Von Asymmetrie zu Komplementarität
Der Wandel im christlich-jüdischen Dialog
von Friedhelm Pieper

  1. Seelisberg im Schatten der Schoah

 

Die im August 1947 im schweizerischen Seelisberg unter der Führung des “National Council of Christians and Jews” (USA) und des britischen “Council of Christians and Jews” durchgeführte internationale „Dringlichkeitskonferenz über Antisemitismus“ mit jüdischen und christlichen Teilnehmern aus Europa und den USA markiert den Beginn einer weltweiten Umkehrbewegung in den Kirchen in ihrem Verhältnis zum Judentum nach dem Holocaust. Es sollte allerdings Jahrzehnte dauern, bis die in den sog. „Seelisberger Thesen“ (1) erfassten Einsichten ihren Weg in offizielle kirchliche Stellungnahmen fanden.

In der kritischen Analyse des aggressiven Antisemitismus der deutschen Nationalsozialisten und der beispiellosen Verbrechen an Juden wurde deutlich, dass dieser rassistische Antisemitismus auf antijüdische Traditionen der Kirchen aufbauen und sie instrumentalisieren konnte. Eine Überwindung antisemitischer Einsstellungen war also nur möglich, wenn zugleich auch die kirchlichen Lehren über das Judentum einer kritischen Revision unterzogen würden.

In dieser ersten Phase des christlich-jüdischen Dialogs nach der Schoah lag dementsprechend der Schwerpunkt darauf, zu einer sachgemäßen Darstellung des Judentums in christlicher Lehre, Predigt und Liturgie und zu gelangen. So setzte die „Dringlichkeitskonferenz“ in Seelisberg eine spezielle Kommission ein, um die Aufgaben der Kirchen in der Überwindung des Antisemitismus zu formulieren. Die dabei nach Vorschlägen von christlichen Teilnehmern als „Aufruf an die Kirchen“ verfassten „Seelisberger Thesen“ benennen zentrale Themen für eine theologische Neubesinnung:

  1. der Glaube an „Einen Gott“ als gemeinsames und verbindendes Erbe,

  2. die jüdische Herkunft Jesu, der Ursprung der Kirche im Judentum,

  3. eine differenzierte Darstellung der Passion Jesu Christi in Überwindung des „Gottesmord“-Vorwurfs und der behaupteten jüdischen Kollektivschuld am Tode Jesu

  4. die Zurückweisung der These von der „Verwerfung“ des jüdischen Volkes.

 

Die für die christliche Theologie weitreichenden Konsequenzen der Seelisberger Thesen beschäftigen – wie wir sehen werden - den christlich-jüdischen Dialog bis heute.

Am Anfang der Revision der kirchlichen Lehre vom Judentum standen einzelne Personen und Dialoggruppen. Die Kirchen waren sich nach 1945 zwar darin einig, jede Form des Antisemitismus zu verurteilen, die notwendige Erarbeitung einer neuen Theologie des Judentums wurde allerdings erst Jahrzehnte später begonnen und ist bei weitem noch nicht abgeschlossen (s.u.: 5. und 8.).

Entscheidende Impulse im Anfang gingen u.a. von dem jüdischen Historiker Jules Isaac aus, einem Mitbegründer der französischen christlich-jüdischen Dialoggruppe „Amitié Judéo Chrétienne“. In seinen bekannten Werken „Jésus et Israel“ (Paris, 1946) und „L’enseignement du mépris“ (Paris, 1962) zeigt Jules Isaac die jüdischen Wurzeln des Christentums auf und fasst wesentliche Aspekte der antijüdischen Traditionen in den Kirchen als „Lehre der Verachtung“ zusammen. In Seelisberg war Jules Isaac einer der bedeutenden jüdischen Gesprächspartner und trug entscheidend zur Entstehung der „Seelisberger Thesen“ bei.

  1. Hürden des Anfangs - Probleme in den Kirchen

 

Die von der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1948 in Amsterdam angenommene Erklärung über „Das christliche Verhalten gegenüber den Juden“ (2) spiegelt eine zu der Zeit vorherrschende tiefe Ambivalenz wider. Zwar wird einerseits bahnbrechend die „besondere“ Beziehung zwischen Christen und Juden betont: „Gott hat uns mit den Juden in einer Solidarität besonderer Art verbunden“ - ein Gedanke, der sich bereits bei Dietrich Bonhoeffer findet (3) und inzwischen zum Kernbestand im christlich-jüdischen Themenkatalog zählt. Ebenfalls verurteilt die ÖRK-Erklärung den Antisemitismus als „Sünde gegen Gott und Menschen“ und erklärt damit den Kampf gegen Judenfeindlichkeit zur Christenpflicht. Gleichwohl aber werden in demselben Dokument die Kirchen zu verstärkten Missionsanstrengungen unter Juden aufgerufen. In der traditionellen Haltung exklusiver christologischer Interpretation der Heiligen Schrift gab es keinen Raum für jüdisches Selbstverständnis.

Auch von Seiten des Vatikans gab es in dieser Zeit Signale, die die Bemühungen um eine neue Wahrnehmung des Judentums ablehnten und unter den Generalverdacht des „Indifferentismus“ stellten (4). Eine vatikanische Direktive von 1950 urteilte in Reaktion auf den ersten Gründungsversuch des Internationalen Rates der Christen und Juden im Jahre 1948 in Fribourg: Christlich-jüdische Dialoggruppen würden Unterschiede zwischen den verschiedenen Glaubenstraditionen herunterspielen, weshalb katholischen Christen eine Mitarbeit in derartigen Organisationen untersagt sei (5). 

