Die Bibel Israels – Grundlage des christlich-jüdischen Dialogs
von Erich Zenger

Auch wenn die katholische Glaubwürdigkeit im christlich-jüdischen Dialog durch die jüngste römische Entscheidung gegenüber der antijüdischen Piusbruderschaft erschüttert erscheint, bleibe ich gerade als katholischer Theologe bei meiner Überzeugung: Die Kirchen sind um ihrer selbst willen zum christlich-jüdischen Dialog verpflichtet – und zwar vor allem wegen jenes Teils unserer Bibel, den wir Christen von den Juden als unseren älteren Schwestern und Brüdern übernommen haben. Vor dem Hintergrund der skandalösen Positionen der Traditionalisten möchte ich das Thema meines Vortrags noch zuspitzen: Gott selbst, der in der Bibel zu uns spricht, fordert von uns Christen den Dialog mit den Juden, der in dieser Hinsicht ein innerbiblischer Dialog ist und sich auf fundamentale Gemeinsamkeiten stützt. Dabei verstehe ich diesen Dialog nicht als bloß theoretischen oder fachwissenschaftlichen Diskurs, sondern als das ernsthafte und beharrliche Bemühen, das Christentum von seinem Ursprung her im Angesicht des lebendigen Judentums zu erneuern sowie das Judentum als gottgesegnete und gottgeleitete Lebensgestalt für Juden freudig zu bejahen, um so zu einem neuen Neben- und Miteinander von Christen und Juden zu finden. Die intensiven Reaktionen auf die genannte römische Entscheidung haben gezeigt: Das in den letzten Jahrzehnten erneuerte christlich-jüdische Verhältnis wird nicht mehr als Randfrage wahrgenommen, sondern betrifft sehr zentral die christliche Identität. Dass insbesondere auch die katholischen Bischöfe Deutschlands sich so eindeutig für das Festhalten an der einzigartigen Beziehung zwischen Christen und Juden ausgesprochen haben, halte ich für sehr wichtig. Und dass Papst Benedikt XVI. nun mehrfach, auch gegenüber Repräsentanten des Judentums, die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils über die bleibende theologische Würde des Judentums ausdrücklich bekräftigt hat, nehmen wir nicht nur dankbar an, sondern werten dies als Aufforderung, den christlich-jüdischen Dialog beharrlich und geduldig fortzusetzen. Mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, bleiben wir dabei: Im Verhältnis der Christen zu den Juden darf es keine Wende der Wende geben.

Ich gliedere meine Überlegungen in vier Schritte:

1. Die Bibel Israels – Basisurkunde jüdischer Existenz
2. Die Bibel Israels – grundlegender Teil der Bibel des Christentums
3. Auf der Suche nach einer neuen christlichen Bibellektüre
4. Konsequenzen für den christlich-jüdischen Dialog

 

1. Die Bibel Israels – Basisurkunde jüdischer Existenz

Die Bibel Israels erzählt und deutet die Ursprungsgeschichte Israels von den Anfängen bis hin zu der Zeit, in der diese Heiligen Schriften Israels zur normativen Urkunde für jüdische Identität wurden. Die Bezeichnung Bibel für diese Heiligen Schriften benennt die besondere Eigenart dieses Buches. Dem Wort Bibel liegt der Plural des griechischen Wortes biblíon »Buchrolle, Schriftstück, Brief« zugrunde. Die Bibel Israels ist in der Tat als eine Schriftrollensammlung, ein Buch aus Büchern, entstanden, die aber vielfältig untereinander und miteinander verbunden sind. Es gibt in der Antike keine vergleichbare Büchersammlung, die ihre Entstehung und ihren Abschluss dem Bemühen verdankt, die Identität eines Volkes im Erleben seiner wechselvollen Geschichte zu dokumentieren und theologisch zu reflektieren. An den einzelnen Teilen der Bibel Israels haben Generationen über Jahrhunderte hinweg mitgeschrieben. Deshalb charakterisieren wir die Bibel Israels als Traditions- und Fortschreibungsliteratur. Sie hat nicht nur eine äußere, sondern eine innere Einheit. Sie kreist um ein einziges Thema, das sie immer neu variiert: die für Israel als Volk konstitutive Beziehung zu seinem Gott. In der Bibel Israels geht es um Entstehung, Gegenwart und Zukunft der Zusammengehörigkeit von elohej jisrael und ‛am jisrael, von Gott Israels und Volk Israel – und zwar auf der Bühne der Weltgeschichte.

Insbesondere der erste Teil der Bibel Israels, die Tora des Mose, stellt dar, wie Israel sich von seinem Gott her versteht und wie es von ihm her seinen Lebensweg, seinen way of life, gestalten will. Nicht was irgendwann einmal geschah und nun vergangen ist, wird hier erzählt, sondern was Israel zutiefst bestimmt – für die jeweilige Gegenwart und für die Zukunft.

Die Tora des Mose stellt den Weg Israels in einen großen Rahmen. Die sog. Urgeschichte Gen 1–11, mit der die Tora beginnt, entwirft nicht nur die welt- und menschheitsgeschichtliche Bühne für die ab Gen 12 erzählte besondere Geschichte Israels. Hier erhält vielmehr der Gott Israels als Schöpfer von Himmel und Erde ein Gottesprofil, das deutlich macht, dass er als Gott Israels mehr als ein Nationalgott ist und dass seine Beziehung zu Israel Relevanz für die Welt als seine Schöpfung und für die Völker als die von ihm geschaffene Menschheit hat. In den Erzählungen über die Welt- und Menschenschöpfung sowie über den Bund Gottes mit Noach und allen Lebewesen verkündet die Bibel Israels zwei fundamentale Prinzipien des Zusammenlebens. Das ist zum einen die Gleichheit aller Menschen, d.h. die allen Menschen von Gott her zukommende Menschenwürde als Grundlage der allen zustehenden Menschenrechte. Und es ist zum anderen die im Noachbund von Gott proklamierte Unantastbarkeit und Heiligkeit des Lebens eines jeden Menschen.

