Briefe an David
von Friedrich Gölz

Vierter Brief
Über Weihnachten, Bethlehem und über den allerersten David

Stuttgart, am 2. Januar 2004

Uns beiden, lieber David, bot das Weihnachtsfest eine Gelegenheit, auch darüber nachzudenken, was die Geburt Jesu mit Deinem Vornamen zu tun hat. Und mit dem unseres Herrn Friedländer. In Bethlehem, einer kleinen Stadt, sechs Kilometer südlich von Jerusalem, wurde der geboren, den später viele „Sohn Davids“ nennen sollten. Und ziemlich genau tausend Jahre vor Jesus wuchs dort der erste David auf. Der wurde, so erzählt die Bibel, in Bethlehem als jüngster Nachkömmling seiner sieben älteren Brüder, zum zukünftigen König „gesalbt“. Im 16. Kapitel des Ersten Samuelbuches findest Du diese schöne Legende, die klar machen soll, dass der Hirtenbub David nicht durch eigene Schläue, sondern durch eine göttliche Fügung König wurde. Davids Vater hieß Isai; und aus Isai wurde dann in dem Lied „Es ist ein Ros entsprungen“ Jesse – „... aus Jesse kam die Art“ haben wir gesungen.

Auf vielen alten Bildern, auch auf Wandmalereien in mittelalterlichen Kirchen kann man Darstellungen der „Wurzel Jesse“ sehen; das ist ein Stammbaum aller königlichen und späteren Nachkommen dieses Isai und seines jüngsten Sohnes. Nach christlicher Auffassung zielt dieser Stammbaum natürlich nur auf Jesus.

Am Anfang des Mattäusevangeliums geht die „Wurzel“ (der Stammbaum) Jesse nicht nur auf König Davids Vater Isai, sondern noch weiter zurück, bis zum Erzvater Abraham. Und Lukas lässt in seinem dritten Kapitel die Ahnenreihe Jesu sogar bis zu Adam reichen. Das sind Versuche, einerseits das wahre Menschsein Jesu (Adam) zu erweisen oder auch seine Herkunft aus dem Volk Israel (Abraham) zu betonen.

Wenn nämlich Jesus im Evangelium öfters „Sohn Davids“ genannt wird, dann bezieht sich dieser Name auf eine alte jüdische Hoffnung, die nach dem Zusammenbruch des von David begründeten Königtums aufgekommen ist: dass später einmal ein neuer David oder ein würdiger, machtvoll-edler „Sohn“ (= Nachkomme) Davids kommen werde, um seinem heruntergekommenen, im Elend versinkenden Volk aufzuhelfen. Die israelitischen Propheten haben diese Hoffnung begründet; und wenn im Evangelium Hilfesuchende Jesus als den „Sohn Davids“ anrufen, dann sehen sie in ihm die Erfüllung der Hoffnung des jüdischen Volkes.

Als ich so alt war wie Du jetzt bist, haben viele die jüdische Abstammung Jesu geleugnet. Ja, schon in früherer Zeit hatten sich Christen allerlei seltsame Geschichten ausgedacht, um Jesus von seiner unerfreulichen Herkunft und Verwandtschaft zu befreien und so das Christentum gründlich zu „entjuden“. Man behauptete, ein römischer Legionär (natürlich musste er möglichst von germanischer Abkunft sein!) habe die Jungfrau Maria geschwängert. Und im „Dritten Reich“ gab es auch Theologen, die solche phantastischen Konstruktionen verbreiteten, weil es ihnen einfach unerträglich schien, an einen jüdischen Heiland zu glauben. Jesus sollte doch als der gelten, welcher das Judentum überwunden und abgelöst hat.

Das war ein schlimmer Irrweg. Denn die (Un-)Sitte, Judentum und Christentum gegen einander auszuspielen, das Judentum somit für erledigt zu erklären und „die Juden“ schon für die Kreuzigung Christi verantwortlich zu machen, ist leider so alt wie das Christentum. Und solche Verleumdung der Juden hatte, darin bin ich sicher, fatale Folgen, die bis nach Auschwitz reichen ...