Während also in dieser Anfangsphase des Dialogs in den offiziellen kirchlichen Stellungnahmen das Festhalten an der traditionellen Lehre über das Judentum vorherrschte (6), welches sich gegenüber dem jüdischen Selbstverständnis nicht zu öffnen vermochte, wuchs in den Kirchen zugleich ein zunehmendes Bedürfnis nach genauerer Wahrnehmung und einem besseren Verständnis des Judentums. Dieses Bedürfnis wurde verstärkt durch die beginnende Einsicht in die Verflechtung der Kirchen im Aufkommen des Antisemitismus und also in die christliche Schuld am Holocaust. Manche Versuche, ein entsprechendes Schuldbekenntnis zu formulieren, lassen erkennen, dass aus solchem Bekenntnis die Frage erwächst, wie denn nach eingestandener Schuld von Seiten der Kirche neu und verantwortlich über das Judentum geredet werden kann. Das Bekennen führte so zu ersten Ansätzen einer neuen theologischen Wahrnehmung des Judentums. So kann die EKD Synode 1950 in Berlin-Weißensee erklären: „Wir glauben, dass Gottes Verheißungen über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu in Kraft geblieben ist“ (7). Zwar schließt die Erklärung mit einer traditionellen auf Christus zielenden eschatologischen Perspektive ab, aber sie bietet zugleich mit dem Hinweis auf die „bleibende Erwählung Israels“ ein bis heute zentrales theologisches Stichwort für eine neue Theologie des Judentums. Das Stichwort nimmt Einsichten der Exegese Karl Barths zu Römer 9 – 11 auf, die dieser in seiner Erwählungslehre 1942 formuliert, allerdings unter Beibehaltung traditioneller theologischer Abwertung des Judentums (8).

  1. Information und Begegnung – Asymmetrie in den christlich-jüdischen Beziehungen

 

In den 50er und 60er Jahren wuchs die Anzahl christlich-jüdischer Gesellschaften in Westeuropa (9). Sie boten die Möglichkeit, nicht nur Informationen über das Judentum aus erster Hand zu erhalten, sondern ermöglichten auch inoffizielle Begegnungen und offene Dialoge mit jüdischen Gesprächspartnern, in denen ein neues Verständnis des Judentums erprobt werden konnte.

Dass dabei insbesondere die christliche Lehre des Judentums im Mittelpunkt stand und kaum die Frage nach dem jüdischen Verständnis des Christentums gestellt wurde, lag nicht nur an der nach 1945 empfundenen Dringlichkeit in Bezug auf die Überwindung des kirchlichen Antijudaismus. Es wurde auch mit der häufig zitierten These der „Asymmetrie“ in den Beziehungen zwischen Christen und Juden begründet. Die auf Zwi Werblowski zurückgehende These besagt: „Die christliche Kirche muss sich notwendigerweise mit dem Judentum als mit einem bzw. dem wesentlichen Teil der eigenen Ursprungsgeschichte beschäftigen, in welcher Form und mit welcher Tendenz auch immer. Eine entsprechende Nötigung besteht für das Judentum nicht. Es begegnet dem Christentum als ‚Umwelt’, nicht aber als notwendiges Element der eigenen Selbstreflektion. Die theologischen Fragen des Verhältnisses zum Christentum entstehen demgemäß erst in der Begegnung.“ (10)

Die Geschichte des christlich-jüdischen Dialogs in den vergangenen 60 Jahren zeigt, dass die aus der These der Asymmetrie sich ergebende Aufgabe einer sachgemäßen Wahrnehmung des Judentums weltweit in vielen Kirchen in Angriff genommen wurde, mit weitreichenden Änderungen in kirchlicher Lehre und Praxis. Zugleich aber führte der Dialog selbst über die Asymmetrie hinaus zu neuen Schwerpunkten, in denen komplementäre Aspekte in den Beziehungen zwischen Juden und Christen in den Vordergrund gestellt wurden (s.u.: 6. u. 7.).

In Deutschland gingen dafür entscheidende Impulse von der „Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag aus, die in einer bemerkenswerten Entscheidung zum ersten Mal in einem kirchlichen Gremium die gleichberechtigte Mitarbeit von Juden und Christen praktizierte. Die Erklärung der Arbeitsgemeinschaft von 1961 mit der These, „dass Juden und Christen gemeinsam aus der Treue Gottes leben“ zielt auf eine neue theologisch begründete Verortung der Kirche neben dem in seinem Selbstverständnis anerkannten jüdischen Volk (11).

  1. Nostra Aetate  - Das Zweite Vatikanische Konzil setzt den Dialog auf die Tagesordnung der Welt

 

Ohne Zweifel ist das Konzilsdokument Nostra Aetate von 1965 ein wesentlicher Durchbruch in den Bemühungen um ein neues Verhältnis zwischen Christen und Juden (12). Jules Isaac, der bereits entscheidend zur Entstehung der Seelisberger Thesen beigetragen hatte (s.o.: 1.), erhielt nach langen Bemühungen im Vorfeld des Konzils eine Audienz bei Papst Johannes XXIII. Der Primas der katholischen Kirche hatte 1959 mit der Aufsehen erregenden Streichung des Wortes „perfid“ („treulos“)  im katholischen Karfreitagsgebet die Hoffnung auf weitere Schritte der Annäherung an das Judentum genährt. Bei der Audienz übergab Jules Isaac dem Papst ein Dossier, in dem auf der Linie der Seelisberger Thesen eine Richtigstellung falscher und ungerechter Aussagen über das Judentum in der christlichen Lehre enthalten war. Johannes XXIII beauftragte den deutschen Kurienkardinal Augustin Bea mit der Klärung der anstehenden Fragen zum katholisch-jüdischen Verhältnis, der dafür dann die erste Kontaktaufnahme überhaupt zwischen dem Vatikan und dem jüdischen Weltkongress initiierte. Dessen Präsident Nahum Goldmann signalisierte nach Abstimmung mit Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik, der damals höchsten Autorität der jüdischen Orthodoxie, die Bereitschaft, eine Stellungnahme zu Problemen in den christlich-jüdischen Beziehungen aus jüdischer Sicht zu übergeben (13). Die Konzilsberatungen fanden so erstmals auch im Hören auf jüdische Stimmen statt.

