Jesus – Messias für Juden und Christen?
Die messianische Frage als Stolperstein zwischen Juden und Christen
Ein fiktives Symposion
von Peter Hirschberg

Die jüdische Ablehnung des christlichen Messiasglaubens kann man nur begreifen, wenn man das jüdische Messiasverständnis gut kennt. Doch so wenig wie es das Judentum gibt, so wenig gibt es die jüdische Messiasvorstellung. Unterschiedliche Zeiten haben unterschiedliche Vorstellungen hervorgebracht, und es hat auch zeitgleich immer zahlreiche divergierende Konzeptionen gegeben. Dennoch meine ich, dass sich im Bereich des nachbiblischen Judentums gewisse Grundzüge herausarbeiten lassen, die für das jüdische Messiasverständnis charakteristisch sind. Dies möchte ich in Form eines fiktiven Symposions entfalten. Stellen wir uns ein Podium vor, das mit Juden verschiedenster Prägungen besetzt ist, die, von einem christlichen Theologen befragt, darüber Auskunft geben sollen, worum es im jüdischen Messiasglauben geht. An dem Podium nehmen teil: Professor Jonathan Nürnberger, der an einer jüdischen Hochschule Bibel unterrichtet; Professor Jonathan Lieberman, ein jüdischer Philosoph orthodoxer Prägung, dem Rationalismus zugeneigt; Rabbi Shimon Naftali, orthodoxer Gemeinderabbiner mit mystischen Ambitionen; schließlich noch Rachel Goldsmith, Reformrabbinerin. Gesprächsleiter ist Rev. Dr. Smith, der sich seit Jahren für den christlich-jüdischen Dialog interessiert.148

Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass wir uns heute Abend mit kompetenten Fachleuten über den Messiasglauben des nachbiblischen Judentums verständigen dürfen. Als Christen wollen wir dabei vor allem verstehen, warum der christliche Messiasglaube für die meisten Juden so anstößig ist. Mein besonderer Dank gilt unseren hochkarätigen Referenten, die sich trotz eines vollen Terminkalenders für diesen Abend frei machen konnten. Doch ich will mich nicht in langen Vorreden ergehen, dafür ist das Thema viel zu spannend. Ich beginne mit einer ersten Frage, die ich gerne an unseren Bibelfachmann, Herrn Prof. Nürnberger, richten möchte. Herr Nürnberger, wie würden Sie den jüdischen Messiasglauben in allgemein verständlichen Sätzen beschreiben?

Nun, da ich hier Gast bei einer christlichen Versammlung bin, darf ich vielleicht gleich den Punkt herausgreifen, der mir im Verhältnis von Christen und Juden besonders neuralgisch zu sein scheint. Meine verehrten Christinnen und Christen, der Messias ist nach jüdischer Vorstellung keine göttliche Gestalt, sondern ein ganz normaler Mensch. Das mag für viele von Ihnen anstößig sein, ich weiß, aber ich muss dies um der Redlichkeit willen gleich am Anfang so deutlich sagen. Ich will das freilich nicht nur behaupten, sondern es auch begründen, und da ich Bibelforscher bin, möchte ich Ihr Augenmerk vor allem auf das „Alte Testament“ richten. Das Zeugnis der Bibel kann Ihnen vielleicht helfen zu verstehen, warum wir Juden so viel Wert auf die Menschlichkeit des Messias legen.

„Messias“ heißt im Hebräischen maschiach und muss mit „Gesalbter“ übersetzt werden. Die Salbung149 war im Alten Testament ein ritueller Akt, durch den Menschen, vor allem Könige und Priester, mit besonderer göttlicher Vollmacht und Autorität ausgestattet wurden.150 Selbst Kyrus, der persische Großkönig, konnte von dem im babylonischen Exil lebenden Propheten – wir nennen ihn in der Bibelwissenschaft Deuterojesaja – als von Gott Gesalbter, wenn Sie so wollen, als „Messias“ bezeichnet werden ( Jes 45,1); und das einfach nur deshalb, weil der Prophet in ihm Gottes Werkzeug erkannte, um die Juden aus dem babylonischen Exil zu befreien. Sie merken, dass die Salbung anfangs noch überhaupt nichts mit einer ganz besonderen, in Gottes Heilsplan einzigartigen Rettergestalt zu tun hatte. Der Messiastitel selbst findet sich im Alten Testament noch an keiner einzigen Stelle. Selbst in den berühmten „messianischen“ Texten ( Jes 9,1–6; 11,1–9; Jer 23,5f; Jer 30,8f; Ez 34, 23f; Mi 5,1–5; Sach 9,9f ) ist noch nicht von „dem Messias“ die Rede, ja selbst die Geistbegabung – nicht einmal die Geist-„salbung“ – kommt nur in Jes 11, 2 vor. Erst in der frühjüdischen Zeit (ab dem 2./1. Jahrhundert v. Chr.) wurde der Messiastitel ein feststehender Begriff im Repertoire unserer endzeitlichen Hoffnungen (1 QSa 2,12; PsSal 17 u. 18). Aber auch wenn es den Messiastitel selbst in alttestamentlicher Zeit noch nicht gab, die Vorstellung, dass Gott einen endzeitlichen Heilskönig senden werde, der das davidische Königtum in einer idealisierten und überhöhten Weise wiederherstellen wird, ist relativ alt. Vermutlich gab es sie schon in vorexilischer Zeit. Es ist diese Vorstellung, die man dann in frühjüdischer Zeit mit dem Messiasprädikat verband, so dass man unter Vorbehalt auch schon von messianischen Texten im Alten Testament sprechen kann. Fazit: Der Messias ist der endzeitliche, durch Gottes Gnade eingesetzte König Israels, aber trotz alles Besonderen eben nur ein Mensch, nicht mehr.

Ich denke, es ist gut, dass Sie uns gleich zu Beginn auf den entscheidenden Kontroverspunkt hingewiesen haben. Aber bevor ich diesen Faden aufnehme, habe ich noch eine kurze Zwischenfrage: Warum muss der Messias eigentlich ein davidischer König sein?

