Erster Brief

Ein Großvater bittet seinen Enkelsohn um Hilfe

Stuttgart, am 25. November 2003

Lieber David,

vor einiger Zeit erzählte ich Dir, dass ich mich schon seit Jahren mit der Geschichte der deutschen Juden beschäftige. Ziemlich erstaunt hast Du mich da angeschaut. Offenbar warst Du der Meinung, es gebe doch andere, viel interessantere und aktuellere Themen, die zu studieren sich für einen Großvater lohnen könnten. Das will ich nicht bestreiten. Aber weil ich nun einmal an jenem Dir sicher seltsam erscheinenden Thema hängen geblieben bin, würde ich Dir gerne in einigen Briefen von meinen Altersstudien berichten. Natürlich habe ich dabei die Hoffnung, dass diese Briefe auch Dein Interesse für mein Thema wecken könnten.

Nun wirst Du fragen: Warum denn gerade „Briefe an David“?

Mir ist ein anderer, ein jüdischer David begegnet, mit dem ich Dich bekannt machen will. Sein Bild hast Du vielleicht neulich im Berliner Jüdischen Museum gesehen:

Er lebte an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Berlin und war bei Juden und Christen als fortschrittlicher Mann bekannt. Sein Lehrer und Vorbild war der ob seiner Weisheit berühmte Moses Mendelssohn gewesen. Und David Friedländer wollte nach dem Tod seines Meisters dessen Reform-Werk fortsetzen und vollenden.

An einem „Offenen Brief“, den dieser David vor 205 Jahren geschrieben und durch den er damals bei Juden und Christen einige Aufregung verursacht hat, will ich aufhängen, was ich Dir erzählen möchte. So, wie man ein großes Bild an einem Nagel aufhängen kann. Denn eigentlich reicht mein Thema recht weit über jene vorvorletzte Jahrhundertwende hinaus. Es geht zurück bis ins Altertum und wirkt bis in unsere Gegenwart hinein.

Was ich über diesen anderen David und über die lange Geschichte, in welcher er eine gewisse Schlüsselrolle spielte, gelesen und bedacht habe, das will ich also in diese „Briefe an David“ fassen. Ich hatte mir als Leser und Zuhörer jemanden gewünscht, den ich kenne und mag – und der dann vielleicht auch einmal auf diese Briefe reagieren, mir durch Rückfragen zu weiterer Klärung verhelfen könnte. So frage ich Dich, lieber Enkelsohn: willst Du Dich darauf einlassen? Könntest Du diese Briefe freundlich in Empfang nehmen, sie durchlesen und aufbewahren? Letzteres für den Fall, dass entweder Du selbst oder ein anderer Leser von meinem Interesse für das Schicksal der Deutschen Juden angesteckt wird.

Warum ausgerechnet Du mir als Empfänger eingefallen bist? Erstens deshalb, weil Du ja unter unseren Enkeln immer schon der eifrigste Leser gewesen bist. Ein zweiter Grund: Als Du im April 1987 geboren wurdest, habe ich dieses freudige Ereignis einer jüdischen Freundin, die in Israel lebt, mitgeteilt. Und sie schrieb mir offensichtlich erschrocken zurück:

                »Lieber Frieder, wie könnt Ihr denn nur so unvorsichtig sein,
                Euren Enkelkindern jüdische Namen zu geben!«

Verstehst Du, warum sich meine Freundin Trude K. um Deinen Vornamen sorgte? Sie befürchtete, dass ein „jüdischer“ Name einem Christen im heutigen Deutschland nachteilig werden könnte. Solche Befürchtungen wollte jener Berliner David schon vor 200 Jahren im Voraus und für alle Zukunft unmöglich machen. Dass und warum ihm dies nicht gelungen ist – auch davon wird zu berichten sein.

Weil ich auch diesen anderen David inzwischen ins Herz geschlossen habe, kommt jetzt mein „Erster Brief an David“ zu Dir. Ich hoffe, dass er Dich ein wenig neugierig macht, und schicke Dir einen herzlichen Gruß!

Dein Großvater

(aus Friedrich Gölz, Briefe an David, Klingenstein Verlag Stuttgart, 2008, ISBN 978-3-937813-05-9, 19,80 Euro, www.klingenstein-verlag.de)

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