Auf der so vom Schöpfergott gestalteten und geordneten Welt beginnt in der Sicht der Bibel Israels mit Abraham die Geschichte Israels. Hier wird das erste konstitutive Element der Existenz Israels sichtbar: die Erwählung, verbunden mit der Verheißung einer Generationenkette des Lebens bis ans Ende der Weltzeit. Gott erwählt sich aus der Menschheit einen Menschen bzw. eine Familie, um mit dieser – überspitzt formuliert – künftig seine eigene Gottesgeschichte zu gestalten. Israel erzählt keine Mythen über die Beziehungen von Göttern und Göttinnen untereinander, sondern definiert seinen Gott durch dessen Handeln an Menschen und in der Welt, insbesondere durch seine Beziehung zu Abraham und seinen Nachkommen. Die singuläre, mit Abraham beginnende Geschichte Gottes mit Israel, wird von der Bibel Israels nicht nur im Horizont der vorangehenden Urgeschichte, sondern explizit bei der Erwählung Abrahams programmatisch mit der Geschichte der Völker verknüpft. Die Völker sollen, wie Gen 12,1–3 betont, an dem Segen, den Abraham von Gott empfängt, Anteil erhalten. Ja es heißt noch pointierter: Gott selbst wird sein Verhalten gegenüber den Völkern vom Verhalten der Völker Israel gegenüber abhängig machen: »Segnen werde ich, die dich segnen, wer dich aber schmäht, den werde ich verfluchen« (Gen 12,2).

Mit der Erwählung Abrahams ist als zweites konstitutives Element der Existenz Israels von Beginn an die Zusage des Landes als Lebensraum und Lebensgrundlage Israels im Blick. Das Land erscheint im ersten Buch der Bibel allerdings als eine vielfach gefährdete Gottesgabe und schließlich verlassen Jakob und seine Kinder sogar das verheißene Land, um in der Fremde, in Ägypten, zu überleben. Aber in der Sicht der Bibel Israels ist diese katastrophische Situation der Ausgangspunkt für eine erneute und vertiefte Wiederholung der göttlichen Landzusage: Der Gott Israels proklamiert seine Entschlossenheit und seine Macht, Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten zu befreien und es vor der Vernichtung durch die tödliche Bedrohung zu retten, um Israel in das den Vätern verheißene Land zu führen. Die Bibel erzählt dann vom Weg Israels unter der Führung des Mose, unterstützt von seiner Schwester Mirjam und seinem Bruder Aaron, auf der Suche nach diesem Land. Es ist eine mühsame, schier endlose Wanderung durch die Wüste. Doch Israel bleibt, allen Gefährdungen zum Trotz, auf dem Weg zu dem fernen Ziel. Nach der biblischen Dramaturgie bricht die Erzählung ab, ehe Israel das Land erreicht. Nur Mose darf am Schluss des fünften Buchs der Tora das Land vom Berg Nebo aus sehen. Er betritt es gewissermaßen mit den Augen und mit dem Herzen, ehe er stirbt.

Den breitesten Raum nimmt in der Tora des Mose als drittes konstitutives Element der Existenz Israels die Rechts- und Lebensordnung ein, wodurch der Gott Israels als Gesetzgeber bzw. als Stifter einer Verfassung seines Volkes präsentiert wird. Die Proklamation des Zehnworts, der Zehn Gebote, am Berg Sinai durch Gott und die dann folgenden vielfältigen Rechtssatzungen und Alltagsregelungen unterstreichen, dass der Gott Israels, wie auch die Propheten Israels immer wieder betonen, sich dadurch von den Göttern der Völker unterscheidet, dass sich sein Gott-Sein vor allem im Einsatz für Recht und Gerechtigkeit erweist.

Diese drei Elemente, Verheißung einer gottgeleiteten Volksgeschichte, Zusage des Landes und Gabe des Gesetzes, werden in der Bibel Israels mit der geschichtstheologischen Kategorie des ewigen Bundes Gottes mit seinem Volk Israel zusammengefasst. Dieser Bund ist eine voraussetzungslose Selbstbindung Gottes und er ist unzerstörbar, weil er in Gott selbst gründet. Er ist Ausdruck einer einzigartigen Beziehung und der unverbrüchlichen Treue Gottes.

Für unsere Überlegungen ist entscheidend: Was in der fünfteiligen Tora des Mose über Israel gesagt wird, bestimmt Gegenwart und Zukunft des Judentums. Sie ist sein bleibendes Fundament und wird als solches tradiert, gefeiert, gelehrt und gelobt. Und als solches erhielt die schriftliche Tora des Mose eine autoritative Konkretisierung für das alltägliche Leben durch die sog. mündliche Tora, die Mischna und die rabbinische Lehre. Zusammen mit der mündlichen Tora ist die Bibel Israels das Lebensbuch, durch das sich Juden mit ihrem Judentum und mit der Geschichte ihres Volkes identifizieren. Sie leben in der direkten Kontinuität der in ihrer Bibel begründeten und mit Verheißungen gesegneten Geschichte. Wenn Juden von Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rachel reden, reden sie von ihren Stammeltern. Wenn Juden heute den Anfang des Zehnworts, des Dekalogs, hören: Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus (Ex 20,2 = Dtn 5,6), und wenn sie diese Herausführung aus Ägypten am Pessach-Fest feiern, ist das ein Geschehen ihrer ureigenen Existenz, das so nur ihnen geschenkt wurde.

