Zweiter Brief
Warum Trude K. sich über den Namen David aufregte

Stuttgart, am 4.12.2003

Lieber David,

Du fragtest, warum sich eigentlich meine israelische Freundin darüber aufgeregt hat, dass meine Enkel „jüdische Namen“ erhielten. Das liegt bestimmt nicht daran, dass die Juden ihre Namen für sich allein behalten möchten. Sie wissen, dass wir Christen die jüdische Bibel, das so genannte „Alte Testament“ mit ihnen gemeinsam haben. Richtiger ausgedrückt: Wir Nichtjuden haben die Bibel, ein durch und durch jüdisches Buch, von ihnen empfangen. Auch das „Neue Testament“, welches in all seinen Teilen von Juden geschrieben wurde. Aber Trude K., sie ist etwas älter als ich, entkam damals, als sie etwa so alt war wie Du jetzt bist, nur mit knapper Not aus Deutschland. Ihre Angehörigen wurden alle ermordet. Falls Du den Roman „Exodus“ oder den Film dazu kennst, kannst Du Dir vorstellen, was Trude in ihrer Jugend erlebt und erlitten hat.

Sie war als Tochter einer frommen jüdischen Familie in Meiningen (Thüringen) aufgewachsen. Als Kind und als junges Mädchen hatte sie sich ganz als Deutsche gefühlt. Sie war eine sehr gute Schülerin und wollte gerne Lehrerin werden.

Aber dann kam während ihrer Schulzeit dieser Sturm auf, der alle in Deutschland lebenden Juden zu verhassten Fremden machte. Diese Klimavergiftung ist ja nicht im Jahr 1933 mit Hitler aus heiterem Himmel wie ein plötzliches Gewitter über Deutschland hereingebrochen. Sie war das schreckliche Ergebnis einer langen gesellschaftlichen Entwicklung in unserem Vaterland.

Was in der Nacht vom 9. auf 10. November 1938, der so genannten „Kristallnacht“, in Deutschland geschehen ist, das weißt Du. Trude lebte damals als junge Lehrerin in Duisburg. Nur in einer jüdischen Schule durfte sie noch unterrichten. In jener Nacht aber wurde mit der benachbarten Synagoge auch diese Schule niedergebrannt. Noch im November konnten Lehrer einen Teil der Schüler über die Grenze nach Holland bringen. Von dort aus haben holländische Helfer diese Kinder, deren Eltern vielfach schon im Konzentrationslager waren, nach England in Sicherheit gebracht. Trude kam mit anderen Schülern zu einer Sammelstelle nach Hamburg, wo sie 14 bis 17-jährige Kinder auf die erhoffte Auswanderung nach Palästina vorbereiten half. Diese jüdischen Kinder mussten dann kurz vor Kriegsausbruch dem Nazistaat regelrecht abgekauft werden.

Auf einem alten, mit etwa 1000 Kindern und Jugendlichen total überfüllten Schiff konnte Trude noch im Jahr 1940 als Betreuerin von Wien aus die Donau hinunter und an der Türkei vorbei Richtung Palästina fahren. Schon diese lange Reise in Angst und drangvoller Enge war, so erzählt sie, einfach grauenhaft. Als sie schließlich vor der Küste Palästinas ankamen, wollte die zuständige englische Mandats-Regierung aus Sorge vor Unruhen keine Juden mehr in das Land hereinlassen. Das Schiff hieß ironischerweise Patria, auf deutsch also „Vaterland“. Alle auf der Patria zusammengepferchten Jungen und Mädchen waren aus dem Land entkommen, das sie doch immer für ihr Vaterland gehalten hatten. Dort waren sie verfolgt und tödlich bedroht gewesen. Und jetzt wurde ihnen auch der Zugang zum Vaterland ihrer Vorfahren verweigert. Tagelang lag die Patria mit all den jungen aus Deutschland entronnenen Juden in der großen Bucht vor der Stadt Haifa. Es hieß, die jüdischen Flüchtlinge müssten nach Deutschland zurück, vielleicht würden sie auch vorläufig nach Madagaskar abgeschoben. Panik brach aus und die Schiffsleute beschlossen, das Schiff im Hafenbecken zu versenken, um eine Weiter- oder gar Rückfahrt unmöglich zu machen. 260 Jugendliche sind nach der Explosion, für die man die falsche Sprengstoffmenge eingesetzt hatte, ertrunken. Die anderen, darunter auch Trude, konnten sich schwimmend an Land retten.

Nach Jahren großer Unsicherheit und Angst begann sich Trude, so sagt sie, in Palästina ein bisschen sicher zu fühlen. Aber nicht für lange. Denn die jüdischen Einwanderer, deren Zahl zunahm, waren dort nicht willkommen. Von Sicherheit konnte keine Rede sein. Eigentlich bis heute nicht ...

