Israel und die Völker
Die universale Bedeutung des partikular Besonderen
von Klaus Wengst

Im ersten Teil der hier vorgelegten Arbeit wurde herausgestellt, dass die lutherische Sicht auf Paulus eine Projektion ist. Luther gewann nicht zuletzt mit Hilfe von Paulustexten die befreiende Erkenntnis, dass Gott aufgrund seiner in Jesus Christus erwiesenen Gnade durch Glauben rechtfertigt und nicht aufgrund gesetzlich geforderter Leistungen. Er gewann sie im Kontext seines eigenen angestrengten mönchischen Lebens und geriet so in Gegensatz zu seiner spätmittelalterlichen katholischen Kirche. Diesen Gegensatz projizierte er auf Paulus, den er gegen das Judentum kämpfen sah wie sich selbst gegen die katholische Kirche. Das kommt am prägnantesten zum Ausdruck, wenn er in der Apostelgeschichte tröstliche Zeugnisse findet „gegen die Papisten, unsere Juden“ . Diese Interpretation des Paulus ist also verbunden mit einer Zeichnung des Judentums, die als negative Folie dienen muss. Ich sehe nicht, dass eine in lutherischen Bahnen erfolgende Interpretation, die also den theologischen Ansatzpunkt bei Paulus in den Entgegenstellungen von Glaube gegen „Werke des Gesetzes“ und von Gnade gegen Leistung sieht, sich davon wirklich frei zu machen vermag.

Demgegenüber wurde im zweiten Teil dieser Arbeit nach einem anderen Ansatzpunkt gesucht, wie die Wende im Leben des Paulus verstanden werden kann. Seine Selbstbezeichnung als „Eiferer“ für die Zeit vor Damaskus ließ genauer nach der mit diesem Begriff verbundenen Tradition fragen. Sie gab Aufschluss darüber, wen Paulus aus welchem Grund verfolgte, nämlich jüdische Landsleute, die er aufgrund ihres bestimmte Toravorschriften verletzenden Zusammenlebens mit Nichtjuden im Abfall von Israels Gott begriffen sah. Die bei Damaskus gemachte Erfahrung zwang ihn, den von ihm Verfolgten Recht zu geben; das ließ ihn nun genau das propagieren, was er bis dahin bekämpft hatte. So wird erklärlich, dass er diese Erfahrung sogleich als Berufung zum Apostel der Völker verstand. Ihm ist also mit seiner Berufung als zentrales Thema das Verhältnis von Israel und den Völkern vorgegeben. Dieses Thema konkretisierte sich wesentlich auch in dem Problem, wie das Zusammenleben in aus Juden und Nichtjuden zusammengesetzten Gemeinden zu organisieren sei, ob jüdisch oder nichtjüdisch. Dem wurde im dritten Teil nachgegangen.

Unter der Voraussetzung, dass das Verhältnis von Israel und den Völkern das zentrale Thema des Paulus bildet, wurde im vierten Teil ein ausführlicher Gang durch den Römerbrief unternommen. Dieser Brief ließ sich von daher als Einheit verstehen, dass Paulus einerseits den Unterschied zwischen Israel und den Völkern aufhob, weil alle unter der Sünde sind und weil Gott sich aller erbarmt, und dass er andererseits dennoch an der bleibenden Besonderheit Israels festhält. Dabei konnten die Aussagen über die Rechtfertigung zum Zuge kommen, ohne dass auf Kosten des Judentums geredet werden musste.

