Die Wahrheit der Anderen
Zeitzeugen und Historiker kritisieren das Denkmal für Kindertransporte
von Christine Schmitt

Das Fundament ist gegossen. Anfang der Woche war es noch von einem blauen Plastikzelt geschützt und mit einem Bauzaun gesichert. Am kommenden Sonntag soll das Denkmal zur Erinnerung an die Transporte jüdischer Kinder aus Nazideutschland nach England eingeweiht werden, denn dann jährt sich der erste Transport zum 70. Mal. Doch bevor das Denkmal in der Georgenstraße, unmittelbar am Bahnhof Friedrichstraße, aufgestellt wird, gab und gibt es Kritik. Jetzt haben sich noch einmal Zeitzeugen zu Wort gemeldet, die der Meinung sind, dass das Denkmal Fakten falsch darstelle.

Zuvor, im Frühjahr, hatte die Berliner Senatskulturverwaltung die Aufstellung der Skulptur abgelehnt, da das Büro für Kunst im öffentlichen Raum, das die Senatsverwaltung berät, die Kindergruppe als „Motiv einer unbefangenen Klassenfahrt“ kritisierte. Die Darstellung sei kitschig und entspreche nicht der zeitgenössischen Kunst. Doch nach mehrfacher Ablehnung des Projekts fasste das Bezirksamt Mitte einen Beschluss zur Annahme der Schenkung dieser nun überarbeiteten Skulptur des Architekten und Künstlers Frank Meisler aus Israel. Die Berliner Initiative „Kinderskulptur“ unterstützt und begleitet den 82-Jährigen, der selbst Überlebender eines Kindertransportes ist und auch das Pendant entworfen hat, das seit dem Jahr 2003 am Bahnhof Liverpool Street in London steht. Die Skulptur, die nun in Berlin eingeweiht werden soll, besteht aus zwei Kindergruppen, die in entgegengesetzte Richtungen gehen. Am Schienenstrang wird zu lesen sein: „Züge ins Leben – und Züge in den Tod“.

Die jüngste Kritik kommt von Zeitzeugen, die ebenfalls Überlebende der Kindertransporte sind und erst vor wenigen Wochen von dem Denkmal erfahren haben. „Die Skulptur schafft Fakten, die uns irritieren“, sagen Alfred Fleischhacker und Inge Lammel. Und auch weitere zehn Überlebenden, die nach ihrer Rückkehr aus England sich in Berlin niedergelassen haben, hätten sich der Kritik angeschlossen. So seien die Transporte nicht am Bahnhof Friedrichstraße gestartet, sondern von den damaligen Anhalter und Lehrter Fernbahnhöfen. Weiter sagen Fleischhacker und Lammel, dass auf die erwachsene Person in der Skulptur verzichtet werden könnte und müsste, denn die britische Regierung hätte kurz nach den Novemberpogromen 1938 beschlossen, ausschließlich Kinder ohne erwachsene Begleitpersonen aufzunehmen. Und: Der Judenstern, den diese Person trägt, wurde von den Nazibehörden erst zum 15. September 1941 eingeführt. „Es ist unserer Meinung nach unverzichtbar, die notwendige historische Authentizität zu wahren“, sagt Fleischhacker.

Der Direktor des Centrum Judaicum, Hermann Simon, bezeichnete die Angelegenheit als „haarsträubend“. Er verstehe nicht, „wie man ein solches Denkmal am falschen Ort und unter Umgehung aller demokratischen Gremien aufstellen kann“. Rabbiner Andreas Nachama von der Stiftung Topographie des Terrors bedauert ebenfalls, „dass das hohe Niveau der im Stadtraum aufgestellten Skulpturen und Infotafeln hier nicht gehalten wird“.

Denkmäler würden immer kritisiert werden, meint Dirk Stegemann, Mitarbeiter der Berliner Initiative Kinderskulptur. „Kritik ist immer legitim“, sagt er. Die Initiative setzt sich schon seit Jahren für den Aufbau der Skulptur ein, allen voran die ehemalige Lehrerin Lisa Schäfer, die mit als Hauptinitiatorin dieses Projektes gilt. Stegemann findet, dass es eine legitime Art und Weise sei, dem Bezirksamt Mitte ein Denkmal zu schenken. Zur fachlichen Kritik meint er, dass der Künstler selbst vom Bahnhof Friedrichstraße abgefahren wäre und mit ihm noch weitere Kinder. „Von hier aus sind Kinder gerettet worden.“ Es sei ein authentischer Ort. Den Stern habe es 1938 noch nicht gegeben, weiß auch er. Nur die fünf Kinder, die deportiert werden, sollen auch mit einem anderen – nämlich einem viel späteren – Zeitpunkt verbunden werden, was durch die Koffer zwischen den Kindern demonstriert werde. Deshalb sei dann auch der Stern historisch korrekt.

„Dennoch gehen wir der Kritik weiterhin nach und werden sie mit einbauen“, sagt Stegemann. Zwei Tafeln, an der Skulptur oder an der Bahnhofswand angebracht, sollen mit Zusatzinformationen aufklären und Ungenauigkeiten richtigstellen. Der Text wird im Januar festgelegt. Alfred Fleischhacker hält es beispielsweise für nötig, darauf hinzuweisen, dass fast alle Kinder vom Anhalter Bahnhof die Reise angetreten hatten. Zur Eröffnung hängen diese Tafeln noch nicht. Im Frühjahr sollen sie die Skulptur ergänzen.

Kindertransporte In den Jahren 1938 und 1939 gelangten im Rahmen der Kindertransporte etwa 10.000 jüdische Kinder nach Großbritannien. Dort wurden sie in in Pflegefamilien, Heimen und Internaten untergebracht. Vor allem Kinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei wurden so vor der Verfolgung gerettet. Infos zur Gedenkskulptur: www.kindertransporte.de

Jüdische Allgemeine, 27.11.2008

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