In der Konzilserklärung (14) lässt sich der Übergang von der klassischen exklusiven Haltung des Vatikan (kein Heil außerhalb der – katholischen – Kirche) zu einer inklusiven Theologie erkennen. Dabei werden Wahrheiten und Erfahrungen des Heiligen auch in anderen Religionen anerkannt, die „Fülle des religiösen Lebens“ allerdings für die durch Christus vermittelte Offenbarung Gottes reserviert. Christian M. Rutishauser erkennt in der Konzilserklärung einen „offenen und selbstkritischen Inklusivismus“ (15). Bei allem Gefälle in Richtung des christlichen Glaubens bemüht sich das Konzil, das Selbstverständnis anderer Glaubensweisen so weit wie möglich in die eigenen Reflektionen einzubeziehen.

In Bezug auf das Judentum nimmt „Nostra Aetate“ zentrale Themen des christlich-jüdischen Dialogs auf, insbesondere die Fortdauer des Sinai-Bundes als konstitutives Element des jüdischen Glaubens. Ebenfalls finden sich wesentliche Inhalte der Seelisberger Thesen von 1947 wieder: der Ursprung der Kirche im Judentum, die Ablehnung des „Gottesmord“ Vorwurfs in der Interpretation der Passion Jesu sowie die Verwerfung des Antisemitismus.

Mit der Erklärung „Nostra Aetae“ und nachfolgenden vatikanischen Stellungnahmen zum Judentum wurden die Bemühungen um Erneuerung der christlich-jüdischen Beziehungen international zu einem Kernthema der Kirchen. Themen und Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs waren nun offiziell als Aufgabenfeld der Kirchen etabliert. Die Impulse von „Nostra Aetate“ und entsprechende weitere Erklärungen des Vatikans wirkten und wirken bis heute als fruchtbare Herausforderung hinein auch in viele nichtkatholische Kirchen und ökumenische Diskussionen.

  1. Der Ökumenische Rat der Kirchen - die Globalisierung des Dialogs

 

Zeitgleich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gewannen im Ökumenischen Rat der Kirchen die Fragen zum Verhältnis zwischen Kirche und Judentum an Gewicht. Bereits 1961 hatte die dritte Vollversammlung des ÖRK erneut die Unvereinbarkeit des christlichen Glaubens mit dem Antisemitismus bekräftigt, an die Entstehung des christlichen Glaubens im Judentum erinnert und bzgl. der Passion eine jüdische Kollektivschuld („Gottesmord“) abgelehnt. Die ÖRK-Kommission Glaube und Kirchenverfassung nahm 1967 in Bristol einen Bericht über „Die Kirche und das jüdische Volk“ (16) entgegen, der sich darum bemüht, Wege zu einer neuen Standortbestimmung der Kirchen gegenüber dem Judentum zu eröffnen, zu einem neuen Missionsverständnis zu gelangen und für die christliche Unterweisung die Überwindung der Kollektivschuldthese in der Wahrnehmung jüdischer Verantwortung am Tode Jesu zu fordern. Dabei werden bestehende Differenzen nicht verschwiegen. In einem offenen Dissens wird die These der bleibenden Erwählung Israels neben die traditionelle kirchliche Substitutionstheorie gestellt und damit einer der zentralen Konfliktpunkte der innerkirchlichen Debatte benannt.

Die Diskussion über diese Fragen wurde auch unter den Mitgliedskirchen des ÖRK und insbesondere in der ÖRK-Konsultation „Kirche und jüdisches Volk“ weitergeführt, die dann  1988 in Sigtuna (Schweden) die Ergebnisse ihrer Beratungen in der Erklärung „Unterwegs zu einem neuen Verständnis“ (17) zusammenfasste. In dieser im August 1992 vom Zentralausschuss des ÖRK übernommenen Erklärung (18) wird als Grundlage für den christlich-jüdischen Dialog festgehalten:  die bleibende Erwählung Israels, die besonderen Beziehungen zwischen Christen und Juden, die Verwerfung des Antisemitismus, die Ablehnung jeglichen Proselytismus und das Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung als gemeinsame Aufgabe von Christen und Juden. Dazu betont der ÖRK 1992 insbesondere das Engagement für Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten als „wichtige Komponente unserer Mitwirkung im Dialog zwischen Christen und Juden“ (19).

Diese Erklärungen von 1988 und 1992 überwinden frühere Ambivalenzen, sie lassen antijüdischen Traditionen hinter sich und entwickeln die Vorstellung gemeinsamer Aufgaben für Christen und Juden, als „Partner Gottes“ angesichts gegenwärtiger ethischer Herausforderungen.

Während so wichtige Impulse für die ÖRK Mitgliedskirchen gegeben wurden, zeigt sich zugleich eine Tendenz, den spezifischen Dialog mit dem Judentum trotz der These von den „besonderen Beziehungen“ zwischen Juden und Christen (ÖRK 1948, s.o.: 2.) immer stärker in das Programm des allgemeinen interreligiösen Dialogs einzubinden. Zwar ist diese Einbindung zunächst eine begründete Weiterentwicklung des bisherigen Dialogs, denn – so möchte ich in Abwandlung eines bekannten Zitats von Abraham Heschel formulieren – auch der christlich-jüdische Dialog ist „keine Insel“ (20). Christen und Juden sind je für sich und im gemeinsamen Gespräch herausgefordert, sich mit der multireligiösen Gegenwart der globalisierten Welt auseinanderzusetzen. Insbesondere der Dialog mit dem Islam sollte dabei hohe Priorität gewinnen.

