wahr, kann Juden als „Feinde“ bezeichnen, wenn auch „um des Evangeliums willen“. Das wäre die Situation innerhalb des Eisenbahnwaggons. Nun sieht er aufgrund des ihm offenbarten Mysteriums und seiner Rechtfertigungslehre das Ganze aber auch noch aus der Außenperspektive, fast schon aus einer göttlichen Sicht. Dabei nimmt er wahr, dass der Zug infolge der göttlichen Verheißungstreue in eine bestimmte Richtung fährt und der Zielbahnhof die eschatologische Etablierung des göttlichen Reiches ist. Die Richtung ist und bleibt klar vorgegeben, selbst, wenn die Leute im Eisenbahnwaggon in die entgegengesetzte Richtung laufen. Paulus vertraut also darauf, dass Gott selbst aus unserem menschlichen Versagen noch Gutes hervorbringen kann. Das Wort, das Joseph am Ende seinen Brüdern zusagt, die ihn zuvor verkauft und verraten haben, kann man auch über die paulinische Gnadentheologie stellen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ (Gen 50,20)

Wenn wir bei diesem Beispiel bleiben und von ihm her den Unterschied zwischen Paulus und Theologen wie Matthäus oder dem Seher Johannes noch einmal genauer zu fassen versuchen, dann muss man davon ausgehen, dass bei den theologischen „Opponenten“ von Paulus die Binnenperspektive dominiert. Sie sind völlig in der Situation der im Eisenbahnwaggon „Spielenden“ oder „Laufenden“ gefangen. Sie können nicht so einfach wie Paulus davon abstrahieren und sich außerhalb des Waggons begeben. Doch warum? Ich denke, hier sind mehrere Gründe zu nennen, wobei all diese Gründe letztlich damit zusammenhängen, dass es diesen Autoren um einen konkret sich in unserer Wirklichkeit realisierenden Messianismus geht. Dieser sehr real gedachte Messianismus zeigt sich zuallererst an der Bedeutung der Werke bzw. der Früchte, die in diesen judenchristlichen Theologien nicht zu unterschätzen ist. Gerade weil die Überzeugung des gekommenen Messias so brennend ist, müssen sie auf der konkreten ethischen Realisierung des (messianischen) Heils beharren. Im Vollkommenheitsideal, das uns Matthäus in der Bergpredigt vor Augen malt, spiegelt sich dieser messianische Realismus so sehr, dass sich die „christliche“ Gerechtigkeit als die gegenüber der pharisäischen bessere erweisen muss (Mt 5,20). Auch Paulus geht es durchaus um die Werke, aber er kann die Bedeutung der Werke aufgrund seiner Gnadentheologie dann auch wieder relativieren, jedenfalls in der Hinsicht, dass sie nicht das letzte Urteil über einen Menschen sprechen dürfen (1Kor 3,12–15). In den matthäischen Gerichtsgleichnissen dagegen ist das Früchtebringen letztes und oberstes Kriterium für den Weltenrichter. Das Judentum des Matthäus zeigt sich darin, dass für ihn Messianismus keine nur theoretische Erlösungslehre sein darf. Echter Messianismus muss sich konkret-geschichtlich manifestieren. Das, was in unseren Augen heute zu problematischen Israeltheologien führt, ist so betrachtet etwas genuin Jüdisches, etwas, das als Gegengewicht zu einer zu billigen christlichen Gnadentheologie und einer zu vollmundigen Erlösungslehre ja auch tatsächlich sein Recht hat. Selbst Paulus ist dieses Denken im Prinzip keineswegs fremd. Dennoch kann er es relativieren, und zwar deshalb, weil er eine Kreuzestheologie (theologia crucis) entwickelt hat, die das Messianische auch als verborgene Wirklichkeit wahrnehmen kann (1Kor 1–2,16). Allein diese Einsicht befreit ihn davon, eine zu einfache irdisch-geschichtliche Erfüllungstheologie zu vertreten und ermöglicht es ihm, Jesus nicht nur als Erfüllung, sondern auch „nur“ als Bestätigung der Verheißung zu denken (Röm 15, 8ff ). Er kann sich besser als Matthäus oder der Seher Johannes mit einer fragmentarischen Erfüllung im Hier und Jetzt bescheiden.