Aber noch einmal zurück zu jenem allerersten David, dem König, der also vor etwa dreitausend Jahren in Bethlehem aufgewachsen ist. Du kennst die Geschichte von seiner „Salbung“, von seinem Sieg über Goliath, den grimmigen Philister. Weißt Du auch, dass die Namen „Palästina“ und „Palästinenser“ auf jenes (übrigens indogermanische) Volk der Philister zurückgehen, mit dem das frühe Israel um den Besitz des Landes kämpfte? König David konnte sich in diesen Kämpfen gerade so grausam und so rücksichtslos aufführen wie vor und nach ihm andere orientalische Herrscher. Er war gewiss kein Heiliger, eher ein entschlossener Aufsteiger, der seine Ziele mit allen, auch mit fragwürdigen Mitteln ansteuerte (In diesen Zusammenhang gehört die Geschichte von Davids Ehebruch (2.Sam.11) oder von seinem grausamen Umgang mit Feinden (2.Sam.8) ). Auch das darf einem an Weihnachten und beim Stichwort Bethlehem einfallen.

Und wie sieht es in Bethlehem heutzutage aus? Die neueste Internet-Meldung vom Dezember 2003 besagt, dass dort erfreulicherweise an diesem Weihnachtsfest nicht geschossen wurde. Aber nur durch ganz strenge Kontrollen konnte man die kurze Strecke von Jerusalem nach Bethlehem passieren. Und nur ganz wenige Touristen seien in diesem Jahr dort gewesen, wo sich früher alljährlich zur Weihnachtszeit in der riesigen alten Kirche Tausende von Besuchern drängten.

An Weihnachten war ich nie in Bethlehem; sonst aber oft. Allein oder mit Gruppen, die ich durchs Land begleiten durfte. Die breite Zugangsstraße war früher von unzähligen Geschäften gesäumt, in denen teils kitschige, teils schön aus Ölbaumholz geschnitzte Andenken verkauft wurden. Und auf den Parklätzen stauten sich die Omnibusse, die eine Touristenladung nach der anderen auf den „Krippenplatz“ ausspuckten. Dort steht die große Geburtskirche: eine gewaltige Basilika, die aus dem 5. oder 6. Jahrhundert stammt und auf einen noch älteren Bau zurückgeht, den schon die Kaiserin Helena (die Mutter des großen Konstantin im vierten Jahrhundert) gebaut haben soll. Hinter dem Altar dieser Kirche führt eine Treppe zu der unterirdischen Stelle hinab, wo nach einer sehr alten Tradition die Krippe mit dem Jesuskind gestanden haben soll. Vor und auf dieser schmalen Treppe staute sich in früheren Jahren meist eine lange Schlange von Andächtigen und Neugierigen. Nur selten war man allein in dem niedrigen Gewölbe der Krypta, wo ein großer silberner Stern die „heilige Stelle“ der Jesus-Geburt anzeigt. Und gegenüber, so sagen eifrige Fremdenführer, standen Ochs und Esel. Ach, man musste sich im Gedränge der Pilger schon mächtig konzentrieren, wenn man an der Krippe Jesu stehend andächtige Gedanken aufkommen lassen wollte.

Ich habe aber in Bethlehem auch einmal ziemlich wüste Zusammenstöße zwischen Steine werfenden jungen Palästinensern und schließlich schießenden israelischen Soldaten erlebt. Die Tränengas-Schwaden, die dabei und danach durch die engen Gassen der alten Stadt waberten, haben uns, den etwas vorwitzigen Touristen, ganz schön zu schaffen gemacht. Du kennst solche Szenen ja aus Fernsehberichten. Ja, die „Stadt Davids“, wo nach Lukas die Engel den Hirten vom Frieden auf Erden sangen und sagten, ist heutzutage eine der heißen Stellen des ganz unlösbar scheinenden israelisch-arabischen Konfliktes.

An den streitbaren König David denkt heute in Bethlehem kaum noch jemand, obwohl sich die Erinnerung an den ersten judäischen Staat, den der erste David von Bethlehem aus errichtete, bis in die heutigen Auseinandersetzungen hinein auswirkt. Das übliche Touristengedränge in Bethlehem aber konzentriert sich ganz und gar auf Jesus, den David-Sohn.

Es gibt nördlich von Bethlehem noch eine zweite „Stadt Davids“: das ist Jerusalem. Diese uralte, auf einer strategisch günstigen Felsennase gelegene Stadt bestand schon Jahrhunderte vor König David. Aber er hat sie erobert und zur Hauptstadt seines Reiches gemacht.