Aber nach dem Krieg und nach der Gründung des Judenstaates (1948) ist Trude mit ihrem Mann gelegentlich wieder nach Deutschland gekommen. Herbert K. hatte ein ähnliches Schicksal erlitten wie sie; auch seine Angehörigen waren im KZ ermordet worden. Dass Familie K. inzwischen wieder deutsche Freunde hat, das ist alles andere als selbstverständlich. Denn Du kannst Dir denken, dass in solchen Juden nach den Jahren der Angst und der Flucht und durch die Erinnerung an ihre ermordeten Angehörigen ein tiefer Widerwille. gegen die Deutschen und gegen alles Deutsche steckte. Und in Trude wohnt immer noch eine Art Misstrauen, vielmehr ein Grundgefühl für die Verschiedenheit zwischen Juden und Christen, für die uralte Feindschaft, welche, so fürchtet sie, in Deutschland immer einmal wieder mobilisiert werden könnte. Außerdem begleitet sie die Trauer durchs Leben, weil ihre Eltern nicht gleich nach Hitlers Machtergreifung aus Deutschland geflohen sind. Während der ersten Jahre des „Dritten Reiches“ wäre das unter Zurücklassung ihrer Habe noch möglich gewesen. Aber als angesehene jüdische Bürger waren sie, trotz Hitlers „Machtergreifung“, ganz sicher gewesen, dass sie schlimmstenfalls ein bisschen vorübergehenden antisemitischen Nazi-Krawall zu befürchten hätten. Aber nichts Lebensbedrohendes. So gründlich haben sie, haben viele Juden das bejubelte „neue Deutschland“, also auch den dann bald zur Hochglut geschürten Juden-Hass unterschätzt!

Aus diesen Erfahrungen stammt also Trudes Verdacht, dass es doch niemals gut sein könnte, wenn man in Deutschland einen jüdischen Namen trägt. Und als ich ihr begeistert berichtete, mein neugeborener Enkelsohn heiße David, ist dieser Affekt („Wie könnt Ihr ihm nur einen jüdischen Namen geben!“) wieder hoch gekommen. Als Deine Schwester Mirjam geboren wurde, hat sie, darüber bin ich froh, nichts dergleichen gesagt.

Nebenbei können Dir solche Lebensgeschichten wie die von Trude erklären, warum viele Israelis dieser älteren Generation ziemlich stur sind und im Umgang manchmal etwas schwierig. Hier in Deutschland wird ja heutzutage die Politik des Staates Israel vielfach schnell und harsch verurteilt. Viele schimpfen gerne auf „diese unmöglichen Israelis“, die auf arabische Feindseligkeiten zuweilen recht scharf reagieren. Wer aber ein wenig begreifen kann, mit welchen Enttäuschungen und Verletzungen, mit welch schlimmen Erinnerungen viele Juden dort leben müssen, der wird in seinem Urteil über den politischen Kurs Israels vorsichtiger sein.

Was das alles nun mit jenem anderen David zu tun hat, der Friedländer hieß? Von ihm und von seinem geschichtlichen Umfeld möchte ich Dir ja in den folgenden Briefen erzählen. Schon zu seiner Zeit hat sich nämlich die Entwicklung vorbereitet, welche dann während meiner Jugendzeit ihren trostlosen Tiefpunkt erreichte und für ungezählte Juden in der Katastrophe endete.

Wer das sehen und verstehen will, warum sich im 19. Jahrhundert das böse Gift des Antisemitismus so ausgebreitet und in die Herzen der meisten Deutschen hineingefressen hat, der muss allerdings weit über David Friedländers Lebenszeit hinausgreifen. Nach vorn und nach hinten. Wir könnten uns zum Beispiel im Vorbeigehen noch an zwei weitere Davids erinnern: Beide haben im Abstand von fast dreitausend Jahren einen jüdischen Staat gegründet. Und weil jetzt dann bald die Weihnachtszeit ist, in der all die schönen Lieder gesungen werden, erinnere ich Dich auch daran, dass man den Juden, dessen Geburt die Christen am Christtag feiern, oft den „Sohn Davids“ genannt hat.

Du siehst: das Terrain, auf dem ich mich gerne in Deiner Begleitung hin und her bewegen möchte, ist ziemlich weiträumig. Man braucht für so weite Wege Geduld und eine gute Puste. Die wünsche ich Dir und mir.

Herzlich grüßt Dich Dein Großvater

(aus Friedrich Gölz, Briefe an David, Klingenstein Verlag Stuttgart, 2008, ISBN 978-3-937813-05-9, 19,80 Euro, www.klingenstein-verlag.de

 

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