Diesem real-messianischen Grundzug entspricht auch die „Ekklesiologie“ dieser Entwürfe, in der die verheißungsgeschichtliche Kontinuität zu Israel in sehr direkter und klarer Weise durch die Judenchristen gewährleistet ist, so dass es – ganz konsequent gedacht – ohne Christusglauben auch keine Teilhabe am wahren Israel gibt. Wieder ist es also so, dass sich die Verheißung real manifestieren muss, eben in einem messianischen Israel. Das ist ein ganz anderer Denkvorgang als der des Paulus, der den Widerspruch zwischen der Israel geltenden Verheißung und der geschichtlichen Wirklichkeit wahrnimmt und (vorläufig) akzeptiert, die Verheißung aber dennoch nicht preisgibt, weil Gott auch in der Verborgenheit geschichtlicher Irrungen und Wirrungen am Werke sein kann, ja sich sogar der menschlichen Sünde bedienen kann, um seine Ziele zu erreichen. Diese stärker judenchristliche Denk-und Glaubensstruktur ist ohne den konkreten polemischen Kontext, in dem diese Judenchristen standen, kaum verstehbar. Damit ist nicht gesagt, dass deren Theologien nur aufgrund des konkreten Kontexts entstanden sind, sehr wohl aber, dass der Kontext eine Ausbildung dieser Grundstruktur kräftig begünstigt hat. So mussten die Autoren des Matthäus- und Johannesevangeliums ebenso wie der Verfasser der Offenbarung ihre Gemeindeglieder angesichts immer massiver werdender Angriffe in der Gewissheit bestärken, zum wahren Israel zu gehören. Andererseits mussten sie sich – auch davon zeugt ihre scharfe Polemik – darum bemühen, die letzten Register zu ziehen, um andere Juden für ihre Version wahren Judentums zu gewinnen. Dieser durch eine extreme Konfliktsituation erzeugte polemische Kontext machte es fast unmöglich sich damit abzufinden, dass das eigene Volk in seiner Majorität den Christusglauben ablehnt. Nehmen wir wieder Matthäus als Beispiel: Die Trennung zwischen Juden und Judenchristen war nach unseren Überlegungen im Prinzip zwar vollzogen, scheint aber noch nicht allzu lange zurückzuliegen und war wohl auch nicht in der Weise absolut, wie wir das heute zu denken geneigt sind. Jedenfalls überwiegt der Eindruck, dass Matthäus immer noch gewaltig kämpft, und er gerade deshalb in scharfer Polemik seine judenchristliche Vision eines zukünftigen Judentums propagiert. Auch der Seher Johannes befindet sich inmitten solcher Konflikte. Ähnlich die Verfasser des Johannesvangeliums, das in seinen unterschiedlichen traditionsgeschichtlichen Schichten ganz verschiedene Stadien dieses Prozesses eingefangen hat. In solchen Entscheidungssituationen kann man nicht anders, als Menschen auf ihre Freiheit anzusprechen. Man muss alles wagen, alles fordern. Vor allem darf man sich nicht irgendwelchen theoretischen Spekulationen hingeben, die die eigene Willenskraft vielleicht nur schwächen. Dem kommt eine Theologie, die an einer konkreten Manifestation der messianischen Wirklichkeit interessiert ist und ebenfalls klare Entscheidungen erfordert, durchaus entgegen.

Paulus ging in seiner Israeltheologie in Röm 9–11 einen dezidiert anderen Weg, und das nicht, weil er des Kämpfens müde gewesen wäre oder der Kampf seine Schärfe verloren hätte, sondern allein, weil er aufgrund göttlicher Offenbarung und einer konsequent zu Ende gedachten Rechtfertigungslehre einen Blick geschenkt bekam, der ihm half, die ganzen Konflikte noch einmal aus einer anderen Warte zu betrachten. Paulus hat „gelernt“, die Erfahrung der „Verstocktheit“ Israels positiv zu deuten, sie im Licht der bleibend gültigen Verheißung zu betrachten. Matthäus, der Seher Johannes und andere waren noch nicht an diesem Punkt, und das, obwohl sie Jahrzehnte später wirkten und schrieben. Es ist gut vorstellbar, dass sie Paulus vielleicht sogar vorgeworfen hätten, er sei ein spekulativer Geschichtsphilosoph, der sich mit seinem eschatologischen Entwurf in