Ihrer Bibel begegnen Juden vor allem im Gottesdienst am Schabbat und an den Feiertagen, wo nicht nur, wie in den Kirchen, einige Verse, sondern ganze Kapitel der Tora vorgelesen werden. Die Rezitation der gesamten Tora im Laufe eines Jahres macht deutlich, dass die Tora die grundlegende Wegweisung durch das Jahr hindurch und Inspiration für den jüdischen way of life ist.

 

2. Die Bibel Israels – grundlegender Teil der Bibel des Christentums

Es ist unbestreitbar: Jesus, die Gestalt, die im Zentrum des Christentums steht, war durch und durch Jude. Seine Bibel waren die Heiligen Schriften Israels. Der Gott, den er predigte, war der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Die Tora, die er auslegte, war die Tora des Mose. Das bestätigt nachdrücklich der Abschnitt mit den sog. Antithesen im Matthäusevangelium, dem die dezidierte Aussage vorangestellt ist: »Denkt nicht, dass ich gekommen bin, die Tora … außer Kraft zu setzen… Bis Himmel und Erde vergehen, wird von der Tora nicht der kleinste Buchstabe und kein einziges Häkchen vergehen …« (Mt 5,17f.).

Bis in die Mitte des 2. Jh. n. Chr. waren die Heiligen Schriften Israels die einzige und exklusive Bibel der Christen. Vor allem die sog. Judenchristen waren mit der Bibel Israels sehr vertraut, wie man beinahe auf jeder Seite des Neuen Testaments erkennen kann, das ganz stark von der Bildwelt der Bibel Israels geprägt ist. Das setzt voraus, dass nicht nur die neutestamentlichen Autoren, sondern ebenso ihre Erstadressaten in dieser Sprachwelt dachten und lebten.

Zwar waren ab der Mitte des 1. Jh. Schriften über Jesus, sein Wirken, seinen Tod und seine Auferweckung sowie insbesondere über ein Leben in der Nachfolge dieses Jesus entstanden, aber keineswegs in der Absicht, als »neue« Heilige Schriften an die Stelle der »alten« Heiligen Schriften Israels zu treten. Diese »neuen« Schriften hatten für die jeweiligen Gemeinden, an die sie gerichtet waren, hohe Bedeutung, aber sie hatten nicht den gleichen Stellenwert wie die Texte der Bibel Israels, auch nicht in der Liturgie der Gemeinden.

Das änderte sich ab der Mitte des 2. Jh. Soweit wir erkennen können, fingen christliche Gemeinden um die Wende zum 2. Jh. an, verschiedene im Urchristentum entstandene Schriften zu sammeln und wechselseitig auszutauschen – als Zeugnisse des neuen Handelns des Gottes Israels an und in Jesus dem Christus. Da diese Zeugnisse in großem Ausmaß die Bibel Israels aufnahmen, sie wörtlich zitierten, auf sie kunstvoll anspielten und mit Einzelmotiven größere Zusammenhänge der Bibel Israels einspielten, blieb die Bibel Israels als geistige und sprachliche Welt in den christlichen Gemeinden präsent, auch in jenen Gruppen und Gemeinden, die nicht mehr aus dem Judentum stammten. Zugleich trennten sich in dieser Zeit immer stärker die Wege der Christen von den Juden. Diese Abgrenzung gegenüber den Juden stellte für die Christen nicht nur die Frage nach dem Neuen und Besonderen des Handelns Gottes durch Jesus den Christus, sondern auch die Frage nach der weiteren Gültigkeit der Bibel Israels, die ja den jüdischen way of life begründete und forderte, eine Lebensweise, gegenüber der sie sich als Christen gerade abzugrenzen begonnen hatten.

Die Diskussion über die Frage, inwieweit die jüdischen Wurzeln in Gestalt der Bibel Israels für das inzwischen sich als eigene Größe begreifende und institutionell mit dem Judentum konkurrierende Christentum noch notwendig oder überhaupt förderlich seien, wurde um 140 n. Chr. vor allem von Markion, einem aus Kleinasien stammenden, einflussreichen Gemeindemitglied in Rom, vorangetrieben. Er beurteilte das Judentum als eine durch Christus überholte Religion und dementsprechend die Bibel Israels als eine für das Christentum nicht mehr akzeptable Heilige Schrift. Um die neue Botschaft Jesu zu profilieren, konstruierte er unter dem Titel »Antithesen« einen grundlegenden Gegensatz zwischen dem Gott, den Jesus verkündigt hat, und dem Gott, von dem die Heiligen Schriften der Juden reden, die er despektierlich vetus testamentum (»Altes Testament«) nennt. Er argumentiert dabei mit Klischees, die bis heute wiederholt werden: Typisch für das Buch und den Gott der Juden sei z.B. das Prinzip »Auge um Auge«, dem Jesus das Gebot der Feindesliebe gegenübergestellt habe. Dementsprechend lehnt Markion das gesamte Alte Testament als Buch über den Gott der Gerechtigkeit ab. Ausschließlich im Neuen Testament findet er die Botschaft über den Gott der Liebe, freilich auch dort vielfach verfälscht, weil bereits die zwölf jüdischen Apostel Jesus missverstanden hätten, indem sie ihn für den Messias des jüdischen Gottes hielten und deshalb seine Worte nachträglich und fälschlich judaisierten. Nur Paulus habe Jesus kongenial verstanden, wie vor allem der das Judentum bekämpfende Galaterbrief zeige. Allerdings seien auch die Paulusbriefe teilweise nachträglich jüdisch revidiert worden. Deshalb entjudaisiert Markion auch das Neue Testament. Als christliche Bibel bleiben für Markion nur ein entjudaisiertes Lukasevangelium (hier streicht er z.B. die Kindheitsgeschichte, die Jesus pointiert als Juden präsentiert) und zehn ebenfalls von jüdischer Bearbeitung gereinigte Paulusbriefe übrig.