Bei all dem war es eine wesentliche Intention dieser Arbeit, deutlich zu machen, dass Paulus seinem eigenen Selbstverständnis nach Jude war; und so sollte er auch als Jude wahrgenommen werden. Die Rede von Paulus als dem „ersten christlichen Theologen“ und die Unterscheidung zwischen einem „vorchristlichen Saulus“ und einem „christlichen Paulus“ haben eine lange Tradition und üben eine starke Suggestion aus. Sie sind aber nichtsdestotrotz ein fataler Anachronismus – deshalb fatal, weil er immer wieder Anlass für antijüdische Profilierungen bot. Die Intention, Paulus als Juden zu verstehen, wurde schon durch die vorangestellten Motti angezeigt, bei denen es sich um Aussagen von Juden handelt. Das erste Motto allerdings klingt, isoliert zitiert, grundsätzlicher, als die Aussage von Joseph Klausner gemeint war. Im Ganzen lautet der Satz bei ihm: „Was den Glauben an einen einig-einzigen Gott betrifft, ist Paulus immer noch ein Jude und kein Christ: der Glaube an die Dreieinigkeit besteht für ihn noch nicht“ . Aber der von Klausner dem Paulus attestierte „echte Monotheismus“ gilt ihm gleichwohl als „nicht ganz rein“ . Er teilt die Sicht, nach der Paulus „der wahre Stifter des Christentums als einer neuen Religion und als Kirche sei“ , „der aus einer kleinen jüdisch-religiösen Sekte eine antijüdische, richtiger gesagt: halb jüdische und halb heidnische Religion schuf“ . Schließlich konstatiert er hinsichtlich der von Paulus entwickelten Lehre: „ein vollständiger Gegensatz zum Judentum“ . Nachdem man gerade angefangen hatte, Jesus als Juden zu erkennen, bedurfte es noch einiger Zeit, dass dasselbe auch im Blick auf Paulus geschah. So entstammt das zweite Motto erst dem Spätwerk von Leo Baeck ; und der Zeitgenosse Daniel Boyarin, dessen Paulusbuch das dritte Motto entnommen wurde , setzt bereits die „neue Perspektive auf Paulus“ voraus.

Paulus, der Jude, wurde – als Jude! – zum Apostel für die Völker. Dass sein zentrales Thema das Verhältnis von Israel und den Völkern ist, darf nicht unter das Oberthema „Partikularismus und Universalismus“ gestellt werden. Weder bietet Paulus „die Begründung des Universalismus“ noch bedeutete seine Mission eine Universalisierung Israels und der besonderen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel. Die Besonderheit Israels in seiner Beziehung zu Gott gilt Paulus nicht als in einem allgemeinen Universalismus aufgehoben. Vielmehr ist Gott „im Gesalbten Jesus“ auch Gott für die Völker gerade als Israels Gott und in seiner bleibenden Bezogenheit auf Israel.

Ich denke nicht, dass Boyarin Recht hat, wenn er Paulus „bewegt“ sieht „von einer hellenistischen Sehnsucht nach dem Einen, die unter anderem das Ideal eines universellen menschlichen Wesens hervorrief, jenseits von Unterscheidung und Hierarchie“ . Sicherlich war sich Paulus bewusst, im Anbruch der Endzeit zu leben, was sich darin manifestiert, dass es „im Gesalbten Jesus“ „weder jüdisch noch griechisch, weder versklavt noch frei, weder männlich noch weiblich gibt“ (Gal 3,28). Allerdings verhält es sich hier keineswegs so, dass die Aufhebung des Partikularen die Bedingung des Universalen wäre. „Ethnische Zugehörigkeit, sozialer Status und Geschlecht fungieren auch weiterhin als identitätsstiftende Faktoren, solange sie die Einheit der Gemeinde nicht bedrohen“ . Die Unterschiede spielen in der Weise keine Rolle, dass sie noch länger Begegnung von gleich zu gleich verhindern könnten; sie werden gleich-gültig, um echte Konvivenz zu ermöglichen, sind aber keineswegs gleichgültig. Paulus intendiert nicht eine differenzlose Universalität, sondern kritisiert die Selbstgenügsamkeit der je eigenen Identität. Identität wird erst gewonnen im Eingeständnis der eigenen Begrenztheit und in der Anerkenntnis durch die anderen . Die von Paulus für die Gemeinde erstrebte Einheit ist daher „eine differenzierte Einheit .