unerlaubter Weise aus der konkreten Geschichte verabschiedet und damit einen entscheidenden Wesenszug jüdischen Messianismus preisgibt. Aber wagen wir es ruhig einmal, weiterzudenken. Welche Theologie hätten ein Matthäus oder ein Johannes hundert Jahre später vertreten? Zu einem Zeitpunkt, wo endgültig klar war, dass der Kampf um das Judentum verloren war und sich auch das Judenchristentum im Rückzug befand. Wenn beide ihr Judentum nicht gänzlich aufgegeben hätten und wenn beide immer noch der Überzeugung gewesen wären, dass biblischer Glaube ohne Glaube an die Verheißungstreue Gottes keinen Sinn macht, dann kann ich mir eigentlich nur eines vorstellen: dass sie mit fliegenden Fahnen ins Lager des Paulus übergelaufen wären. Denn wenn der judenchristliche Kern der Kirche nicht mehr vorhanden und damit auch die verheißungsgeschichtliche Kontinuität gefährdet ist, dann muss man entweder die Verheißungstreue Gottes in den Wind schreiben, oder eben doch in Erwägung ziehen, dass Gottes Wege nicht unsere Wege sind und Gott deshalb auch auf einem ganz anderen Weg mit Israel zum Ziel kommen kann. Freilich hätte eine solche theologische Korrektur auch zur Folge haben müssen, dass man das eigene Verständnis von Messianismus und Erlösung revidiert. Nicht so, dass man die auch vom Evangelium geforderte Konkretion der Erlösung in unserer menschlich-irdischen Wirklichkeit aufgibt, aber so, dass man das Partikulare und Fragmentarische, in dem wir auch als Christen noch stehen – das paulinische „noch nicht“ – deutlicher hervorhebt. Das würde dann auch ermöglichen, dass man sich eher als Weggenossen des jüdischen Volkes begreifen könnte, weil beide, Christen und Juden, je auf ihre Weise noch auf das endgültige Kommen des Gottesreiches warten.

2) Israel und die Kirche sind je auf ihre Weise vom Gott Israels erwählt. Dennoch gibt es keine systematisch eindeutige Verhältnisbestimmung zwischen Juden und Christen. Das wäre auch nicht gut, denn Israel und Kirche sind einander als Geheimnis gegeben. Ein Geheimnis ist einem nicht gegeben, um es restlos zu verstehen, sondern, um es als Geheimnis zu lieben und zu ehren. Eines lässt sich aber in jedem Fall sagen: Christen und Juden sollen einen Dialog führen, in dem man sich dem anderen nicht vorenthält, ihm aber gleichzeitig auch in großer Offenheit und Lernbereitschaft begegnet. Was dabei dann letztlich herauskommt, können sie getrost Gott anheim stellen.

Die bleibend gültige Erwählung Israels stellt Christinnen und Christen vor die schwierige Frage, wie das Verhältnis zu Israel theologisch adäquat zu bestimmen ist. Gibt es nun zwei Gottesvölker? Ein Gottesvolk in zweierlei Gestalt? Oder sollte man den Begriff „Gottesvolk“ vielleicht überhaupt nur auf das jüdische Volk anwenden, die Gemeinschaft der durch Jesus Christus an den Gott Israels Glaubenden dagegen mit einer ganz anderen Begrifflichkeit beschreiben?

Im christlich-jüdischen Dialog der Gegenwart versucht man häufig mit Hilfe der Bundeskategorie eine Klärung herbeizuführen.123 So heißt es in der Rheinischen Synodalerklärung: „Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottesvolk und erkennen, dass die Kirche in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist.“ Dieser Ansatz wird unter den protestantischen Israeltheologen in Deutschland an prominenter Stelle von Berthold Klappert vertreten, der auch maßgeblich an der Entstehung der Rheinischen Erklärung mitgewirkt hat. Klappert geht davon aus, dass durch Jesus Christus der Bund Gottes mit Israel erneuert und aufgrund der nun beginnenden Völkerwallfahrt zum Zion für die Völker geöffnet wurde.124 Ganz ähnlich wie die Rheinische Erklärung formuliert auch der Reformierte Bund in einem Beschluss aus dem Jahre 1990: „Gott hat seinen Bund mit Israel nicht gekündigt. Wir beginnen zu erkennen, in Christus sind wir Menschen aus der Völkerwelt, unserer Herkunft nach fern vom Gott Israels und seinem Volk, gewürdigt und gerufen zur Teilhabe an der Israel zuerst zugesprochenen Erwählung und zur Gemeinschaft im Gottesbund.“ Auf katholischer Seite ist dieser Ansatz ebenfalls stark vertreten, stellvertretend für viele nenne ich hier nur Norbert Lohfink125 und Erich Zenger.126