Dennoch gibt es spezifische Themen in der bilateralen Beziehung der Kirchen zum Judentum, die eigens zu bearbeiten sind. Welche theologischen Konsequenzen ergeben sich z.B. aus der These der „bleibenden Erwählung des Volkes Israels“ für die Ekklesiologie? Welche Einsichten in das Verständnis biblischer Schriften gewinnen wir im Gespräch mit jüdischen Exegeten? Es sieht nun allerdings so aus, als wenn die besonderen Themen der christlich-jüdischen Beziehungen im ÖRK nach 1992 an Gewicht verloren haben. Bis heute hat noch keine Vollversammlung des ÖRK die neuen theologischen Einsichten über die Beziehungen der Kirchen zum jüdischen Volk zum Thema gemacht. Einen vergleichbaren umfassenden Impuls wie „Nostra Aetate“ für die katholische Kirche hat es bisher im Ökumenischen Rat der Kirchen für seine Mitgliedskirchen nicht gegeben.

Gleichwohl versucht insbesondere die ÖRK-Abteilung für „Interreligiösen Dialog“ und auch hin und wieder das ÖRK-Beratungsgremium „Glaube und Kirchenverfassung“ Themen aus dem christlich-jüdischen Dialog in die Programmarbeit aufzunehmen. Und – wie schon bei der Gründung 1948 – haben die Bemühungen um Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten einen unverändert hohen Stellenwert im ÖRK. In Umsetzung des Ziels, die Vielfalt der ökumenischen Bewegung in den christlich-jüdischen Dialog einzubeziehen und diesen Dialog über seine bisherige Beheimatung im „Westen“ hinauszuführen, hat der ÖRK inzwischen auch Dialog-Konferenzen mit Christen und Juden in Asien und Afrika durchgeführt und damit solche Kirchen einbezogen, denen eine Verständigung mit dem Judentum bisher fern lag. Eine breitere Verankerung neuer Einsichten über den jüdischen Glauben kann nur gelingen, wenn diese „Globalisierung“ des christlich-jüdischen Dialogs weiter verfolgt wird.

Es zeigt sich ja unter den ÖRK-Mitgliedskirchen weltweit ein wachsendes Empfinden für die Notwendigkeit, ihre jeweilige Beziehung zum Judentum auf eine neue Grundlage zu stellen. Entsprechende Erklärungen sowie Zusätze und Änderungen in Kirchenverfassungen sind in den beiden Dokumentenbänden „Die Kirchen und Judentum“ (21) aufgeführt. Neben den „westlichen“ Kirchen sind dabei vermehrt auch Stimmen aus den orthodoxen Kirchen zu vernehmen (22).

 

Für den deutschen Protestantismus wurden dabei die drei Studien der Evangelischen Kirche in Deutschland „Christen und Juden I – III“ von 1975, 1991 und 2000 wegweisend (23).

In seiner Sichtung von Erklärungen zum christlich-jüdischen Verhältnis im Raum der Katholischen Kirche und des ÖRK hat Martin Stöhr einen sich hier abzeichnenden Konsens von „Neuerkenntnissen“ beschrieben:

  1. „Die Absage an jede Form von Judenfeindschaft

  2. das Eingeständnis der Schuld an der Ermordung des europäischen Judentums und der Haftung für diesen Völkermord-

  3. die einzigartige Zusammengehörigkeit von Juden und Christen aufgrund des Glaubens an ein und denselben Gott, aufgrund des Bezugs auf ein gemeinsames Fundament in der Hebräischen Bibel, aufgrund des Auftrags Gottes an sein Volk Israel und seine Kirche, Zeugen in der Welt für Gerechtigkeit, Menschenwürde, Frieden, Liebe und Wahrheit zu sein, sowie aufgrund der gemeinsamen Hoffnung auf Gottes Schöpfung eines Neuen Himmels und einer Neuen Erde,

  4. die bleibende Erwählung Israels durch den Einen Gott,

  5. die Bedeutung des Landes Israel für das jüdische Volk“ (24) – der allerdings am stärksten umstrittene und insbesondere unter den östlichen Mitgliedskirchen des ÖRK am wenigsten konsensfähige Punkt.

 

60 Jahre nach der Konferenz von Seelisberg kann festgehalten werden: es ist eine tiefgreifende Wende in den Beziehungen der Kirchen zum Judentum eingetreten. Sie ist allerdings noch nicht in der Mehrheit der Gemeinden aufgenommen und auch nicht in der theologischen Forschung und Lehre vieler Hochschulen und kirchlicher Ausbildungsstätten. So bleibt es auch irritierend, dass in dem Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland „Der christliche Glaube und die nichtchristlichen Religionen“ (2003) in den Formulierungen über die jüdische Religion die bisherigen Erkenntnisse der eigenen o.a. Studien „Christen und Juden I – III“ nicht fruchtbar gemacht werden und schlichtweg unerwähnt bleiben (25).

Die theologischen Konsequenzen einer Neubesinnung des Verhältnisses zum Judentum bleiben eine der entscheidenden Herausforderungen der Kirchen auf ihrem Weg in die Zukunft in der „globalisierten“ Welt. Dabei wird darauf zu achten sein, dass die Inhalte der kirchlichen Dokumente, die sich direkt zu den christlich-jüdischen Beziehungen äußern, auch in die weiteren Diskurse einfließen.

  1. Christliche und jüdische Theologie – Auf dem Weg zur Komplementarität

 

Trotz dieser nüchternen Bestandsaufnahme ist daran zu erinnern, dass spätestens seit den 70er Jahren Themen der christlich-jüdischen Beziehungen durchaus als Gegenstand theologischer Forschung und Lehre aufgenommen wurden. Für den deutschsprachigen Bereich sind hier vor allem die bahnbrechenden Arbeiten zu nennen von: Helmut Gollwitzer, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Johann Baptist Metz, Franz Mußner, Peter von der Osten-Sacken, Rolf Rendtorff, Clemens Thoma, aber auch die weiterführende Impulse von: Jürgen Ebach, Hubert Frankemölle, Hans Hermann Henrix, Wolfgang Kraus, Ekkehard Stegemann, Wolfgang Stegemann, Martin Stöhr, Klaus Wengst und Erich Zenger.