Nun, ich bin im Allgemeinen kein Freund einer allzu stark psychologisierenden Exegese, aber in diesem Fall möchte ich doch eine psychologische Erklärung anbieten. Versetzen Sie sich einmal in die Situation der Einwohner Jerusalems in der vorexilischen Zeit. Dort war, seit man denken konnte, die davidische Dynastie am Ruder. Diese hatte von ihrem Ursprung her große Bedeutung bekommen, denn ihr Begründer David war – wenn man der biblischen Überlieferung trauen darf – der bedeutendste unserer Könige. Ihm gelang es die israelitischen Stämme zu einen und erheblichen Einfluss in der Region auszuüben. Aber noch mehr: Sein Königtum war wahrscheinlich schon von Anfang an mit einer besonderen göttlichen Aura umgeben – und wurde es immer mehr. David galt als der König von Gottes Herzen, so dass in einer alten Verheißung seiner Dynastie sogar ewiger Bestand garantiert wird (2Sam 7,11–16). Klar, dass man sich von seinen Nachfolgern Ähnliches erwartete. Doch leider umsonst! Die meisten aus der davidischen Linie stammenden Könige, die im Südreich herrschten, waren eine herbe Enttäuschung. Sie, die im Auftrag Gottes für Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Frieden sorgen sollten, förderten den Abfall von Gott, indem sie heidnische Kulte unterstützten, traten das Recht mit Füßen, indem sie die einfachen Leute ausbeuteten, schmiedeten Bündnisse und führten Kriege, die nicht selten Ergebnis ihres Unglaubens und ihrer Machtgier waren. Irgendwann, so wird man im Volk gehofft haben, muss doch einmal diese Pechsträhne aufhören und endlich ein Davidide auf dem Thron sitzen, der wahrhaft von Gott bevollmächtigt ist. Vor allem Jesaja (11,1) hat das Volk in dieser Hoffnung bestärkt. Er erwartete einen idealen Herrscher aus dem Hause Davids, erwähnte aber den Namen „David“ nicht und sprach nur von einem Reis aus Isais (Davids Vater) Stumpf. Das könnte damit zusammenhängen, dass er das augenblickliche davidische Herrscherhaus so negativ sah.151 Jedenfalls wird die Enttäuschung über die Inhaber des davidischen Thrones zusammen mit der zunehmenden Verklärung Davids kräftig dazu beigetragen haben, die „messianische“ Erwartung zu schüren. (Kopfschütteln der orthodoxen Podiumsteilnehmer) Missverstehen Sie mich nicht (zu den orthodoxen Podiumsteilnehmern gewandt): Ich will damit nicht sagen, dass die ganze Messiashoffnung nur eine psychologische Projektion ist, aber oft bedient sich Gott ja der Psychologie, um seine Geschichte mit uns Menschen voranzutreiben. Und natürlich können Sie es meinetwegen auch umgekehrt sehen, eben so, dass die Verheißung primär vor Gott ausging und sie vom Volk einfach nur sehnsüchtig und dankbar aufgenommen wurde. Doch wie dem auch sei, selbst als die davidische Dynastie durch das Exil in die Krise geriet und schließlich das Königtum überhaupt obsolet wurde, verschwand diese Hoffnung nicht. Ja, wahrscheinlich führte der äußere Niedergang sogar dazu, dass man umso dringlicher eine radikale Umkehr der oft bedrückenden Verhältnisse erwartete. So erhoffte beispielsweise der Prophet Sacharja nach dem Ende des Exils, dass Gott das davidische Königtum messianisch erneuern wird (Sach 4,1–14; 6,9–15). Richtig ausgebaut wurde diese Hoffnung aber, wie ich bereits erwähnt habe, erst in frühjüdischer und rabbinischer Zeit.

Eine für mich durchaus einleuchtende Erklärung. Aber nun will ich auf Ihre anfänglichen Ausführungen zurückkommen, in denen Sie die Menschlichkeit des Messias so stark herausgestellt haben. Ich will nicht verhehlen, dass manche Ihrer Gedanken für mich zwar überlegenswert sind, ich mich aber schon frage, ob der Messias nicht doch irgendetwas Göttliches an sich haben muss. Ist er wirklich nur ein Mensch wie Sie und ich? Vielleicht darf ich diese Frage einmal an unseren Philosophen, Herrn Prof. Lieberman, richten.

Zuerst einmal: Herr Kollege Nürnberger hat völlig Recht. Auch ich würde sagen, dass der Messias ein Mensch wie Sie und ich ist, wobei er natürlich – wenn Sie es so ausdrücken wollen – etwas „Göttliches“ an sich hat. Er ist mit Gottes Geist gesalbt und mit einem einzigartigen Charisma ausgestattet. Dies wird sehr schön deutlich, wenn man den bereits öfter erwähnten Text Jes 11, vielleicht den wichtigsten messianischen Text im Alten Testament überhaupt, näher betrachtet. Dort wird in deutlichen Worten die Geistbegabung des Messias beschrieben: „Es ruhte auf ihm der Geist des Herrn“ ( Jes 11,2). Diese Geistbegabung allein ist es, die den Messias mit einer einzigartigen Vollmacht und Autorität ausstattet und ihn zu all den heilvollen Taten befähigt, die in den folgenden Versen (VV. 2–5) beschrieben werden. Aber noch einmal: Der Messias bleibt dabei ein Mensch und wird nicht vergöttlicht.152 Die christliche Vorstellung, der Messias müsse in irgendeiner Weise göttlichen Ursprungs sein, ja vielleicht sogar Gott selbst, ist dem traditionellen Judentum völlig fremd. Der Messias kann sozusagen aus der direkten Nachbarschaft kommen.

Aber meine Frage, Herr Lieberman, ist, wie uns ein rein menschlicher Messias erlösen soll. Sündenvergebung, die Ermöglichung eines versöhnten Gottesverhältnisses, all dies und noch viel mehr, kann man doch nicht von einer rein menschlichen Gestalt erwarten.