Die ihm unterstellte „Sehnsucht nach dem Einen“ und also die intendierte Universalität, von Boyarin selbst kritisch gesehen, erscheint bei Badiou in hellem Licht. Es ist allerdings bezeichnend, dass sich diese Universalität bei ihm gegen das jüdisch Besondere richtet. Er fragt nach den „Bedingungen einer universalen Singularität und meint: „Was gleichzeitig geleistet werden muss, ist eine radikale Kritik des obsolet und schädlich gewordenen jüdischen Gesetzes“ . Paulus dagegen beharrt im Festhalten an der Besonderheit Israels auf der Heiligkeit der Tora. Dass Paulus nach Gal 1,17 „nicht nach Jerusalem“ geht, deutet Badiou so: „Die exzentrische Dimension von Paulus’ Handeln ist der praktische Unterbau eines Denkens, das die wahre Universalität als zentrumslos behauptet“ . „Für ihn ist die Struktur des sich vom Orient bis nach Spanien erstreckenden römischen Reichs, das zugleich die Welt bedeutet, zweifellos wichtiger als die Vorrangstellung Jerusalems“ . Wie die Kollekte zeigt, bleibt Paulus jedoch auf Jerusalem bezogen, nicht als Metropole, sondern als Repräsentanz der partikularen jüdischen Besonderheit. Für Badiou steht die von Paulus erstrebte „neue Universalität … mit der jüdischen Gemeinschaft in keiner privilegierten Beziehung“ . Nach Röm 3,1–3; 9,4f.; 11,28b.29; 15,8 ist das partikulare Israel, wie es außerhalb des Bereichs „im Gesalbten“ weiter existiert, von Gott gewollt und geliebt. Das ist der stärkste Widerhaken gegen jeden Versuch einer Universalisierung Israels. Für eine Reihe evangelischer Landeskirchen in Deutschland hatte das die Konsequenz, dass sie Aussagen über die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel in ihre Grundordnungen eingeschrieben haben. Das aber bedeutet nicht weniger, als dass die Bezogenheit auf das außerhalb der Kirche lebende Judentum konstitutiv zur christlichen Identität gehört. Rainer Kampling hat im Blick auf „die nachkonziliare Israeltheologie der katholischen Kirche“ von der „Bindung der Kirche an Israel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ als „einem signum ecclesiae“ gesprochen . Diesem signum habe ich mit meiner Deutung wesentlicher Aspekte der Geschichte des Paulus und mit meiner Auslegung seines Römerbriefes zu entsprechen gesucht.

"Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!" Israel und die Völker als Thema des Paulus - ein Gang durch den Römerbrief, Kohlhammer Verlag Stuttgart 2008 ISBN 978-3-17-019704-6.

 

WA 40 I, S. 336 Z. 13; Walch IX, Sp. 277 Nr. 75.

Klausner, Paulus, S. 435.

A.a.O., S. 435f.; und so meint er selbst in dieser Hinsicht: „Ein Tropfen Wein vermag einem Eimer Wasser keinen Weingeschmack zu geben“ (S. 494).

A.a.O., S. 289; vgl. weiter S. 536.543.

A.a.O. S. 393; vgl. S. 422f.; Paulus sei es gewesen, der „die jüdische Lehre Jesu in eine unjüdische und antijüdische verwandelte“ (S. 413).

A.a.O., S. 414.

Baeck, Paulus, S. 427; zur Entwicklung der Sicht Baecks auf Paulus vgl. die Angaben der Herausgeber auf S. 420–425.

Boyarin, Jew, S. 2.

So der Untertitel des Paulusbuches von Badiou.

Boyarin, Jew, S. 7.

Maschmeier, Paulus, S. 202.

Vgl. Stendahl, der unter Bezug auf David Hartmann formuliert: „Heil bedeutet die Anerkennung von Grenzen. … Fülle kann nur erreicht werden, wenn man klein genug wird, den anderen, der uns erfüllt, zu erkennen“ (Vermächtnis, S. 84).

Maschmeier, Paulus, S. 202f.

Badiou, Paulus, S. 27.

A.a.O., S. 30. In der Fortsetzung heißt es dann auch: „und eine Kritik des griechischen Gesetzes …“ Die Unterschiede in der Formulierung sind sprechend.

A.a.O., S. 38f.

A.a.O., S. 66f.

A.a.O., S. 45.

Kampling, Gott, S. 47. Vgl. auch Eichholz, Paulus, S. 291: „Die Kirche muß wissen, was es um Israel ist, weil sie sonst nicht mehr weiß, was es um sie selbst ist“ und seine weiteren Ausführungen auf S. 292. Vgl. andererseits Becker, nach dem schon die Gemeinde in Antiochia vor Paulus „Christentum als ein der Qualität nach Neues, allein aus sich selbst heraus zu definierendes Phänomen begriff“ (Paulus, S. 107).

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