In den Werken dieser Autoren geht es um mehr als eine christliche Anerkennung des Judentums als eigenständige und zu respektierende Glaubensgemeinschaft. Sie fragen danach, was sich aus der Begegnung mit Juden für die Exegese, für die Reflektion dogmatischer Topoi sowie für den ethischen Diskurs gewinnen lässt.

Ähnlich wie bereits bei dem anglikanischen Theologen Paul van Buren (USA) werden dabei Motive jüdischer diskursiver Prozesstheologie für die christlich-theologische Debatte fruchtbar gemacht. Kirche ist danach - gerade auch in ihrem Verhältnis zum Judentum - auf „einem Weg“ (van Buren). Eine Hoffnung, die sich mit diesem Weg verbindet, wäre nach van Buren, „dass die Zeit kommen wird, in der wir uns, jüdisches Volk und Kirche, einander so nah sind, dass jeder den anderen sehen kann und auch sieht, dass beide im Grunde genommen in dieselbe Richtung gehen und dass der Diskurs eines jeden dem anderen verständlich und richtig erscheinen sollte.“ (26).

Über die Asymmetrie hinausgehend, die in der ersten Phase des christlich-jüdischen Dialogs im Vordergrund stand, wird hier der Weg zu einer komplementären Beziehung zwischen Christen und Juden gesucht. Die Anerkennung der „bleibenden Erwählung Israels“ lässt danach fragen, inwiefern jüdische Einsichten für Christen theologisch bedeutsam sein können. Und dies ist – wie wir weiter unten sehen werden - keine Einbahnstrasse, da auch von jüdischer Seite unter der Voraussetzung, dass die Entstehung der christlichen Kirche für Juden theologisch von Bedeutung ist, danach gefragt wird, was von den Christen gelernt werden kann.

Im Prozess dieser wachsenden Komplementarität ist vor allem in den USA eine jüdisch-christliche Forschergemeinde entstanden, die auch die Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses neu aufarbeitet. Eine Anzahl von Hochschulinstituten, die die sich spezifisch mit Fragen der jüdisch-christlichen Beziehungen beschäftigen, hat sich zu dem Netzwerk  „Council of Centers on Jewish-Christian Relations“ (27) zusammengeschlossen.

In diesem Netzwerk wurden u.a. neue Modelle für das „Auseinandergehen der Wege“ von Juden und Christen vorgestellt. Neben der Beschreibung vom Judentum als „Mutter“ des christlichen Glaubens, wird nun stärker ein „Geschwister-Modell“ betont, wonach das rabbinische Judentum genauso wie das Christentum dem antiken Judentum des Zweiten Tempels entsprang (28).

 

In der Weiterentwicklung dieses zweifachen Erbes des jüdischen Glaubens der Antike hätten sich diese beiden neu entstandenen Gemeinschaften erheblich stärker gegenseitig beeinflusst als bisher angenommen. Der jüdische Historiker Marc Saperstein kann anhand neu gesichteter Dokumente zeigen, dass es selbst im Mittelalter, in den Zeiten der Verfolgung des Judentums durch die Kirche, zu offenen Begegnungen zwischen Juden und Christen kam, die bei beiden Seiten Spuren hinterließen: „In der Tat, jede Seite war in der Lage vom anderen zu lernen und den anderen nicht nur als einen gefährlichen oder dämonischen Gegner hinzustellen, sondern als eine kreative Herausforderung für ein ethisches und religiöses Leben“. (29)

  1. Weitere Reaktionen von jüdischer Seite

 

In der Erklärung mit dem komplexen Titel „Juden und Christen auf der Suche nach einer gemeinsamen religiösen Basis für einen Beitrag zu einer bessere Welt“ (30) versuchen jüdische Mitglieder einer Theologiekommission des Internationalen Rates der Christen und Juden 1993 eine theologische Würdigung des Christentums aus jüdischer Sicht vorzulegen. Sie erinnern daran, dass jüdische Gelehrte wie Maimonides und Rabbi Menachem Ha-Meiri dem Christentum nicht nur eine positive Rolle in der göttlichen Heilsgeschichte zuordnen, sondern auch - wie bei Rabbi Moshe Rivkis - das Judentum aufgrund des gemeinsamen religiösen Erbes in der Hebräischen Bibel in eine unvergleichbare Beziehung mit der christlichen Gemeinschaft gestellt sehen.

Auch an Martin Buber ist in diesem Zusammenhang zu erinnern, der in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts sein „dialogisches Prinzip“ auf die Begegnung mit dem Christentum anwandte und 1933 in einem Gespräch mit dem evangelischen Theologen Karl-Ludwig Schmidt formulierte: “Kein Mensch außerhalb von Israel weiß um das Geheimnis Israels. Und kein Mensch außerhalb der Christenheit weiß um das Geheimnis der Christenheit. Aber nichtwissend können sie einander im Geheimnis anerkennen. Wie es möglich ist, dass es die Geheimnisse nebeneinander gibt, das ist Gottes Geheimnis. Wie es möglich ist, dass es eine Welt gibt als Haus, in dem diese Geheimnisse mitsammen wohnen, ist Gottes Sache, denn die Welt ist ein Haus Gottes. Nicht indem wir uns jeder um seine Glaubenswirklichkeit drücken, nicht indem wir trotz der Verschiedenheit ein Miteinander erschleichen wollen, wohl aber indem wir unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in rückhaltlosem Vertrauen einander mitteilen, was wir wissen von der Einheit dieses Hauses, von dem wir hoffen, dass wir uns einst ohne Scheidewände umgeben fühlen werden von seiner Einheit, dienen wir getrennt und doch miteinander, bis wir einst vereint werden in dem einen gemeinsamen Dienst, bis wir alle werden, wie es in dem jüdischen Gebet am Fest des Neuen Jahres heißt: ‚Ein einziger Bund, um seinen Willen zu tun‘... Der Christ braucht nicht durchs Judentum, der Jude nicht durchs Christentum zu gehen, um zu Gott zu kommen”.  (31)