Sehen Sie, Sündenvergebung, die Erfahrung von Gottes Nähe und Gegenwart, all diese Dinge, die sie als Christen mit Jesus verbinden und weswegen Sie ihn wahrscheinlich auch als Messias bezeichnen, sind auch für Juden von Bedeutung. Aber, um es sehr direkt zu sagen: Dafür brauchen wir den Messias nicht! All das kommt direkt von Gott! Die Aufgaben des Messias sind primär auf unsere irdisch-geschichtliche Wirklichkeit bezogen. Was er zu leisten hat, ist, wenn ich es so platt sagen darf, effiziente Politik. Er soll die überall in der Welt verstreuten Juden wieder in das Land ihrer Väter bringen – na ja, vielleicht nicht gleich alle (Podiumsteilnehmer schmunzeln) – den Tempel neu bauen und Frieden zwischen Israel und den Völkern stiften, was unter den momentanen Umständen sicher das größte Wunder wäre. So hat es der für die jüdische Geistesgeschichte nicht ganz unbedeutende und sehr rationalistisch eingestellte Religionsgelehrte Maimonides im 12. Jahrhundert beschrieben. In Mischne Tora (Hilchat Melachim 11) schreibt er: „Sollte daher ein König vom Stamme David erstehen, der seinen Geist der Tora zuwendet und wie der Stammvater David die Gebote erfüllt, sowohl der schriftlichen wie der ,mündlichen Lehre‘, auch ganz Israel veranlasst, nach der Tora zu leben und sie zu befestigen, so kann er für den Messias gehalten werden; nimmt seine Wirksamkeit einen glücklichen Verlauf, besiegt er die Nationen der Umgebung, erbaut den Tempel und versammelt die Zerstreuten Israels, so ist kein Zweifel mehr, dass er der Richtige war.“ Das heißt natürlich nicht, dass der Messias nicht auch geistliche Aufgaben hat. So soll er der schriftlichen und mündlichen Tora gemäß leben und auch sein Volk zu einem solchen Leben ermutigen. Aber fast noch wichtiger ist die erfahrbare Veränderung unserer geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. So könnte jeder charismatische und gottesfürchtige Jude tatsächlich der Messias sein. Aber ob er es wirklich ist, das zeigen nur seine Werke. In dieser Hinsicht geht es bei uns nicht um Glauben oder Nicht-Glauben wie bei den Christen. Wir haben klare Kriterien, die uns helfen den Messias zu identifizieren.

Herr Rabbiner Naftali, Sie sitzen so unruhig auf Ihrem Stuhl. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie hier noch etwas hinzufügen wollen?

Das will ich, allerdings! Zuerst einmal: Ich stimme mit meinen beiden Kollegen völlig darin überein, dass der Messias sichtbare Werke vollbringen muss. Eine nur geistliche Erlösung, das ist für orthodoxes Judentum, auch für orthodoxes Judentum mystischer Prägung, ein Unding. Aber man sollte nicht verschweigen, dass es auch jüdische Konzeptionen gibt, in denen die messianische Zeit sehr übernatürliche Züge bekommt. Neben der rationalistischen Variante des Maimonides, die modernen Zeitgenossen wahrscheinlich eher einleuchtet, steht eine Auffassung, nach der der Messias derart radikal in das Welt-und Naturgeschehen eingreift, dass diese Welt und ihre bisherigen Gesetze von Grund auf verändert werden. Den Messias des Maimonides kann man sich mit ein wenig Phantasie auch in den Schlagzeilen einer modernen Zeitung vorstellen, der Wundermessias des Typus, auf den ich nun das Augenmerk richten will, hat, wenn man es pointiert sagen will, eine Zeitung gar nicht mehr nötig. Er hat den Himmel so auf die Erde gebracht, dass dies jeder Erdenbürger – auch ohne Medienberieselung – sofort erkennt.

Gershom Scholem bezeichnet in seinem berühmten Aufsatz zur Messiasfrage die rationale Erwartung als restaurativen, die eher mirakulöse als utopischen Typus.153 Bei ersterer geht es primär um eine Restauration des davidischen Königtums, wenn auch in einer dieses Königtum bereits überhöhenden und idealisierenden Weise. Beim utopischen Typus dagegen stellt man sich das messianische Zeitalter in deutlich überirdischen Kategorien vor, so dass der Himmel sich zur Erde öffnet und die Erde eine geradezu himmlische Verklärung erfährt. Das lässt sich übrigens gut an Jes 11 illustrieren. Neben der rational-allegorischen Interpretation, die in dem großartigen Bild vom Tierfrieden „nur“ einen Hinweis auf den zukünftigen messianischen Frieden zwischen Israel und den Völkern sieht, gibt es die übernatürliche Erklärung. Herr Kollege Lieberman, Sie haben doch den Text von Maimonides da. Wären Sie so freundlich, ihn mir mal kurz zu geben? Dann würde ich nämlich zuerst einmal die rationale Form des Maimonides zu Gehör bringen. Danke! Moment, jawohl, hier ist der Abschnitt. Ich lese: „Du sollst nicht denken, daß in den Tagen des Messias irgend etwas im Lauf der Welt aufhört oder daß es eine Neuerung in der Schöpfung des Anfangs gibt. Vielmehr geht die Welt ihren gewohnten Gang. Was aber die Stelle bei Jesaja (11,6) anbetrifft – ‚und es weilt der Wolf beim Schaf, der Leopard lagert beim Zicklein‘ –, so ist dies ein Gleichnis und Rätsel. Sein Sinn: die Israeliten leben mit den Übeltätern unter den Völkern, die mit Wolf und Leopard verglichen werden ( Jer 5,6), in Sicherheit. Alle kehren zur Religion der Wahrheit zurück, sie rauben und verderben nicht, genießen das Erlaubte, zusammen mit Israel, in Ruhe … Alles, was das Thema ‚Messias‘ betrifft ist als Gleichnis zu verstehen, und in der messianischen Zeit wird sich erweisen, wofür es als Gleichnis gestanden hat und was damit angedeutet wurde“154. Typisch Maimonides! Typisch Rationalismus! Die wörtliche Interpretation dagegen – oft in direkter Antithese zu Maimonides155 – geht davon aus, dass in der messianischen Zeit überirdische Zustände in dieser Welt herrschen werden und deshalb die Natur in ihrem Wesen so radikal transformiert wird, dass alle Feindschaft zwischen den Geschöpfen ein Ende finden wird und dann tatsächlich Wölfe bei den Lämmern wohnen und Säuglinge am Loch der Otter spielen. Nach Uffenheimer wird sich die Natur auf wunderbare Weise verändern, bis der göttliche Friede alles durchdringt.156 Allerdings – und insofern ist der Unterschied doch wieder nur relativ – ist selbst in der utopischen Form der Schauplatz der messianischen Vollendung immer noch der Bereich der geschichtlichen Welt. Denn so wunderbar und überirdisch auch alles vorgestellt wird: Es ist der Himmel auf Erden, noch nicht der „endgültige Himmel“.