Doch gerade die Behauptung, dass wir als Christen in den Bund Gottes mit Israel hineingenommen sind, wirft manche Fragen auf. So wahr es ist, dass die Kirche von ihrer Verwurzelung in der Verheißungsgeschichte Israels lebt, bedeutet dies zwangsläufig, dass sie deshalb in den Israelbund integriert ist? Ist es nicht vielmehr so, dass der Bund Gottes mit Israel zwar die Voraussetzung für den Gottesbund mit den Völkern bildet127, dieser aber dennoch von dem ersteren als eigene Größe zu unterscheiden ist? Wenn neuere exegetische Untersuchungen zu Röm 11,17–24 richtig sind, dann ist mit der Wurzel des edlen Ölbaums, an deren Kraft die nichtjüdischen Völker durch Christus teilbekommen, auch nicht der Israelbund gemeint, sondern der diesem vorausgehende Bund Gottes mit Abraham.128 Ganz folgerichtig urteilt deshalb die EKD-Denkschrift „Christen und Juden III“ bezogen auf Röm 9–11: „Die Möglichkeit einer unmittelbaren Hineinnahme der glaubenden Heiden in den bleibend von Gott durchgehaltenen Bund mit Israel deutet er (Paulus) mit keinem Wort an. … So drängt sich der Eindruck auf, dass eine solche Bundessystematik nicht im theologischen Blickfeld des Apostels gelegen ist.“129 Selbst die Bundesterminologie in den Abendmahlstraditionen ist nicht brauchbar, da sie nicht primär auf ekklesiologische, sondern auf christologische Fragestellungen zielt.130 Aus systematischer Perspektive ist es also nicht sinnvoll, von einer Hineinnahme der Völker in den Gottesbund mit Israel zu reden. Der Israelbund hat seine eigene Würde. Er zielt zwar – neutestamentlich betrachtet – über das durch Jesus Christus eschatologisch erneuerte Israel auch auf die Völkerwelt. Aber die Völker wiederum sind ein eigener Adressat göttlicher Zuwendung, so dass man hier auch terminologisch differenzieren sollte. Vielleicht ist es bei den aus den Völkern Erwählten eben doch am besten – ganz traditionell – von der Kirche zu sprechen, von denen, die Gott „herausgerufen“ hat. Davon kommt ja ganz ursprünglich auch das Wort. Natürlich steht über Christen und Juden der eine Bundes-und Gemeinschaftswille Gottes, und deshalb kann man ganz legitim auch davon sprechen, dass der „Bogen des einen Bundes“ über beiden aufgerichtet ist. Aber das gilt eben nur, wenn man streng eschatologisch denkt, von dem her, wozu beide letztlich berufen sind. Heilsgeschichtlich betrachtet sollten beide Berufungen besser unterschieden werden. Die Berufung Israels ist eine andere als die Berufung der aus den Völkern gesammelten Kirche.131

Wenn nun aber auch die Bundesterminologie nicht wirklich hilft, um die Beziehung Israel–Völker terminologisch adäquat zu beschreiben, was hilft dann? Antwort: Nichts, und vielleicht soll auch gar nichts helfen! Könnte es nicht sein, dass eine adäquate Begrifflichkeit gar nicht wünschenswert ist, weil Christen und Juden einander auf diese Weise – und zwar nicht nur terminologisch – im Griff hätten? Vielleicht sollen sie genau das aber nicht, weil Gott beide dazu berufen hat, sich immer wieder neu gegenseitig zu provozieren und zu inspirieren. Eine klare systematische Verhältnisbestimmung könnte genau das verhindern. Vielleicht ist es deshalb besser von einem Geheimnis zu sprechen, einem in der Weltzeit unauflösbaren Geheimnis, das Gott selbst zwischen Christen und Juden gestiftet hat. „Im Geheimnis einander nahe“, so hat Josef Wohlmuth in kluger Diktion einen christlich-jüdischen Aufsatzband genannt.132 Die christlich-jüdische Berufung bestünde demgemäß also darin, dass wir unseren Weg solidarisch und dialogisch miteinander und – wo nötig – auch gegeneinander gehen, von der ständigen Frage begleitet, wozu uns der andere und wozu wir dem anderen gegeben sind. Wie auch immer sich diese Frage in einer jeweiligen Zeit konkretisieren mag, sie setzt voraus, dass wir auf unterschiedliche Weise Anteil am Geheimnis Gottes haben, Anteil an seiner Verheißungsgeschichte, Anteil an der Hoffnung auf das kommende Reich. Insofern gehören wir natürlich auch beide zu dem einen Gottesvolk. Aber diese Einheit ist eine verheißene und geglaubte, noch keine in unserer Weltzeit offenbare. Kurz: Wir sind dazu berufen, uns in gottgewollter Komplementarität infrage zu stellen und zu ergänzen. Deshalb werde ich von nun an auch alle Definitionsfragen beiseitelegen und nur noch der Frage nachgehen, wozu uns Christen der jüdische Partner gegeben ist. Das bedeutet nicht, dass nicht auch Juden etwas von Christen lernen könnten, aber das zu bestimmen kann nicht unsere Aufgabe sein kann. Als Christen haben wir uns schon zu oft angemaßt, für Juden und Jüdinnen zu sprechen.