Der Vorstoß Markions, das Christentum als eine radikal neue Religion gerade im Gegensatz zum Judentum zu profilieren, führte dazu, dass die junge Kirche zwei Fragen klärte: Zum einen wurden – in mehreren Schritten – die verbindlichen Schriften der Christusverkündigung zu einer Sammlung zusammengestellt, und zum anderen wurde über das Verhältnis dieser neuen Sammlung zur bisher als Heilige Schrift des Christentums geltenden Bibel Israels entschieden. Das Endergebnis dieses Entscheidungsprozesses ist die eine Bibel aus den zwei Teilen, die wir Christen traditionell Altes Testament und Neues Testament nennen, wobei das Wortpaar »alt – neu« keine Opposition, sondern eine Korrelation bezeichnet. Da die Vokabel »alt« bereits bei Markion die negative Bedeutung »veraltet« hatte und weil viele Christen auch heute noch diese Konnotation bei der Bezeichnung »Altes Testament« mithören, rede ich selbst lieber vom Ersten Testament. Es ist das Zeugnis von Gottes »erster Liebe« zu seinem Bundesvolk Israel. Dass die christliche Bibel damals diese Gestalt erhielt, bedeutete eine grundlegende Weichenstellung für das Verhältnis des Christentums zum Judentum.

Um sich die Tragweite der damaligen kirchlichen Entscheidung für die eine Bibel aus zwei Teilen bewusst zu machen, kann man sich vorstellen, welche anderen Entscheidungsmöglichkeiten zumindest auch denkbar gewesen wären:

(1) Die Kirche hätte die Position Markions modifiziert übernehmen können, nämlich das Neue Testament zu ihrer nunmehr alleinigen Heiligen Schrift zu erklären. Sie hätte die Schriften Israels aus seinem »Offenbarungsdienst« entlassen können, weil ja das, was von ihm christlich »brauchbar« ist, im Neuen Testament aufgenommen sei, und um deutlich zu machen, dass das Judentum und seine Bibel in der Sicht des Christentums nun ihre theologische Bedeutung verloren hätten.

(2) Die Kirche hätte aus den Schriften Israels eine gezielt christlich strukturierte Auswahlbibel zusammenstellen können, sie hätte bestimmte Teile als für Christen nicht mehr relevant (z.B. das Buch Levitikus) oder als weniger wichtig (z.B. das Buch Kohelet) ausscheiden können oder man hätte das Alte Testament christologisch und ekklesiologisch redigieren und überarbeiten können, damit es wirklich ein »christliches« Buch wäre.

(3) Schließlich wäre eine ausdrückliche Relativierung denkbar gewesen, die das Alte Testament hinter das Neue Testament gestellt hätte, wie dies bekanntlich Friedrich Schleiermacher vorgeschlagen hat.

Die Kirche hat keinen dieser Wege beschritten. Stattdessen traf sie zwei wichtige Entscheidungen, deren Folgen wir Christen in den letzten Jahren wieder neu zu begreifen beginnen:

(1) Die Kirche behielt alle Schriften der Bibel Israels in ihrem jüdischen Umfang und Wortlaut bei. Auch wenn dies die griechische Sprachgestalt der sog. Septuaginta war, so ist daran zu erinnern: Die Septuaginta ist eine jüdische Übersetzung.

(2) Die Kirche stellte ihre »neuen« Schriften nicht vor, sondern hinter die Bibel Israels. So entstand die zwei-eine christliche Bibel, in der die »Bibel Israels« nicht nur deshalb an erster Stelle steht, weil sie früher entstanden ist, sondern weil sie das Fundament ist, auf dem der zweite Teil aufruht, und weil sie der Auslegungshorizont des zweiten Teils ist, gemäß dem hermeneutischen Programm: Das Neue Testament ist im Licht des Alten Testaments zu lesen, weil es ohne die Heiligen Schriften Israels nicht verstehbar ist, ja weil die Bibel Israels und das in ihr bezeugte Handeln Gottes an seinem Bundesvolk Israel die Grundlegung der Christusverkündigung ist. Das hat die Päpstliche Bibelkommission im Jahr 2001 in ihrer Erklärung »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der Christlichen Bibel« (vgl. die deutsche Fassung in der vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Reihe »Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls«: Nr. 152; daraus wird im Folgenden zitiert.) mit einer erstaunlichen Doppel-Metapher folgendermaßen beschrieben: »Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist« (Nr. 84/S. 161).

Auch wenn die christliche Tradition den zweiten Teil der christlichen Bibel »Neues Testament« nennt, ist diese Bezeichnung keineswegs so naiv zu verstehen, wie das manche Christen tun. Die Bibelkommission stellt unmissverständlich fest: »Die Schriften des Neuen Testaments geben sich an keiner Stelle als etwas grundlegend Neues aus. Sie erweisen sich vielmehr als tief in der langen Glaubenserfahrung Israels verwurzelt, wie sie sich in unterschiedlicher Form in den Heiligen Büchern widerspiegelt, die die Schrift des jüdischen Volkes ausmachen« (Nr. 3/S. 16). In der Tat betont das Neue Testament durchgängig die Identität des Gottes Israels mit dem Gott, den Jesus verkündet und der durch ihn wirkt.