Aha, es gibt also auch im Judentum, obwohl die messianische Hoffnung sehr irdische Züge trägt, die Hoffnung auf eine endgültige Erlösung? (Nürnberger meldet sich) Bitte Herr Nürnberger!

Ohne Zweifel! Jeden Tag bekennen sich Juden, wenn sie das jüdische Hauptgebet, die Amida (= „Stehendes Gebet“ bzw. Achtzehnbittengebet) beten, zur Auferstehung der Toten. Und diese steht natürlich eher in einem Zusammenhang mit der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde als in einem Bezug zur messianischen Zeit. Die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde wiederum ist ein Erbe der Apokalyptik, die sich im Gegensatz zu den meisten Texten der biblischen Tradition mit einer rein innerweltlichen Vollendung nicht mehr begnügen konnte und so im Laufe der Zeit die Hoffnung auf eine kommende Welt (haolam haba = die kommende Welt) entwickelt hat. Man hoffte auf eine Welt, die in radikalem Gegensatz zu dieser Welt steht, weil sich die Frommen aufgrund leidvoller Verfolgungen durch gottlose Machthaber nicht mehr vorstellen konnten, dass in dieser abgrundtief bösen Welt das Gute und Gottgewollte irgendwann einmal noch den Sieg erringen wird. Eine Zeit lang standen sich die alttestamentliche Hoffnung auf eine innerweltliche messianische Vollendung und die apokalyptische Sehnsucht nach jener ganz anderen Welt unvermittelt gegenüber. Doch vom Ende des 1. Jahrhunderts an, und noch stärker in der rabbinischen Periode (2.–5. Jahrhundert), kam es zu einem zunehmenden Ausgleich. Man stellte sich die messianische Zeit in Kontinuität zur alttestamentlichen Hoffnung weiter als Vollendung unserer realen Geschichte vor, ging aber davon aus, dass danach – oft nach einer Zwischenphase – die kommende Welt Gottes in all ihrem Glanz und in ihrer Herrlichkeit an die Stelle unserer alten Welt treten wird. Wenn man so will: ein Ausgleich zwischen alttestamentlicher Diesseitsbejahung und apokalyptischer Jenseitssehnsucht. Die Wirksamkeit des Messias bleibt in erster Linie auf diese Welt bezogen, wobei faktisch natürlich die messianische Zeit zu einer Art Übergangszeit geworden ist, so dass die Übergänge zwischen „irdisch“ und „himmlisch“ insgesamt fließend geworden sind. Manchmal tut der Messias Dinge, die man eigentlich erst in der kommenden Welt erwarten würde, und umgekehrt trägt die kommende Welt manchmal sehr irdische Konturen.

Vielleicht erklärt gerade die Kombination der beiden Vorstellungen ja auch, warum die messianische Zeit in manchen Traditionen sehr übernatürliche Züge bekommen konnte. Aber wie dem auch sei, nun möchte ich doch einmal die einzige Frau in unserer Runde, Frau Rabbinerin Goldsmith, zu Wort kommen lassen. Meine Frage an Sie: Welche Vorstellung haben denn Reformjuden vom Messias?

Vermutlich bin ich diejenige, die zu diesem Thema am wenigsten zu sagen hat. Warum? Weil die Mehrheit des Reformjudentums die Erwartung eines persönlichen Messias ablehnt. In der Zeit, als das Reformjudentum entstand, also im 19. Jahrhundert, stand eindeutig die Erwartung einer messianischen Zeit ohne Messias im Zentrum. Und selbst die messianische Zeit hat man der traditionell-jüdischen Inhalte entkleidet, weil man alles abschütteln wollte, was irgendwie nach jüdischem Partikularismus roch – und so roch natürlich fast alles: die Rückkehr aus der Diaspora, zurück ins Land der Väter, der Neubau des Tempels und vor allem eine erneute Abgrenzung vom Rest der Menschheit. Nein, das konnte unmöglich im Sinne der Reformbewegung sein, die bewusst auf Integration und Assimilation setzte. Außerdem ist zu bedenken, dass man dem allgemeinen Fortschrittsglauben dieser Zeit huldigte, der bekanntlich davon ausging, dass es innergeschichtlich stetig bergauf gehen werde. Ich habe natürlich mit dieser Frage gerechnet und deshalb einige Texte mitgebracht. Hier ist der Text der „Pittsburg Conference“ aus dem Jahre 1885: „Wir erkennen in der modernen Ära universaler Kultur von Herz und Verstand das Nahen der Verwirklichung der großen messianischen Hoffnung Israels für die Errichtung des Reiches der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Friedens für alle Menschen. Wir betrachten uns nicht länger als Nation, sondern als eine Religionsgemeinschaft und erwarten daher weder eine Rückkehr nach Palästina noch einen Opferdienst durch die Nachkommen Aarons noch die Wiederherstellung irgendeiner Gesetzgebung bezüglich eines jüdischen Staates.“157 Nun hat sich inzwischen viel geändert. Das Reformjudentum insgesamt ist wieder jüdischer geworden. Der Staat Israel wird meist positiv gesehen. Und der allgemeine Fortschrittsglaube hat nach den Tragödien des 20. Jahrhunderts viel an Attraktivität eingebüßt.158 Die Erwartung eines persönlichen Messias ist allerdings nach wie vor nicht sehr beliebt, was nicht heißt, dass sie überhaupt nicht existierte. Aber es bleiben doch Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Es geht also auch ohne Messias. Diese reformjüdische Position ist meiner Meinung nach übrigens gar nicht so weit vom orthodoxen Judentum entfernt. Wir haben ja jetzt schon oft gehört, dass es auch dort primär um das geht, was der Messias bewirkt, und nicht um das, was er als Person darstellt.