Letztlich war es eine Wiederaufnahme dieser Gedanken als im Jahre 2000 eine Gruppe amerikanisch-jüdischer Gelehrter in der „New York Times“ die viel beachtete Erklärung „Dabru Emet“ (Redet Wahrheit) veröffentlichte. Insbesondere im 6. Abschnitt von „Dabru Emet“ ist die Nähe zum Denken Martin Bubers unverkennbar:

„Christen kennen Gott und dienen ihm durch Jesus Christus und die christliche Tradition. Juden kennen und dienen Gott durch die Tora und die jüdische Tradition. Dieser Unterschied wird weder dadurch aufgelöst, dass eine der Gemeinschaften darauf besteht, die Schrift zutreffender auszulegen als die andere, noch dadurch, dass eine Gemeinschaft politische Macht über die andere ausübt. So wie Juden die Treue der Christen gegenüber ihrer Offenbarung anerkennen, so erwarten auch wir von Christen, dass sie unsere Treue unserer Offenbarung gegenüber respektieren. Weder Jude noch Christ sollten dazu genötigt werden, die Lehre der jeweils anderen Gemeinschaft anzunehmen“ (32).

Das Besondere an „Dabru Emet“ ist, dass die in dieser Erklärung dokumentierte Anerkennung des christlichen Glaubens als die für Christen legitime Gottesbeziehung mitsamt dem folgenden Aufruf zu jüdisch-christlicher Kooperation in ethischen und sozialen Fragen inzwischen von über 300 Rabbinerinnen und Rabbiner, weiteren jüdischen Intellektuellen und Vertretern jüdischer Gemeinden weltweit unterzeichnet wurde. So wird deutlich, wie weit sich die jüdische Gemeinschaft – trotz der Verfolgungen in der Vergangenheit - inzwischen auf den Weg des Dialogs und der Begegnung mit dem Christentum eingelassen hat und den christlich-jüdischen Dialog mit entscheidenden Beiträgen auf dem Weg zur Komplementarität voranbringt.

Wichtige Impulse für diesen Weg kommen auch von einem der wichtigsten Vertreter des Judentums im Dialog mit Christen und anderen Religionen: Rabbiner David Rosen, dem Vorsitzenden des „Internationalen jüdischen Komitees für Interreligiöse Gespräche“ (International Jewish Committee on Interreligious Consultations, IJCIC).

Unter Verweis auf Rabbiner Jacob Emden, seiner Meinung nach der „kühnste“ der „vormodernen, orthodoxen, rabbinischen Theologen“, der das Christentum als „eine Gemeinschaft um des Himmels Willen von bleibender Gültigkeit“ beschrieb und ihm damit einen „eigenen heilsrelevanten Charakter zuerkennt“, (33) betont David Rosen, dass Juden und Christen einander eine theologische Bedeutung zuerkennen und also voneinander lernen können. In dieser Sicht nehmen Judentum und Christentum eine komplementäre Rolle ein, insofern sie von den Erfahrungen und Schwerpunkten der jeweils anderen Seite für die Weiterentwicklung der eigenen Glaubensweise profitieren können.

Als ein Beispiel solchen komplementären Lernens benennt Rosen, dass „der jüdische Schwerpunkt im gemeinschaftlichen Bund mit Gott und der christliche Schwerpunkt auf der individuellen Beziehung zu Gott liegt und diese beiden Schwerpunkte sich gegenseitig im Gleichgewicht halten“. Ein weiteres Themenfeld wäre, „dass die Christen der jüdischen Erinnerung bedürfen, dass das Königreich Gottes noch nicht vollständig erreicht ist, während die Juden der christlichen Überzeugung bedürfen, dass dieses Königreich in mancherlei Hinsicht im Hier und Jetzt sich bereits verwurzelt hat“. Außerdem ließe sich das Judentum „als eine stete Warnung an das Christentum vor den Gefahren des Triumphalismus“ beschreiben, „während der universalistische Charakter des Christentums eine wesentliche Rolle spielen kann, das Judentum vor einer Degeneration zu einem insularen Isolationismus zu bewahren“ (34).

Hier zeigt sich eine neue Qualität im christlich-jüdischen Dialog. Trotz der schweren Belastungen der Vergangenheit, wird der Versuch unternommen, das gemeinsame Gespräch  auf gleicher Augenhöhe zu führen. Die Ebene eines „gegenseitigen Inklusivismus“ (35) ist erreicht: Christen und Juden können einander von ihren jeweils eigenen Voraussetzungen her theologisch anerkennen. Dies kann festgehalten werden, ohne zu verkennen, dass solche Anerkennung bisher nicht in allen Kirchen und jüdischen Gemeinden konsensfähig ist, teilweise nur von Einzelpersonen vertreten wird und vor Irritationen, wie oben unter 5. und unten unter 8. beschrieben, nicht gefeit ist.

Die Tür ist gleichwohl geöffnet für das gegenseitige Entdecken dessen, was aus den Erfahrungen und Einsichten des anderen den eigenen Blickwinkel zu erweitern und das eigene religiöse Leben zu bereichern vermag. Der christlich-jüdische Dialog hat trotz aller Hindernisse noch eine vielversprechende Zukunft vor sich.

  1. Neue Qualität, unerledigte Aufgaben und neue Irritationen

 

Zugleich mit der Entwicklung zu dieser neuen Phase des Dialogs aber sind Defizite und neue Irritationen erkennbar, die deutlich machen, dass die Einsichten des christlich-jüdischen Gesprächs in zentralen kirchlichen Debatten und Stellungnahmen unberücksichtigt bleiben.