Mit der Entscheidung, die Bibel Israels als ersten Teil und damit als Grundlegung der christlichen Bibel beizubehalten, sind allerdings zwei Probleme gegeben, die, wie die Geschichte zeigt, bis heute nicht adäquat gelöst sind:

(1) Wie ist das Verhältnis der beiden Teile der christlichen Bibel genauer zu bestimmen? Wie kann und soll das Christentum den ersten Teil seiner Bibel lesen und verstehen, der doch als Basisurkunde jüdischer Existenz entstanden ist und dies auch weiterhin ist?

(2) Wie soll das Christentum sein Verhältnis zum jeweils zeitgenössischen Judentum begreifen und leben, wenn dieses Judentum gleichzeitig aus dem ersten Teil der christlichen Bibel als seiner ureigenen Heiligen Schrift lebt?

Vom Standpunkt des christlich-jüdischen Dialogs her muss gesagt werden, dass die Antworten, die das Christentum auf beide Fragen bis in die jüngste Zeit gab, unbefriedigend sind. Hier muss neu angesetzt und gesucht werden.

 

3. Auf der Suche nach einer neuen christlichen Bibellektüre

Bei der Auslegung des Alten Testaments war das Christentum spätestens seit dem 4. Jh. weitgehend von einem positionellen Antijudaismus bestimmt. Alttestamentliche Texte wurden oft herangezogen, um die Blindheit und Verstocktheit der Juden zu beweisen, weil sie angeblich ihre eigene Bibel nicht so lesen wollten, wie dies Gott doch nach dem eindeutigen Zeugnis des Neuen Testaments geoffenbart habe. Mit ihrer Weigerung, Jesus als ihren Messias und als Gottes Sohn, als die Erfüllung der ihren Vätern gegebenen Verheißungen anzunehmen, hätten die Juden selbst ihre Verfluchung und Verstoßung durch Gott herbeigeführt und eigentlich ihr Existenzrecht verwirkt, wie die Geschichte seit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. beweise. Die Kirche sei nach Gottes Willen an die Stelle Israels getreten – und habe vor allem die Bibel Israels in jener Lesart gerettet, die Gott von Anfang an immer beabsichtigt habe.

Dass das Alte Testament als grundlegender Teil der christlichen Bibel dieser Auffassung zutiefst widerspricht, weil es den Christen die ewige Treue Gottes zu seinem Bundesvolk Israel bezeugt, und dass das Alte Testament eine gegenüber dem Neuen Testament eigenständige Botschaft hat, wurde in der Kirche zu wenig wahrgenommen.

Die im Einzelnen unterschiedlichen Auslegungstypen des Alten Testaments in der Christentumsgeschichte haben eine Grundoption gemeinsam: Alttestamentliche Texte werden verwendet, um mit ihnen – gegen das Judentum – die christologische Botschaft als die allein mögliche Leseweise und als von Anfang an von Gott intendierte Wahrheit zu begründen und zu erläutern. Die dabei verwendeten methodischen Ansätze waren vielfältig:

(1) Oft hat man alttestamentliche Texte als Kontrastfolie zur Christusbotschaft verwendet, um damit die Notwendigkeit und Höherwertigkeit der neutestamentlichen Christusbotschaft zu beweisen. Dass man einzelne Texte des Alten Testaments mit bestimmten Texten des Neuen Testaments so nebeneinander stellen kann, dass Gegensätze sichtbar werden, ist unbestreitbar. Aber es geht ebenso umgekehrt: Auch neutestamentliche Texte kann man mit alttestamentlichen Texten so konfrontieren, dass das Neue Testament hinter dem theologischen Pathos des Alten Testaments zurückbleibt. Das Kontrastmodell ist nicht geeignet, das Verhältnis der beiden Teile der christlichen Bibel zueinander sachgerecht zu bestimmen. Man kann sie schon gar nicht, wie Markion das tat, als zwei gegensätzliche Religionen einander gegenüberstellen.

(2) Besonders verbreitet war und bis heute beliebt ist die Methode, das Alte Testament als »Dienerin« des Neuen Testaments zu präsentieren. Die Aufgabe des Alten Testaments war bzw. ist es nach dieser Auffassung, die eigentliche und endgültige Offenbarung in Jesus Christus vorzubereiten. Das Alte Testament wird zur Verheißung erklärt, deren Erfüllung das Neue Testament sei, wobei in der Regel sogar unterstellt wird, mit ihrer Erfüllung habe die Verheißung ihren Dienst »erfüllt« und sei eigentlich nicht mehr wichtig. Zu dieser Sichtweise ist zu sagen: Das Schema »Verheißung« – »Erfüllung« ist zwar eine bereits in der Bibel Israels selbst wichtige Darstellungsform, weil sie die Macht und die Treue des Gottes Israels ausweist. Aber die dort konstatierte Erfüllung wird meist als Bekräftigung der Verheißung verstanden, die der Verheißung eine noch größere Bedeutung gibt. Wendet man diese Beobachtung auf das Verhältnis Altes Testament – Neues Testament an, heißt das: Selbst wenn man Texte des Neuen Testaments als Erfüllung von alttestamentlichen Texten verstehen kann, bedeutet dies nicht, dass die Verheißungen ihren Sinn oder ihre Kraft verloren hätten. Im Gegenteil muss man sagen: Sie werden als Verheißungen bekräftigt, zumal sie oft im Vergleich zu ihrer Erfüllung noch einen Verheißungsüberschuss haben. Im Übrigen muss daran erinnert werden: In christlicher Lesart hat das Neue Testament selbst ein gewaltiges Verheißungspotenzial, sodass auch von daher evident ist: Das Kategorienpaar Verheißung – Erfüllung taugt nicht, um das Verhältnis der beiden Teile der christlichen Bibel sachgemäß zu beschreiben.