Es ist spannend, diese Pluralität im Judentum zu entdecken. Hier ganz traditionelle Messiasvorstellungen, rational oder eher übernatürlich akzentuiert, dort die Erwartung einer Messiaszeit ohne Messias. Eines ist aufgrund all Ihrer Beiträge freilich sehr deutlich geworden: Wenn man überhaupt noch auf einen jüdischen Messias hofft, dann ist dieser ein normaler Mensch mit Aufgaben, die sich auf diese Weltwirklichkeit beziehen. Nun habe ich allerdings eine Frage, die noch ein wenig in eine andere Richtung geht: Ist, wenn ich den Messias und seine Zeit im Rahmen einer rein irdischen Vollendung denke, die Gefahr nicht sehr groß, dass irgendwelche religiösen Neurotiker sich als Messias ausgeben und dadurch viele Menschen verführen? Ich möchte diese Frage Herrn Naftali stellen, der als Rabbiner auch eine seelsorgerliche Verantwortung für seine Gemeinde hat. Wie ist das, Herr Naftali, ist es vorstellbar, dass jemand zu Ihnen kommt und behauptet, er habe den Messias gefunden? Entschuldigen Sie, wenn ich eine so skurrile Frage stelle.

So skurril ist Ihre Frage gar nicht. Vielleicht haben Sie schon von der Chabadbewegung gehört. Das sind orthodoxe Juden chassidisch-charismatischer Prägung. Hier kam es tatsächlich dazu, dass ein Teil dieser Bewegung den vor einigen Jahren gestorbenen Rebbe Menachem Mendel Schneerson aus New York für den Messias gehalten hat, und das noch zu seinen Lebzeiten! Diese Messiasproklamation des heiß geliebten Rebbe war zwar selbst in der Chabadbewegung umstritten, zumal Schneerson sich selbst nie öffentlich als Messias bekannt hat. Aber immerhin zeigt das gewagte Unternehmen dieser orthodox-chassidischen Juden in trefflicher Weise, wie konkret und praktisch jüdische Messiaserwartung auch im 21. Jahrhundert noch sein kann. So konkret, dass ein in Brooklyn lebender Rabbiner für den Messias gehalten werden kann. Freilich, man darf die Messiasschwärmerei dieser kleinen jüdischen Gruppe nicht überbewerten. Diese Leute sind wirklich die Ausnahme, auch wenn sie einen großen Wirbel erzeugen. Aber natürlich ist die Frage interessant: Was würde ich machen, wenn einer von meiner Gemeinde dieser Messiasschwärmerei zugeneigt ist. Aus orthodoxer Perspektive könnte ich ihm wohl nur sagen: Es gibt gewisse Kriterien für das, was der Messias zu tun hat. Und wenn man diese auf Schneerson anwendet, dann muss man zu dem Urteil kommen: Seine Anhänger haben sich getäuscht. Er hat die Werke des Messias zu seinen Lebzeiten nicht vollbracht. Und wenn sie nun, nach seinem Tod, immer noch an ihrem messianischen Traum festhalten, manche sogar glauben, dass ihr Rebbe aus der „Verborgenheit“ hervortreten wird, um das messianische Werk doch noch zu vollbringen, dann kann ich nur empfehlen: Lass sie gewähren, bis die Zukunft sie endgültig widerlegen wird. Und sollte es anders kommen, dann soll es uns nur recht sein. Aber bis dahin ist alles offen.

An dieser Stelle schaltet sich direkt Frau Goldsmith ein:

Eine gute Antwort. Aber man sollte um der Aufrichtigkeit willen doch darauf hinweisen, dass nicht alle messianischen Bewegungen in der jüdischen Geschichte so harmlos waren wie die Chabadbewegung. Ich denke an Bar Kochba, den Rabbi Akiba im 2. Jahrhundert als Messias proklamiert hat. Bar Kochba war der Anführer des zweiten jüdischen Aufstands gegen Rom (132–135 nach der Zeitrechnung). Nachdem der römische Kaiser Hadrian beschlossen hatte, aus Jerusalem eine Militärkolonie zu machen, es also richtiggehend zu paganisieren, erhob sich unter der Führung des Bar Kochba – mit seinem richtigen Namen hieß er eigentlich Simon ben Kosiba – ein zweiter Volksaufstand gegen Rom. Rabbi Akiba bezog die messianische Verheißung aus Num 24, 14 („Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen …“) auf Bar Kosiba und nannte ihn von nun an Bar Kochba („Sternensohn“). Als der Aufstand von den Römern blutig niedergeschlagen war und sich die messianische Proklamation des Rabbi Akiba als falsch herausgestellt hatte, wurde Bar Kochba wieder mit seinem alten Namen benannt. Freilich interpretierte man diesen Namen nun als „Lügensohn“, da aus dem Kosiba das hebräische kzb ( = lügen) herausgelesen werden konnte. Rabbi Akiba bezahlte seinen messianischen Irrtum mit einem blutigen Martyrium durch die Hände der Römer. Noch verhängnisvoller war der Fall „Sabbatai Zwi“ im 17. Jahrhundert. Sabbatai Zwi kam aus Smyrna, dem heutigen Izmir, war stark von der lurianischen Kabbala geprägt, einem Zweig des mystischen Judentums, und gelangte auf mehreren Umwegen zu der Überzeugung, dass er der Messias sei. Im Jahre 1665 ließ er sich in Jerusalem öffentlich zum Messias proklamieren. Der kabbalaistische Prophet Natan Benjamin ha-Levi rührte für ihn die Werbetrommel. Während man Sabbatai Zwi in Jerusalem ablehnte – anscheinend hatte man in Jerusalem schon Erfahrung mit durchgedrehten religiösen Psychoten –, ja ihn sogar verbannte, gelang es ihm, in Smyrna eine gläubige Anhängerschaft um sich zu sammeln. Von dort aus erfasste die messianische Begeisterung ganz Europa und Nordafrika, wo nach den schrecklichen mittelalterlichen Pogromen und Vertreibungen die Sehnsucht nach Erlösung dementsprechend groß war. Doch dann kam der große Schlag: Im Jahre 1666 wurde Sabbatai Zwi vom Sultan verhaftet und vor die Wahl zwischen Hinrichtung oder Konversion zum Islam gestellt. Sabbatai Zwi entschied sich für die Konversion, so dass das durch ihn ausgelöste messianische Fieber ein jähes und enttäuschendes Ende fand. Aber auch nicht überall, denn sogar nach seiner Konversion gab es weiter Juden, die an seiner Messianität festhielten. Sie versuchten seine Konversion zu rechtfertigten, indem sie die These aufstellten, dass der wahre Messias die Welt nur dann erlösen kann, wenn er selbst zuvor in das äußerste Dunkel der Sünde eingegangen ist. Was konnte das anderes sein als die Konversion zum Islam? All diese Beispiele zeigen mir, dass die jüdische Messiaserwartung alles andere als unproblematisch ist. Gerade weil die messianische Frage so an unsere konkret-geschichtliche Welt gebunden ist, stand man ständig in der Gefahr irgendwelche Messiasprätendenten für den wirklichen Messias zu halten, und dementsprechend groß war die Enttäuschung, wenn sich herausstellte, dass man sich wieder einmal geirrt hat. Von den Opfern an Leib und Leben einmal ganz abgesehen. Sie haben von seelsorgerlicher Verantwortung gesprochen. Vielleicht wird man dieser doch am ehesten gerecht, wenn man wie im Reformjudentum den Glauben an einen persönlichen Messias ein für alle Mal ad acta legt.

Professor Nürnberger:

So weit wie Frau Goldsmith würde ich nicht gehen wollen. Ich denke, man hatte in der rabbinischen Zeit aufgrund negativer Erfahrungen einen Grundsatz aufgestellt, mit dem die rabbinischen Autoritäten ihrer seelsorgerlichen Verantwortung durchaus gerecht wurden: Der Grundsatz, dass man das Ende nicht bedrängen darf. Gott allein ist es, der zu seiner Zeit die messianische Wende heraufführen wird. Aller menschlich-messianische Aktivismus, der versucht, Gott ins Handwerk zu pfuschen, ist Sünde und Unglaube. Dieser Grundsatz ist seit der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70, die ja in gewisser Weise auch das Werk messianischer Aktivisten war – damals in der zelotischen Variante – immer sehr ernst genommen worden.

Rabbinerin Goldsmith:

Leider nicht immer! Denken Sie nur an die heutige innerorthodoxe Diskussion, wo es durchaus wieder Gruppen gibt, die damit liebäugeln, dass der messianische Prozess bereits begonnen hat und man deshalb Gott ein wenig unter die Arme greifen muss. Die radikalen Siedler will ich gar nicht erst ins Gespräch bringen, obwohl sie das beste Beispiel für die Existenz einer modernen Variante des alten zelotischen Messianismus sind. Aber das ist das unumgehbare Grunddilemma einer zu konkret auf diese Welt bezogenen messianischen Hoffnung. Man kann noch so viele Sicherheitsmechanismen einbauen, wenn diese Welt Ort der Vollendung ist, dann ist die Aufmerksamkeit auch auf diese Welt fixiert. Es fehlt dann nur noch eine Zeitenkonstellation, die sich kongenial in die biblischen Verheißungen fügt, und schon reißt der messianische Enthusiasmus die nüchterne Ratio mit sich fort.

Ich sehe schon, hier gäbe es noch viel Gesprächsstoff. Leider ist die Zeit weit fort geschritten und wir müssen langsam zu einem Ende kommen. Ich möchte mich bei Ihnen allen herzlich bedanken. Sie haben uns sehr geholfen zu verstehen, worum es in der messianischen Erwartung des Judentums geht. Wenn ich es in einem Satz zusammenfasse: Der Messias ist nicht nur ein ganz normaler Mensch, wenn auch mit besonderem Charisma ausgestattet, er vollbringt auch ganz irdische Taten. Sein Reich ist diese Welt, und deshalb braucht man auch keinen besonderen Glauben, um ihn zu erkennen. Das ist für uns Christen zwar erst einmal eine gewaltige Provokation, aber wie ich hoffe, eine letztlich konstruktive und inspirierende. …

Damit es gründlich missverstanden wird: Natürlich ist Jesus nicht der Messias Israels – eine babylonische Sprachverwirrung und ihr mögliches Ende …