Also, wozu ist uns der jüdische Partner gegeben? Er ist uns dazu gegeben, dass wir von ihm all das lernen, was er selbst in einer langen Geschichte mit seinem Gott gelernt hat. Auch wenn Paulus und andere neutestamentliche Autoren explizit kaum davon sprechen, dass die Heidenchristen etwas vom Judentum lernen müssten, implizit ist der Gedanke, dass Israel der Kirche etwas zu sagen hat, das diese sich nicht selbst sagen kann, immer da (z.B. Röm 9,4f; 11,17–18). Wenn dies oft nicht weiter entfaltet und mit konkreten Inhalten gefüllt wird, dann nur deshalb, weil aufgrund der nach wie vor sehr massiven Existenz der Judenchristen das jüdische Erbe im Christentum noch lebendig vorhanden war und man deshalb auch eher davor gefeit war, auf pagane Irrwege zu geraten. Genau das hat sich inzwischen allerdings grundlegend geändert. Die Israelvergessenheit und damit die Gefahr einer Paganisierung des christlichen Glaubens ist in einer bedrohlichen Weise Wirklichkeit geworden. Nehmen wir als Beispiel die christliche Haltung zur Tora. Oft hat man im Protestantismus lutherischer Provenienz das Gesetz nur noch als Zuchtmeister auf Christus hin verstanden und dabei vergessen, dass auch das Neue Testament darum weiß, dass die Gebote Gabe des gnädigen Gottes sind. Man wehrte sich im Namen der christlichen Freiheit dagegen, bestimmte Grenzen zu ziehen, aber leider ging mit dem Verlust der äußeren Form oft auch der Inhalt verloren. Man hat nicht erkannt, dass die Tora auch eine Gestalt des Evangeliums sein kann. Oder, um ein anderes Beispiel zu wählen: Wie ist es mit der Hoffnung auf die Erlösung der Schöpfung? Wurde dieser Realitätsbezug im Christentum nicht vielfach preisgegeben, weil an die Stelle der Erlösung unserer Welt in gut platonischer Manier die Erlösung der Seele getreten ist? Viele Christinnen und Christen schütteln nur verständnislos mit dem Kopf, wenn sie hören, dass das eigentliche Ziel christlichen Glaubens nicht das ewige Leben, sondern die Erlösung dieser Welt ist. Doch im „Vater unser“ beten wir – gut jüdisch – nicht: „Bringe uns in dein Reich!“, sondern: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Aber so ist das, wenn man den jüdischen Boden unter den Füßen verliert, man verliert dann überhaupt ganz schnell die Bodenhaftung – und damit auch die Menschlichkeit. Den Beispielen könnten unzählige weitere hinzugefügt werden, und die meisten dieser Beispiele lassen nicht die Schlussfolgerung zu, dass wir all das nicht auch in unserer „eigenen“ christlichen Tradition hätten. Natürlich: Wir haben es, weil diese Tradition durch und durch jüdisch ist. Aber: Weil uns häufig das jüdische Gegenüber fehlt, nehmen wir diese jüdische Dimension nur ungenügend wahr und fallen trotz dieses theoretischen „Besitzes“ dem Heidentum anheim.