(3) Dies gilt auch für das in der Christentumsgeschichte, vor allem bei den Kirchenvätern, beliebte Modell der typologischen Lektüre des Alten Testaments. Das Alte Testament gilt hier als Vorausdarstellung, als Vor-Bild, als Typos jener Wirklichkeit, die mit Jesus zu ihrer Vollendung und Vollgestalt, als Antitypos, gekommen ist. Auch hier gilt: Die typologische Methode ist nicht prinzipiell abzulehnen. Sie findet sich schon in der Bibel Israels selbst und wird im hellenistischen Judentum, besonders bei Philo, kunstvoll durchgeführt. Dabei werden unterschiedliche Ereignisse so miteinander parallelisiert, dass die Treue des Gottes Israels aufscheint, der seinen »Heilsplan« verwirklicht, indem er seine einmal geoffenbarten Wirkweisen immer wieder neu aktualisiert. Nach diesem Verfahren wird z.B. mit dem Konzept vom Neuen bzw. Zweiten Exodus die Rettung Israels aus dem babylonischen Exil als erneute und neue Aktualisierung des Ersten Exodus aus Ägypten verkündet und gefeiert. Beide verhalten sich wie Typos und Antitypos. Der Antitypos hebt allerdings den Typos nicht auf, sondern bleibt rückgebunden auf den Typos als seinem Fundament. Dies wurde und wird in der vom Christentum praktizierten typologischen Methode nicht selten so verändert, dass sie den alttestamentlichen Typos abwertet oder den neutestamentlichen Antitypos gar zum Gegensatz macht.

(4) Eine besonders subtile Weigerung, der Bibel Israels in der christlichen Lektüre einen Eigenwert zu belassen, besteht darin, die Einheit der beiden Testamente so stark zu betonen, dass die Bibel Israels ausschließlich als konstitutiver Teil der christlichen Bibel richtig verstanden werden könne. Was z.B. aus der unsystematischen Vielfalt der alttestamentlichen Heilsverheißungen im Neuen Testament nicht aufgenommen wird, sei deshalb, so unterstellt diese Position, auch nicht geoffenbarte »Wahrheit«, sondern hänge mit der geschichtlichen Bedingtheit der Offenbarung zusammen. In diesem Konzept unterstellen Christen, dass Juden ihre eigene Bibel letztlich nicht lesen und verstehen können, weil ihnen die christologische Brille fehle.

Gegenüber diesen christlichen Leseweisen des Alten/Ersten Testaments hat der christlich-jüdische Dialog der letzten Jahrzehnte neue Perspektiven entwickelt, die inzwischen sowohl katholischerseits als auch evangelischerseits kirchenamtlich rezipiert wurden. Sie betonen vor allem, dass bei der Konstituierung des Sinns und beim Verstehen eines Textes den Lesern eine entscheidende Rolle zukommt. Dabei ist die Einsicht grundlegend, dass alle Texte, insbesondere aber poetische und literarische Texte, eine Sinnoffenheit und ein Sinnpotenzial haben, die über den von ihren Erstautoren intendierten Sinn hinausgehen. Das gilt besonders bei alten Texten, denen im Laufe ihrer Überlieferung neue Bedeutungen hinzugewachsen sind. Zwar ist es notwendig und hilfreich, die historische Ursprungsbedeutung dieser Texte zu erarbeiten, aber es ist ebenso wichtig, die durch die Überlieferung zusätzlich konstituierten Bedeutungen ernst zu nehmen. Im Blick auf die Bibel Israels und auf die Bibel des Christentums ist weiter zu beachten, dass die biblischen Texte innerhalb der jüdischen und der christlichen Gemeinschaft gehört und gelesen werden und dass deshalb diese Lebens- und Textgemeinschaften bei der Sinnkonstituierung die entscheidende Rolle spielen. Sowohl das rabbinische Judentum als auch die patristische bzw. mittelalterliche Exegese haben dies so realisiert, dass sie jeweils eine analoge Lehre vom mehrfachen Schriftsinn entwickelt haben. Auch wenn die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn im Judentum nie die gleiche Bedeutung erlangt hat wie bei der christlichen Lektüre, zeigt die Auffassung von der Mehrdimensionalität des Textsinns ein gemeinsames Anliegen: Es geht um die Relevanz der biblischen Aussagen für das konkrete Leben, d.h. für jüdische bzw. christliche Existenz. Dass Juden und Christen die gleichen Texte der Bibel unterschiedlich lesen, ist daher nicht überraschend. Der von den Rabbinen gerne zitierte Vers 12 von Ps 62 »Eines hat Gott geredet, zweierlei habe ich gehört«, ist in besonderer Weise das Grundaxiom einer christlich-jüdischen Bibelhermeneutik.

Geht man von diesen Überlegungen aus, ergeben sich folgende Einsichten, die teilweise auch von dem bereits zitierten Dokument der Päpstlichen Bibelkommission vorgetragen werden:

(1) Insofern Juden und Christen die gleichen Texte innerhalb ihrer jeweiligen Tradition unterschiedlich lesen, sind dies zwei legitime, heilsgeschichtlich begründete Leseweisen.

(2) Die Christen können anerkennen, dass die jüdische Leseweise der Bibel Israels textnäher und textgemäßer ist als die christliche Leseweise. Das stellt auch die Bibelkommission fest, wenn sie sagt: »Die Christen können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar« (Nr. 22/S. 44). Diese Beobachtung impliziert die Feststellung, dass das pharisäisch-rabbinische Judentum, das ab dem 2. Jh. n. Chr. bis heute zur dominierenden Form des Judentums wurde, keinen Abfall von der in der Bibel Israels bezeugten Gottesbotschaft und von dem darauf begründeten way of life darstellt. Die christliche Theologie kann sagen, dass das Judentum – auch im Nein zu Jesus – seinen biblischen Ursprüngen treu geblieben ist.