Zum Dialog gehört es, sich verständlich zu machen. Dabei geht es nicht um Konfliktvermeidung, aber darum, den Konflikt dort auszutragen, wo er seinen Platz hat, und eben nicht an irgendwelchen Nebenschauplätzen. Wenn deshalb Christen Juden gegenüber klarmachen wollen, wer für sie Jesus Christus ist, warum sie an ihn glauben, welchen Stellenwert er im Ganzen des christlichen Glaubens hat, dann sollten sie gerade bei der Messiasfrage sehr vorsichtig und differenziert argumentieren. Aus den vorangehenden Überlegungen geht deutlich genug hervor, dass der Satz „Jesus ist der Messias“ in jüdischen Ohren eigentlich nur zu Missverständnissen führen kann. Wer solches dennoch pauschal behauptet, der muss sich sofort fragen lassen, warum die Welt immer noch so unerlöst ist und warum das jüdische Volk noch vergeblich auf die Werke wartet, die man nun einmal traditionell dem Messias zuschreibt. Außerdem wird er nur selten auf eine offene Gesprächsatmosphäre stoßen, da die Messiasfrage während der langen Geschichte christlich-jüdischer Begegnung für Juden fast immer unter dem Vorzeichen christlicher Unterdrückung stand. Juden diskutierten im Mittelalter mit Christen nicht über diese Frage, weil sie jüdisch-christlichen Dialog treiben wollten, sondern weil sie in Zwangsdisputationen Stellung beziehen mussten, und dabei, selbst wenn sie exegetisch vernünftig argumentierten, immer den Kürzeren zogen. Es stand von vornherein fest, wer als Sieger aus solchen Disputationen hervorzugehen hatte. Die Geschichte des christlichen Antijudaismus haftet dem Messiasbegriff bis heute an, und deshalb ist es schwer darüber zu reden, ohne die ganze unselige Vergangenheit mit all ihren negativen Konnotationen wieder heraufzubeschwören.

Die Frage drängt sich unweigerlich auf: Sollte man bei dieser Sachlage nicht überhaupt darauf verzichten, gegenüber Juden von der Messianität Jesu zu sprechen? Wäre es nicht besser, durch andere Würdeprädikate auszudrücken, wer Jesus für uns Christen ist, oder gleich ganz auf Titel zu verzichten, die ja sowieso immer missverständlich sind? Vielleicht könnte rein deskriptiv viel klarer entfaltet werden, welche Bedeutung Jesus Christus im Rahmen christlichen Glaubens und christlicher Theologie hat. Nun scheint mir dies tatsächlich der verheißungsvollere Weg zu sein, und dennoch würde ich es – aus noch näher darzulegenden Gründen – für einen fatalen Fehler halten, den Messiastitel völlig preiszugeben. Dies ist auch gar nicht nötig. Denn wie unsere Untersuchung sehr alter Bekenntnistraditionen ergeben hat, haben die ersten Judenchristen den jüdischen Einwand – und damit letztlich natürlich auch ihre eigenen Fragen – durchaus ernst genommen und uns damit bereits den Weg für eine differenzierte Verwendung gewiesen. Am beachtenswertesten ist sicher die in Apg 3,19–21 aufgenommene Tradition, die das eigentliche messianische Werk erst für die Zukunft erwartet, wenn Jesus wiederkommt, und deshalb Jesus eher im Sinne eines Messias designatus versteht. Man könnte also in Fortführung dieses Ansatzes gegenüber Juden heute sagen: Wir Christen glauben zwar, dass der auferweckte Jesus der ist, den Gott dazu ausersehen hat, das messianische Werk zu vollbringen, aber wir müssen zugestehen, dass dies, jedenfalls in einer sichtbaren und allumfassenden Gestalt, noch aussteht. Deshalb wäre es im jüdischen Verständnishorizont durchaus angemessen zu sagen: Wir glauben nicht, dass Jesus jetzt schon der Messias ist, aber wir glauben, dass er es sein wird, dass er sich als solcher am Ende der Zeit erweisen wird. Christlichen Glauben in diesem Sinn zu artikulieren, könnte des Weiteren folgende Vorteile mit sich bringen:

Wenn von christlicher Seite deutlich artikuliert wird, dass Jesus nur in sehr differenzierter Weise als Erfüllung messianischer Verheißungen betrachtet werden kann, es also auch für Christen zentral ist, dass die letzte Erfüllung der messianischen Hoffnung noch aussteht, dann könnte gerade die gemeinsame Sehnsucht nach dem Reich Gottes Juden und Christen miteinander verbinden. Christen würden sich auf diese Weise bewusst von einem triumphalistischen Erfüllungspathos verabschieden. Sie würden zugeben, dass viele Verheißungen durch Jesus tatsächlich „nur“ bestätigt wurden. Sie würden zu Paulus zurückkehren, der diese durchaus christliche Grundwahrheit in Röm 15,7ff bereits zum Ausdruck gebracht hat: „Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Denn ich sage: Christus ist ein Diener geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: ‚Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.‘ Und wiederum heißt es: ‚Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!‘ Und wiederum: ‚Lobet den Herrn, alle Heiden, und preist ihn, alle Völker!‘ Und wiederum spricht Jesaja: ‚Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen.“ Dass eine solche Solidarität in der gemeinsamen Erwartung auch von jüdischen Gelehrten geschätzt werden kann, lässt Martin Buber erkennen, der in einem Vortrag für Christen formuliert hat: „Eure Erwartung geht auf eine Wiederkehr, unsre auf das unvorweggenommene Kommen. Für euch ist die Phrasierung des Weltgeschehens von einer unbedingten Mitte, jenem Jahr Null, aus bestimmt; für uns ist es eine einheitlich gestreckte Tonfolge, ohne Einhalt von einem Ursprung zu einer Vollendung strömend. Aber wir können des einen Kommenden gemeinsam harren, und es gibt Augenblicke, da wir ihm gemeinsam die Straße bahnen dürfen.“191 Noch zuversichtlicher klingt der Satz von Hans Joachim Schoeps: „Die gemeinsame Erwartung (besteht darin), daß das entscheidende Ereignis erst noch kommen wird – als das Ziel der Wege Gottes, die ER in Israel und in der Kirche mit der Menschheit geht. Die Kirche Jesu Christi hat von ihrem Herrn und Heiland kein Bildnis aufbewahrt. Wenn morgen Jesus wiederkäme, würde ihn von Angesicht kein Christ erkennen können. Aber es könnte wohl sein, daß der, der am Ende der Tage kommt, der die Erwartung der Synagoge wie der Kirche ist, dasselbe Antlitz trägt.“192

Trotz aller notwendigen Einschränkungen und Differenzierungen dürfen wir – gerade auch um des Volkes Israel willen – nicht gänzlich auf die Messiastitulatur verzichten. Selbst die Rheinische Synodalerklärung hält daran fest, wenn in ihr formuliert wird: „Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet.“ Freilich, was bedeutet der Genitiv, wenn hier vom „Messias Israels“ die Rede ist? Ist Jesus nur der Messias aus Israel oder ist er auch der Messias für Israel?