Doch wie gehen wir in einem solchen Dialog nun mit den kritischen Punkten um, vor allem mit der Ablehnung Jesu, die ja sogar Paulus dazu führt, von einem ungehorsamen und verstockten Israel zu sprechen? Nun sahen wir bereits bei Paulus, dass er nicht dabei stehen bleibt, sondern die Verstockung Israels als etwas begreift, das Gott gewirkt hat, damit das Heil zu den Heiden kommen kann. Paradox formuliert: Der Unglaube Israels, mit dem dieses Israel gegen den Messias des Gottes Israels streitet, ist irgendwie auch gottgewollt. Sicher nicht so, dass es immer und ewig so bleiben soll, aber vielleicht doch so, dass dieser Unglaube zumindest für eine bestimmte Zeit dem Willen Gottes entspricht. Genau an diesem Punkt entsteht nun aber die Frage, ob wir hier und heute nicht noch einen entscheidenden Schritt weitergehen müssen, nämlich in der Weise, dass wir das Nein Israels noch positiver als Paulus fassen, in ihm nicht mehr in erster Linie Ungehorsam und Verstockung sehen, sondern die von Gott gewollte Berufung Israels in der Zeit. Wenn das Nein Israels zum Evangelium schon bei Paulus als ein zumindest zeitweise von Gott toleriertes Nein betrachtet wird, ist es dann verwegen anzunehmen, dass Gott dieses Nein vielleicht in einem noch tieferen Sinn gewollt hat? Vielleicht braucht ja diese Welt, und insbesondere das Christentum, den Stachel der jüdischen Kritik, um nicht zu schnell dort eine Erlösung zu propagieren, wo alles noch nach Erlösung schreit? Das Judentum als Verkörperung einer gottgewollten Ideologie- und Religionskritik gegenüber allem menschlichen Allmachtswahn! Könnte es nicht sogar sein, dass wir durch den Christus, der mit seinem Leben dafür einstand, dass nichts Menschliches in billiger und triumphalistischer Weise vergöttlicht und instrumentalisiert wird – weil der Mensch allein von Gottes Eingreifen die endgültige Erlösung erwarten soll – dazu getrieben werden, das jüdische Nein als Hinweis auf diesen Christus, und so als Christuszeugnis, zu ehren? Ganz in diesem Sinn haben Friedrich-Wilhelm Marquardt und andere sich dafür stark gemacht, das jüdische Nein zu bejahen. Marquardt formuliert als These: „Wir werden den christlichen Antijudaismus erst hinter uns haben, wenn es uns theologisch gelingt, mit dem jüdischen Nein zu Jesus Christus etwas Positives anzufangen.“133 Und er kommt schließlich zu der Überzeugung, dass Israel mit seinem Nein den eschatologischen Vorbehalt Gottes selbst repräsentiert. „Es widersteht dem christlichen Pathos der endgültigen Zeit, Wahrheit und Urteile. Es existiert als Ferment der Dekomposition falscher Vollkommenheiten. Es bezeugt mit seinem Bekenntnis zur Transzendenz Gottes trotz Christus nicht einen götzenhaft abstrakten „Gott über Gott“ und keinen „verborgenen Gott“, sondern den auch in der Sendung Jesu Christi nicht aufgehobenen endzeitlichen Vorbehalt in Gott selbst, den Paulus mit dem Gedanken der eschatologischen Unterwerfung Jesu Christi verkündigt hat, „damit Gott sei alles in allem“ (1. Kor 15,28).“134

Die Bejahung des jüdischen Nein darf nun paradoxerweise aber nicht zur Folge haben, dass wir die Heilsbedeutung Jesu auf die christliche Kirche beschränken. Christus ist nicht nur der Messias der Völker, sondern auch der „Messias“ Israels.135 Auch wenn eine Christologie, die Jesu Bedeutung auf die Völker reduziert, das Verhältnis zum Judentum enorm entkrampft und vor dem Hintergrund der christlich-jüdischen Geschichte durchaus sympathisch wirkt, kann sie schon deshalb nicht die Lösung sein, weil sie vom Zeugnis des Neuen Testaments nicht gedeckt wird. Selbst Paulus, der von der bleibenden Erwählung Israels ausgeht, schränkt die Heilsbedeutung Jesu nicht auf die nichtjüdische Welt ein. Die göttliche Verheißungstreue, die im Status des jüdischen „Unglaubens“ gültig bleibt, zielt auf die Offenbarung Jesu Christi unter seinem Volk. Durch ihn und durch niemand anderes wird auch Israel am Ende gerettet werden. Israel hat nach dem paulinischen Zeugnis einen ganz eigenen geschichtlichen Weg zu diesem Jesus Christus, einen Weg, der sich von dem der Völker in vielerlei Hinsicht unterscheidet, aber Ziel des Weges ist und bleibt dieser Jesus Christus. Deshalb dürfen Christen im christlich-jüdischen Dialog in einer Art christologischem Besitzverzicht das Christuszeugnis nicht einfach ausblenden, auch dann nicht, wenn dieser Punkt nach wie vor Anstoß erregt. Müsste der Dialog auf der Basis eines solchen Verzichts stattfinden, dann wäre er kein ehrlicher Dialog und würde den Namen nicht verdienen. Es gehört zur menschlichen Würde, um die Wahrheit zu streiten, genauso wie es zur Achtung vor der menschlichen Würde des anderen gehört, den Widerspruch auszuhalten und Gott das letzte Urteil über seinen und meinen Glauben anheim zu stellen. Nicht die spekulative Aufhebung aller Gegensätze auf einer quasi göttlichen Metaebene ist unsere Aufgabe, sondern die existentielle Bewährung im Hier und Jetzt. Das ist kein Plädoyer für Judenmission, zumal wir gar nicht wissen können, welche Beziehung dieser Christus schon jetzt zu seinem Volk Israel hat, aber es ist ein Plädoyer für einen Dialog, der umstrittene Glaubensgewissheiten nicht einfach unter den Teppich kehrt.