(3) Wenn Christen die Bibel Israels als Teil ihrer Bibel lesen, müssen sie dies mit einer zweifachen Brille tun. Sie sollen diese Texte zuerst so lesen, dass sie darin den Juden als den Erstadressaten der Bibel Israels und als ihren älteren Geschwistern begegnen. Sie sollen sich bewusst machen, dass diese Texte über die bleibende Erwählung Israels als Bundesvolk reden und dass sie als Christen mit Hilfe dieser Texte das Judentum tiefer verstehen. Dabei können christliche Ausleger von der jüdischen Schriftauslegung sehr viel lernen. Wenn Christen sodann diese Texte als ersten Teil ihrer eigenen Bibel, also als Altes bzw. Erstes Testament, lesen und wenn sie dieses dabei transparent werden lassen auf die neutestamentliche Botschaft vom endgültigen Handeln des Gottes Israels in Jesus dem Christus hin, tragen sie in diese Texte nachträglich eine Sinnperspektive ein, die diese Texte ursprünglich nicht haben. Das ist in hermeneutischer Hinsicht durchaus möglich, insofern die Texte auf mehreren Ebenen gelesen werden können, aber es muss ohne jenes Pathos der christlichen Überlegenheit und Überbietung geschehen, das jahrhundertelang üblich war. Es kann sich im Gegenteil mit dem Pathos der Dankbarkeit gegenüber dem Judentum und der Verbundenheit mit ihm vollziehen. Um es ganz einfach zu sagen: Die Christen müssen sich bewusst machen, dass sie diese Texte anders, aber nicht besser verstehen als die Juden. Auch dies betont die Päpstliche Bibelkommission, wenn sie sagt: »Wenn der christliche Leser wahrnimmt, dass die innere Dynamik des Alten Testaments in Jesus gipfelt, handelt es sich hier um eine rückschauende Wahrnehmung, deren Ausgangspunkt nicht in den Texten als solchen liegt, sondern in den Ereignissen des Neuen Testaments, die von der apostolischen Predigt verkündet worden sind. So darf man nicht sagen, der Jude sähe nicht, was in den Texten angekündigt worden sei« (Nr. 21/S. 43f.). Diese doppelte christliche Leseweise der Bibel Israels ist vor allem dann plausibel, wenn sie theozentrisch ansetzt, d.h. wenn die Texte als Zeugnisse des rettenden, Umkehr fordernden und die Geschichte vollendenden Gottes gelesen werden, der zu den Juden und zu den Christen redet. Man könnte diese christliche Leseweise eine metaphorisierende Lektüre der Bibel Israels nennen. Es geht dabei um eine Lektüre, die die vorgegebene konkrete Aussage nicht auf die Seite schiebt, sondern in einen neuen Sinnzusammenhang stellt. Dabei ist die vorgegebene Aussage, also die spezifische Aussage über Gottes Handeln an Israel, die bleibende Grundlage für die christliche Lektüre, die dieses Handeln in den Zusammenhang des Handelns Gottes in und durch Jesus den Christus stellt. In der Terminologie der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn wäre es ein allegorischer oder geistlicher Sinn, der die ursprüngliche Eigenaussage nicht verdrängt, sondern spannungsreich daneben tritt.

(4) Eine christliche Lektüre der Bibel Israels als Teil der christlichen Bibel darf keine künstlichen Gegensätze konstruieren, wie dies lange Zeit üblich war, weder den Gegensatz von Gesetz und Evangelium noch den von einem Gott der Rache und einem Gott der Liebe. Im Gegenteil müssen Christen, sogar wenn Juden dies in Frage stellen, an der Selbigkeit Gottes festhalten, die in den beiden Teilen ihrer Bibel bezeugt ist.

 

4. Konsequenzen für den christlich-jüdischen Dialog

Wenn das Christentum bereit ist, seine zwei-eine Bibel als Grundlage des christlich-jüdischen Dialogs so zu lesen, wie ich es skizziert habe, hat dies Konsequenzen für das christlich-jüdische Verhältnis und für den christlich-jüdischen Dialog. Ich nenne fünf Konsequenzen:

(1) So wichtig in der aktuellen gesellschaftlichen Situation der interreligiöse Dialog ist und so unverzichtbar in Deutschland angesichts der demographischen und der innenpolitischen Verhältnisse gerade der Dialog mit dem Islam ist, so muss aus theologischen Gründen doch festgehalten werden, dass der christlich-jüdische Dialog von seinen Voraussetzungen her und in seiner Zielsetzung einzigartig ist. Diese Einzigartigkeit gründet in der Juden und Christen gemeinsamen Bibel.

(2) Auch wenn dies für die christlichen Kirchen angesichts ihrer Machtposition nicht leicht annehmbar erscheint, wird von den meisten jüdischen Partnern im Dialog eine fundamentale Asymmetrie betont, die Ernst Ludwig Ehrlich folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: »Das Christentum wird, ob Christen es wollen oder nicht, notwendigerweise stets auf das Judentum verwiesen … Anders ist es nun mit den Juden. Nichts nötigt sie von Jesus und den Evangelien Kenntnis zu nehmen. So besteht hier eine grundsätzlich andere Situation zwischen Christen und Juden: Wollen jene die Religion des Volkes Israel ignorieren, schneiden sie sich selbst die Wurzeln ab, von denen sie theologisch leben; der Jude hingegen kann ein vollgültiges religiöses Leben führen, ohne je etwas von Jesus und dem Evangelium gehört zu haben« (E.L. Ehrlich, in H. Heinz/H.H. Henrix [Hg.], »Was uns trennt, ist die Geschichte«. Ernst Ludwig Ehrlich – Vermittler zwischen Juden und Christen, München 2008, 180). In der Tat müssen wir mit dem Römerbrief des Apostels Paulus feststellen: Die Wurzel trägt uns und nicht wir tragen die Wurzel (vgl. Röm 11,18). Aber: Wir christlichen Partner des Dialogs haben die Hoffnung, dass durch die Praxis des Dialogs die Asymmetrie so verändert wird, dass auch Juden für das Verständnis ihres Judeseins und ihrer Aufgabe in der Welt aus dem Dialog mit den Christen neue Einsichten gewinnen.