Das Beratungsgremium „Glaube und Kirchenverfassung“ des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 2005 das vorläufig letzte Ergebnis seiner Ekklesiologie-Studie „Wesen und Auftrag der Kirche“ vorgestellt. Trotz etlicher Rückmeldungen aus den Mitgliedskirchen, das Selbstverständnis der Kirche im Lichte der neugewonnen Einsichten in die besondere Beziehung zum Judentum zu reflektieren, wird nur der Satz aufgenommen, dass „die Kirche „auf geheimnisvolle Weise mit dem jüdischen Volk verbunden“ sei, „so wie ein Zweig in den Ölbaum eingepfropft worden ist und teilhat an seiner Wurzel (cf. Röm 11,11- 36)“. (36) Die hierzu gehörenden 1988 in Sigtuna und 1992 vom ÖRK Zentralausschuss anerkannten Einsichten hinsichtlich der Beziehungen zum Judentum bleiben trotz der Aufnahme biblischer Bundestheologie unerwähnt (37).  Es ist offenbar bisher nicht gelungen, die höchst komplexe Diskussionslage zwischen den ÖRK-Mitgliedskirchen über das Selbstverständnis der Kirche mit den vorliegenden Erkenntnissen zum christlich-jüdischen Verhältnis fundamental zu verbinden. Die bereits 1988 von Allan Brockway angemahnte Debatte über die ekklesiologischen Konsequenzen der These von der „bleibenden Erwählung Israel “ (38) – wie sie u.a. von der Gemeinschaft reformatorischer Kirchen in Europa umfangreich durchgeführt wurde (39) - steht auf der Ebene des Ökumenischen Rates der Kirchen noch aus.

In den katholisch-jüdischen Beziehungen muss die von Papst Benedikt XVI. 2008 eingeführte neue Karfreitagsbitte für die in 2007 durch das päpstliche Motu proprio „Summorum pontificium“ wiederzugelassene lateinische Messe in der katholischen Kirche als ein Rückfall hinter den erreichten Stand des Dialogs angesehen werden. Der im „ordentlichen“ Ritus vorhandene Hinweis auf den „Bund“ und damit auf die eigenständige jüdische Gottesbeziehung entfällt in der lateinischen Form und mit der Bitte auf „Erleuchtung“ der Juden wird das Judentum als eine defizitäre Religion vorgestellt (40). Diese Entwicklung bestärkt die Skeptiker auf der jüdischen Seite, die nicht davon überzeugt sind, dass die letzten 60 Jahre eine echte und tiefgreifende Wende in den Beziehungen zwischen den Kirchen und den der jüdischen Gemeinschaft hervorgebracht haben. In Jahrzehnten aufrechter Bemühungen um die Verbesserung des katholisch-jüdischen Verhältnisses, zu denen insbesondere Papst Johannes Pauls II. erheblich beigetragen hat, wurde u.a. in dem vatikanischen Dokument „Wir erinnern: Ein Reflektion über die Schoa“ 1998 formuliert: „Wir beten, dass unsere Trauer um die Tragödie, die das jüdische Volk in unserem Jahrhundert erlitten hat, zu einer neuen Beziehung zum jüdischen Volk führen wird. Wir wünschen, dass sich das Wissen um vergangene Sünden in einen festen Entschluss umwandelt, eine neue Zukunft zu bauen, in der es keinen Antijudaismus unter Christen oder kein antichristliches Ressentiment unter Juden mehr geben wird, sondern vielmehr eine gegenseitige Achtung, wie sie jenen zukommt, die den einen Schöpfer und Herrn anbeten und einen gemeinsamen Vater im Glauben haben, Abraham“. Es ist nicht einzusehen, warum eine Karfreitagsbitte für die Juden auch in der lateinischen Messe nicht den Geist dieser hier erwünschten und erbetenen gegenseitigen Achtung widerspiegeln sollte. Die entstandene Irritation wird sich auf Dauer nur durch eine Revision der neu eingeführten Karfreitagsbitte überwinden lassen.

  1. Schluss

 

Was in 60 Jahren im christlich-jüdischen Dialog erreicht werden konnte, ist in hohem Maße erstaunlich und trägt die Züge einer echten Reformation. In Anbetracht der Fülle unerledigter Aufgaben stehen die Bemühungen um die Erneuerung der Beziehungen zwischen Christen und Juden gleichzeitig vor erheblichen Herausforderungen. Dass aber trotz Widerstände, Irritationen und Skepsis der christlich-jüdische Dialog sich kontinuierlich hat weiterentwickeln können, lässt nicht nur hoffen. Wir dürfen mit Interesse verfolgen, was Christen und Juden auf der erreichten Ebene der gegenseitigen Wahrnehmung in komplementären Rollen voneinander lernen und neu entdecken können – und wir sind eingeladen, uns dabei engagiert zu beteiligen!

Anmerkungen:

  1. Text in: R. Rendtorff, H. Henrix, Die Kirchen und das Judentum, Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn1989 (2. Aufl.), S. 646f

  2. ebd., S. 325 – 329

  3. D. Bonhoeffer, Ethik, herausgegeben von E. Bethge, München, 1975, S. 95

  4. William W. Simpson, Ruth Weyl, The Story of the International Council of Christians and Jews, Heppenheim 1988, S. 29ff

  5. ebd., S. 30

  6. Ein besonders hartnäckiges Beispiel der Fortschreibung eines traditionellen kirchlichen Antijudaismus stellt das „Wort zur Judenfrage“ des Bruderrates der Ev. Kirche in Deutschland vom 8. April 1948 dar. In diesem sog. “Darmstädter Wort” vermag der Bruderrat in Anbetracht des Holocaust offenbar ohne jede Erschütterung die traditionelle These der Ablösung des Judentums durch die Kirche (Substitutionstheorie) zu wiederholen. Text in: s. Anm. 1, S. 540 - 544

  7. zit. in: s. Anm.1., S. 549

  8. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. II,2, § 34, Zollikon, Zürich 1942

  9. vgl. W. Simpson, Anm. 4, S. 31

  10. R. Rendtorff und H. Henrix, in: s. Anm. 1, S 625

  11. Text in: s. Anm. 1, S. 553f

  12. Friedhelm Pieper, Den Dialog auf die Tagesordnung der Welt gesetzt. Zur Bedeutung von „Nostra Aetate“, in: Materialdienst 01/2006, Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau, Heppenheim

  13. ebd.