Norbert Lohfink geht in seinem Buch „Der niemals gekündigte Bund“ davon aus, dass der eigentliche Heilswille darin besteht, dass Juden und Christen als ein Gottesvolk das Heil Gottes in dieser Welt bezeugen. Aber aus unterschiedlichen Gründen, die sicher nicht nur mit dem Ungehorsam eines der beiden Partner zu tun haben, die wohl überhaupt nie ganz zu ergründen sind, sind nun einmal zwei „Religionen“ entstanden. Diese Situation ist nicht das Ideal, aber sie ist in ihrer Vorläufigkeit von Gott bejaht. „Nachdem alles so gelaufen ist, wie es lief, will Gott diese Situation auch. Sie ist die Form, in der jetzt sein ‚Heil‘ in dieser Welt anwesend ist. Aber er will diese Situation ‚dramatisch‘, auf Veränderung hin.“136 Lohfink redet sogar von zwei Heilswegen, weil der jüdische und der christliche Weg die beiden Wege sind, durch die Gott sein Heil in dieser Welt realisieren will. Erst am Ende freilich wird vollends offenbar werden, dass beide zusammen gehören, dass sie in einem Verhältnis der Komplementarität zueinander stehen. So verstanden ginge es nicht nur darum, dass Juden auf Christen eifersüchtig werden, sondern in gleicher Weise darum, dass Christen auf Juden eifersüchtig werden, dass sie verstehen lernen, was sie verwarfen, indem sie das Judentum verwarfen.137 Die Kirche ist eben nicht nur aus dem Judentum hervorgegangen. Sie lebt bleibend von dem Geheimnis Israels, oder sie lebt nicht.

(Hirschberg, P., Die bleibende Provokation. Christliche Theologie im Angesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 67-82)

 