(3) Ein ehrlicher Dialog ist nur möglich, wenn die christlichen Dialogpartner der kirchlichen Judenmission aus theologischen Gründen eine klare Absage erteilen. Wenn die Bibel Israels die Grundlegung der zwei-einen Bibel des Christentums ist und wenn der selbige Gott im ersten und zweiten Teil der christlichen Bibel bezeugt wird, muss das Judentum nicht durch das Christentum zur Erkenntnis des wahren Gottes bekehrt werden. Hauptargument für diese – von vielen Christen nicht leicht hinnehmbare – Position ist die theologisch nicht bezweifelbare Auffassung, dass das jüdische Volk trotz seines Nein zu Jesus als seinem Messias im ungekündigten Bund mit Gott und damit im Heilsverhältnis mit Gott steht. Ja, wir Christen können das Nein heutiger Juden zu Jesus als deren Treue zu ihrer ureigenen Bibel verstehen, auch wenn wir selbst eine andere Glaubensentscheidung getroffen haben. Der ewige Gottesbund mit dem jüdischen Volk ist uns Christen vorgegeben. Er ist nicht abhängig von unserer Zustimmung. Es ist vielmehr umgekehrt: Unsere christliche Gottesbeziehung hat ihr Fundament im Gottesbund mit dem biblischen Israel, dessen Glaube unserem Glauben vorausgeht.

(4) Es ist eine vordringliche Aufgabe des christlich-jüdischen Dialogs, die fundamentale Verbundenheit von Juden und Christen durch den an ihnen handelnden selbigen Gott und die gleichwohl unterschiedliche Geschichte Gottes mit ihnen so wahr- und anzunehmen, dass wir Formulierungen finden, die dieses besondere Verhältnis von Gemeinsamkeit und Differenz, von Nähe und Distanz bibelgemäß wiedergeben. Ich selbst könnte mir vorstellen, dass wir dabei vor allem die Botschaft vom Königtum Gottes aufgreifen, sodass man sagen könnte: Israel und die Kirche sind berufen, gemeinsam und doch auf je spezifische Weise dabei mitzuwirken, dass die Welt zum Ort der Königsherrschaft Gottes wird. Allerdings wird in der schwierigen Frage der genaueren Verhältnisbestimmung Israel – Kirche keine allseits befriedigende Lösung gefunden werden, wie schon der Apostel Paulus am Schluss des 11. Kapitels des Römerbriefs betont, wenn er in dieser Frage auf Gottes abgrundtiefe Weisheit und auf seine unergründlichen Wege des Heiles hinweist (vgl. Röm 11,33–36). Die für die katholische Karfreitagsliturgie des ordentlichen Ritus seit dem 1. Fastensonntag 1976 für das deutsche Sprachgebiet verpflichtende Fassung der Fürbitte für die Juden formuliert hier in eindrucksvoller Weise: »Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will.« Eine Fürbitte für Juden am Karfreitag könnte m.E. verbunden werden mit der Bitte an Gott um die Vergebung unserer Schuld, die wir jahrhundertelang als Christen in unserem Verhalten zu den Juden auf uns geladen haben. Als Textvorlage könnte das am 1. Fastensonntag 2000 in St. Peter zu Rom gesprochene Schuldbekenntnis mit der anschließenden Vergebungsbitte dienen, deren Wortlaut Johannes Paul II. bei seinem Israel-Besuch im März 2000 gemäß jüdischer Tradition persönlich in eine Spalte den sog. Klagemauer von Jerusalem legte. Dieser Text lautet:

»Lass die Christen der Leiden gedenken,
die dem Volk Israel in der Geschichte auferlegt wurden.
Lass sie ihre Sünden anerkennen, die nicht wenige von ihnen
gegen das Volk des Bundes und der Lobpreisungen
begangen haben, und so ihr Herz reinigen.
Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt,
deinen Namen zu den Völkern zu tragen.
Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller,
die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen.
Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen,
dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.«

(5) Wenn es dem christlich-jüdischen Dialog gelingt, nach der jahrhundertelangen Geschichte der Entzweiung und der für die Juden todgefährlichen Verleumdung, Verurteilung und Unterdrückung die neuen Formen guter Nachbarschaft und die öffentlichen Bezeugungen des gegenseitigen Respekts engagiert und aufrichtig weiter zu pflegen und sogar zu intensivieren, wäre dies ein großartiges öffentliches Zeichen dafür, dass Religionen und Konfessionen nicht Auslöser von Hass und Gewalt sein müssen, sondern Weggenossen und Wegbereiter des Friedens sein können. Dazu fordern uns die Bibel Israels und das Neue Testament in dem ihnen gemeinsamen fundamentalen Gottesgebot auf: »Du sollst den anderen als anderen achten und lieben, er ist wie du! Ich bin der Ewige/der Lebendige: Euer Gott!« (vgl. Lev 19,18.34; Mt 22,39 par).

Vortrag gehalten an der Katholischen Akademie in Hamburg, 28. Februar 2009, anlässlich der Eröffnung der "Woche der Brüderlichkeit" 2009

Quelle: www.deutscher-koordinierungsrat.de

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