  14. Text in: s. Anm. 1, S. 39 – 44

  15. zit. in: F. Pieper, s. Anm. 12.

  16. Text in: s. Anm. 1, S. 350 – 363

  17. Text in: H. Henrix, W. Kraus, Die Kirchen und das Judentum, Bd. II, Dokumente von 1986 bis 2000, Paderborn, München 2001, S. 442 – 447

  18. Der christlich-jüdische Dialog nach Canberra ’91‚ Text in: s. Anm. 17, S. 452 – 456

  19. ebd., S. 456

  20. A. Heschel: “No Religion is an island”, dt. unter dem Titel: „Keine Religion ist ein Eiland“, F. Rothschild (Hg.), Christentum aus jüdischer Sicht, 2. Aufl., Berlin 2000, S. 324ff

  21. Bd. I, s. Anm. 1, Bd. II, s. Anm. 17

  22. vgl. die Rede des Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Aleksij II, 1991 vor amerikanischen Rabbinern, zit. in: s. Anm. 17, S. 495 – 498; Th. Kratzert, Wir sind wie die Juden…, Der griechisch-orthodoxe Beitrag zu einem ökumenischen jüdisch-christlichen Dialog, Berlin 1994; Orthodox Christians and Jews on Continuity and Renewal: Immanuel 26 – 27, Jerusalem1994

  23. Texte in: s. Anm. 1., S. 558ff, s. Anm. 17, S. 627ff u. ebd. S. 862ff

  24. M. Stöhr, Schritte zur Erneuerung der Beziehungen von Juden und Christen in evangelischer Sicht, in: H. Frankemölle (Hg.), Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend, Paderborn, Frankfurt 2000, S. 76 v

  25. vgl. F. Pieper, Hilfreich und problematisch zugleich, Zum EKD-Papier „Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen“, in: Materialdienst 11/03, Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen, Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Hannover 2003

  26. Paul van Buren, Eine Theologie des christlich-jüdischen Diskurses, München 1988, S. 76

  27. vgl. den Internetauftritt des „Council of Centers on Jewish-Christian Relations“: http://www.bc.edu/research/cjl/meta-elements/sites/partners/ccjr/Intro.htm )

  28. vgl. J. Pawlikowski, Neue Denkansätze für das Verhältnis von Christen und Juden, 2002, http://www.jcrelations.net/de/?item=857

  29.  Marc Saperstein, Jews Facing Christians: The Burdens and Blinders from the Past, in: James K. Aitken, Edward Kessler (Hg.), Challenges in Jewish-Christian Relations, New York, 2006, S. 30, Übersetzung FP

  30. Text in: s. Anm. 17, S. 1004 – 1011

  31. zit. in: Peter von der Osten-Sacken, Begegnung im Widerspruch, in: Leben als Begegnung, Ein Jahrhundert Martin Buber (1878-1978), Institut Kirche und Judentemu, Heft 7, Berlin 1987, S. 129

  32. zit. in: s. Anm. 17, S. 975f

  33. David Rosen, Voneinander lernen – Gedanken aus jüdischer Sicht, 2003, dt. in: http://www.jcrelations.net/de/?item=2850

  34. ebd.

  35. vgl. den Begriff „mutualer Inklusivismus“ von R. Bernhardt, in : ders., Ende des Dialogs. Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion (Beiträge zu einer Theologie der Religionen; 2). – Zürich, 2005

  36. Wesen und Auftrag der Kirche, Ein Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Auffassung, I. A. ii. (a) “Die Kirche als Volk Gottes”, Englische Originalfassung: The Nature and Mission of the Church. Faith and Order Paper No. 198. World Council of Churches, Geneva 2005.

  37. ebd.

  38. The Theology of the Churches and the Jewish People, Statements by The Wold Council of Churches and its member churches, With a commentary by Allan Brockway, Paul von Buren, Rolf Rendtorff, Simon Schoon Genf, 1988, S. 184

  39. Kirche und Israel, Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden, Leuenberger Texte, Heft 6, Frankfurt 2001

  40. Text der betreffenden Bitte: „Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott unser Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen. Lasset uns beten. Beuget die Knie. Erhebet euch. Allmächtiger ewiger Gott, der Du willst, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Gewähre gnädig, dass beim Eintritt der Fülle aller Völker in Deine Kirche ganz Israel gerettet wird. Durch Christus unseren Herrn. Amen“ – Verbindlicher lateinischer Text:  „Oremus et pro Iudaeis Ut Deus et Dominus noster illuminet corda eorum, ut agnoscant Iesum Christum salvatorem omnium hominum. Oremus. Flectamus genua. Levate. Omnipotens sempiterne Deus, qui vis ut omnes homines salvi fiant et ad agnitionem veritatis veniant, concede propitius, ut plenitudine gentium in Ecclesiam Tuam intrante omnis Israel salvus fiat. Per Christum Dominum nostrum. Amen.“ -- Quelle: Die Tagespost, in: http://www.die-tagespost.de/Archiv/titel_anzeige.asp?ID=37858

 

Friedhelm Pieper, Pfr. der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, 1998 bis 2004 Generalsekretär des Internationalen Rates der Chrisen und Juden.
Erstveröffentlichung in: Ökumenische Rundschau 2008, 57. Jg. Heft 4, S. 413f

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