117 Marquardt, Eschatologie Bd. 1/2.
118 Dazu Luz, Jesusgeschichte 42–45.60.73.80–83.167f.
119 Dazu Luz, Jesusgeschichte 163–170.
120 Dazu Schrage, Vorsehung 241–252.
121 Goppelt, Theologie 463.
122 Deshalb kann sich die Lehre von der doppelten Prädestination auch nicht auf Paulus berufen. Im Hinblick auf die letzte Vollendung erwählt Gott immer nur zur Seligkeit. Dazu siehe auch Schrage, Vorsehung 160, Anm. 586: „Die aufgrund von Röm 9,22f u.ä. Stellen z.T. vermutete praedestinatio ad gemina (…) ist jedenfalls vom Schluss des Abschnitts in 11,32 her in die Schwebe zu bringen; …“ Dort auch weitere Literatur. Siehe auch Haacker, Römer 197.
123 Eine gute Zusammenfassung des atl. und ntl. Bundesverständnisses findet sich in der EKD-Denkschrift „Christen und Juden III“ 21–42.
124 Dazu s. Klappert, B., Miterben der Verheißung 72–109, in: Marcus, Israel. Dort entwickelt Klappert seine systematische Grundüberzeugung in einer Auslegung von Eph 2,11–22.
125 Dazu s. Lohfink, Bund.
126 Dazu s. Zenger, E., Israel und die Kirche im einen Gottesbund? 236–254, in: Marcus, Israel. Zenger sieht im vierten Psalmenbuch (Ps 90–106) eine Theologie repräsentiert, bei der die Völker „die Königsherrschaft des Gottes Israels anerkennen und ihr Leben in der Gnade des neuen Bundes leben wollen“. (254) Er zieht daraus Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Israel und Kirche, indem er in Anlehnung an das 4. Psalmenbuch den „neuen Bund zur Vergebung der Sünden“ mit dem am Sinai geschlossenen Bund identifiziert (253), so dass man im Prinzip von einem Gottesvolk sprechen könnte, relativiert den Gedanken aber gleich wieder, da dort nirgends die Völker zu Israeliten werden. „Wohl lassen sie sich leiten vom „Bund“ und von den „Geboten“ des Bundesgottes, ohne dass dies näher konkretisiert würde.“ (254) Also weder ein Gottesvolk noch ein gespaltenes Gottesvolk, aber immerhin: ein gemeinsamer Bund: „Wenn Israel sich diese Mitte des Bundes durch die Tora und durch die sich um die Tora als ‚Zäune‘ herumlegenden ‚Propheten‘ und ‚Schriften‘ von der rabbinischen Tradition auslegen läßt, und wenn sich die Christen diese Bundesmitte von Jesus Christus auslegen lassen, werden beide – auf je verschiedene Weise – Zeugen und Eiferer jenes Gottesbundes, der ihnen geschenkt ist – damit SEIN Reich komme.“ (254) Auch die Bundesterminologie löst m. E. die Probleme allerdings nicht. Dazu s. 77f.
127 So Barth, K., KD IV § 57,1 (1953).
128 Kraus, Perspektiven 164: „Nach Meinung der meisten heutigen Ausleger ist bei ‚Wurzel‘ an Abraham zu denken. An ihm und an der ihm zuteil gewordenen Verheißung bekommen die Heiden (-christen) Anteil. Daraus folgt, daß die Christusgläubigen nicht in den Bund Gottes mit Israel, sondern in den Abrahambund aufgenommen werden.“ Dazu s. auch Kraus, Volk Gottes 316.
129 EKD-Denkschrift, Christen und Juden III 31.
130 Dazu sachgemäß EKD-Denkschrift, Christen und Juden III 46: „Der Begriff ‚neuer Bund‘ ist damit vom Ursprung her für den christlichen Glauben keine ekklesiologische, sondern eine christologische Kategorie. Es geht weder um einen ‚neuen Bund‘, der den ‚alten‘ ersetzt, noch um eine einfache Hineinnahme der Kirche in den Bund Gottes mit Israel, und erst recht nicht um einen eigenen neuen Bund, der von dem von Jer 31 zu trennen wäre und für den Israel keine Rolle spielt. Vielmehr geht es um eine in Jesus und seinem Tod vollzogene eschatologische Vorausnahme des Zielpunktes von Gottes Bund mit Israel.“
131 So auch Oesterreicher, Bogen 13–69. Die Einheit wird bei ihm unter dem Bundesbegriff subsumiert, die Zweiheit versteht er in Form zwei zu unterscheidender heilsgeschichtlicher Gnadenordnungen.
132 Wohlmuth, Geheimnis.
133 Marquardt, F.-W., „Feinde um unseretwillen“. Das jüdische Nein und die christliche Theologie 174, in: Treue zur Thora. Beiträge zur Mitte des christlich-jüdischen Gesprächs, Festschrift für Günther Harder, Berlin 31986, 174–193.
134 Marquardt, Feinde 192.
135 Dazu s. auch 126f.
136 Lohfink, Bund 108.
137 Weitere katholische Israeltheologen, die die bleibend wichtige Zeugnisgestalt des jüdischen Volkes betonen: Maritain, mystère; Oesterreicher, J.M., Pour L’Amour de Sion je ne peux garder le silence, in: Nouvelles Chrétiennes d’Israel, Bd. 26 3–4, 119f, Jerusalem 1978; Hruby, K., Israel, Volk Gottes – Besitzt die Kirche eine Israeltheologie?, in: Christlich-jüdisches Forum, April 1970, Nr. 42, 21–39; Mussner, Traktat.

(aus: Peter Hirschberg, Die bleibende Provokation. Christliche Theologie im Angesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 2008)
Wird in den nächsten Blickpunkten fortgesetzt

 

zur Titelseite

zum Seitenanfang

Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email