Beginnen wir bei dem Selbstverständlichen: Natürlich ist Jesus der Messias aus Israel, also der, der Christen in besonderer Weise auf das jüdische Volk verweist. Ganz in diesem Sinn urteilt auch Berthold Klappert: „Mit dem Bekenntnis der Kirche zu Jesus Christus, dem Messias Israels, mit dem der konstitutive Bezug Jesu auf das Volk Israel gekennzeichnet ist, ist – fernab von jeglicher Christologie der Trennung vom Judentum – die wesentliche Bindung und der essentielle Bezug der Kirche auf das Volk Israel mitgesetzt.“193 So kann gerade das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias Israels Christen helfen, sich des jüdischen Charakters ihres Glaubens bewusst zu bleiben.

Doch ist Jesus nun auch noch der Messias für Israel? Es ist exakt diese Frage, die eine äußerst kontroverse Diskussion provozierte. Während die einen sich unter keinen Umständen vorstellen konnten, Jesus als Messias für Israel zu begreifen194, weil Christen Juden nicht vorschreiben dürften, wer ihr Messias ist, und sie darüber hinaus in dieser Auslegung den alten christlichen Absolutheitsanspruch entdeckten, wollten andere Jesus bewusst auch als Messias für Israel verstehen. So schreibt Klaus Haacker: „Wenn die rheinische Synode sagt, daß ‚der Jude‘ Jesus der ‚Messias Israels‘ sei, dann steht die Herkunft von vornherein fest und ‚Messias Israels‘ meint einen Israelbezug des Messiasamtes.“195 Nun sei dahingestellt, wie die Rheinische Synodalerklärung ursprünglich gemeint war, ich halte es jedenfalls für unabdingbar, Jesus auch als Messias für Israel zu verstehen. Allein so wird deutlich, dass unsere in Jesus Christus begründete Hoffnung das jüdische Volk mit einschließt. Dies impliziert keine Judenmission, sehr wohl aber ein klares christliches Zeugnis und die Überzeugung, dass Jesus letztlich auch für das jüdische Volk soteriologische Relevanz hat. Christlicher Glaube verliert seine Identität, wenn er, gegen das Neue Testament, davon abgeht, Jesus als Heiland von Juden und Nichtjuden zu proklamieren. Mit vollem Recht fragt Gisela Kittel: „Ist Jesus von Nazareth nur für uns Heiden gestorben, nicht auch für Israel?, anders gefragt: gilt sein stellvertretendes Sühneleiden am Kreuz und seine Auferstehung nur uns, den Heiden, und nicht auch den Juden?“196 Dies schließt nicht aus, dass das jüdische Volk ganz legitim seinen eigenen Glaubensweg gehen muss, aber dieser Glaubensweg kann aus eschatologisch-christlicher Perspektive nur als Weg verstanden werden, der von Jesus Christus her seine letzte Sinngebung und Rechtfertigung erfährt. Was das letztlich heißt, das kann niemand wissen. Gerade das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias für Israel beinhaltet jedoch die Überzeugung, dass Jesus sein Messiasamt auf jüdische Weise ausüben wird, eben für und nicht gegen Israel, in jedem Fall so, dass darin jüdisches Selbstverständnis im tiefsten Sinn des Wortes zur Vollendung gebracht werden wird. Hier wird Israel nichts Heteronomes, nichts von außen kommendes „Christliches“ aufgezwungen, sondern Israels eigenstes und innerlichstes Wesen zur Vollendung gebracht. Heil und Heilung für Israel sind geradezu ein Implikat des Messiasbegriffes, so dass der Messiasbegriff nicht zuletzt um Israels willen nicht aufgegeben werden darf.

148 Alle Namen sind erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
149 Dazu s. Art. Salben, EWNT III 1166f.
150 Dabei konnte sowohl Gott selbst als auch einer seiner Bevollmächtigten der Salbende sein (z.B. 1Sam 16,3.12).
151 Dazu s. Wildberger, Jes 1–12, 444–447.
152 „Der Davidide ist durch das ‚Ruhen des Gottesgeistes‘ nicht überhöht. Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Nachfahre Isais. Gott erfüllt ihn mit seinem Geist und befähigt ihn zu einzigartigem Tun, doch er transformiert seine menschliche Natur nicht.
Auch der ideale ‚Adam‘ ist Adam.“ So Gradwohl, Bibelauslegungen III 143.
153 Scholem, Verständnis 10ff.
154 Mischne Tora, Hilchot Melachim 11,1, zit. nach Gradwohl, Bibelauslegungen, Bd. III 148.
155 Dazu Gradwohl, Bibelauslegungen, Bd. III 148f.
156 Dazu Gradwohl, Bibelauslegungen a.a.O.
157 Zit. nach Levinson, Messias 154.
158 Dazu s. Levinson, Messias 155f.
191 Buber, Brennpunkte 206.
192 Schoeps, Israel 227.
193 Klappert, B., Jesus Christus zwischen Juden und Christen 162f, in: Klappert, Umkehr 138–166.
194 So z.B. Kremers, H., Juden und Christen sind Zeugen Gottes voreinander, 109ff, in: Geyer, Wenn nicht jetzt, wann dann? 237–246.
195 Haacker, K., Jesus – Messias Israels? EvTh 51 (1991) 444–457: hier 454.
196 Kittel, G., Wir und die Juden – Israel und die Kirche 77: Leitsätze in der Begegnung von Christen und Juden, Text und Dokumentation, Moderahmen des Reformierten Bundes (Hg.), Bad Bentheim 1990.

(aus: Peter Hirschberg, Die bleibende Provokation. Christliche Theologie im Angesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 2008)

Wird in den nächsten Blickpunkten fortgesetzt.

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