Eine der seltsamsten und tiefsinnigsten Geschichten der Bibel (1.Mose 14:18- 20) erzählt, wie einst schon Abraham vor diese Stadt gezogen sei und dem dortigen König seine Reverenz erwies. Das geschah also lange vor König David, noch bevor es überhaupt ein Volk Israel gab. Abraham soll damals entdeckt haben, dass der Gott, der ihn berufen und gesegnet hat, in dieser Stadt „SALEM“ (hebräisch Schalom, arabisch Salám!) schon „wohnte“ und verehrt wurde. Wenn ich sage, dass Abraham das meinte, dann müsste ich’s eigentlich genauer formulieren: dass der biblische Erzähler von dieser Ur-Einwohnung des wahren Gottes in Jerusalem überzeugt war und dass ungezählte Generationen von Juden und von christlichen Bibellesern darin eine tiefe Wahrheit erkannten. Wer wirklich an den in der Bibel bezeugten Gott glauben möchte, der soll also Spuren dieses Gottes nicht nur bei sich selbst und in der eigenen Umgebung und Tradition suchen, sondern IHN überraschenderweise auch an ganz anderen Stellen entdecken. So, wie Abraham dort, vor den Toren Jerusalems zum heidnischen(!) König Melchisedek sagte: »Der Gott, dem Du dienst, ist ja derselbe, der mich berufen und geführt hat!«

Mir ist diese kleine biblische Szene deshalb so lieb und aufschlussreich, weil es ja bis heute leider zwischen Juden, Christen und Muslimen durchaus umstritten ist, ob alle drei monotheistischen Religionen, die sich auf Abraham gründen, wirklich den selben Gott anrufen. Wenn wir bedenken, wie nahe sich offenbar alle drei Glaubensweisen ursprünglich gewesen sind, dann könnten einem angesichts der heutigen Konfliktszene die Tränen kommen.

Als dann, lange nach Abraham, König David – das war um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung – die Stadt Jerusalem einnahm, hat er nicht, wie es damals bei derartigen Eroberungen durchaus üblich war, die bisherigen Einwohner umgebracht oder wenigstens aus der Stadt vertrieben. Er hat sie leben und ihre Arbeit weiter verrichten lassen. Offenbar hatte König David ein weites Herz und auch ein ziemlich weitherziges Gottesverständnis. Er brachte nämlich auch das alte religiöse Wahrzeichen des Volkes Israel, die „Bundeslade“ als Symbol göttlicher Gegenwart, in seine neue Hauptstadt. Dann überließ er es allerdings seinem Sohn, diesem unsichtbaren Gott auch einen Tempel zu bauen (2.Samuel 5 f, 1.Könige 6-8).

Und dieses Vorhaben, dem Gott Abrahams und Israels in der Hauptstadt des Königreiches ein festes Haus zu bauen, war dem früh-israelischen Glauben eigentlich nicht angemessen, ihm eher zuwider. Denn die Vorväter Israels hatten ihren Gott ja nicht als einen residierenden Herrscher kennen gelernt, sondern als eine durchaus mobile Gottheit: als den Befreier aus der ägyptischen Knechtschaft und dann als den geheimnisvoll unsichtbaren Wegführer durch die Wüste. Sie wussten, dass man diesen Gott nicht wie die Götter der Heiden „behausen“, domestizieren darf. ER ist weder in einem Bild noch in einem Tempel zu fassen.

Trotzdem hat dann der erste David-Sohn, Salomo, neben seinem Königshaus dem Gott Israels ein Gotteshaus gebaut. So, dass der menschliche König „zur Rechten“ des göttlichen Herrschers, als dessen Statthalter residieren sollte. 1.Könige 8 kannst Du nachlesen, wie sich König Salomo bei der Einweihung dieses Tempels bewusst war, dass der Gott Israels wahrhaftig nicht in „Häusern von Menschen gemacht“ wohnt. Man spürt schon in diesen alten Geschichten die Sorge, dass der Tempel missbraucht werden könnte, wenn Menschen sich einbilden, Gott damit zu besitzen. Gegen diese Irrmeinung, ER sei nun dort immer anwesend und stünde den Seinen stets zu ihrer Verfügung, haben später die biblischen Propheten heftig protestiert. Und dennoch: von diesem Tempel aus hat sich, wie die Psalmen zeigen, der „monotheistische“ Glaube an den EINEN GOTT entfaltet und in der Welt verbreitet.

Ein Kollege schrieb mir neulich, das sei doch wohl ein ganz großer Fehler, ja vielleicht die größte Panne in der biblischen Geschichte gewesen, dass David und Salomo damals aus dem Volk Israel ein Staatswesen mit dieser Hauptstadt als Herrschaftszentrale und darin sogar auch einen Tempel als Gottes-Sitz errichtet hätten. Denn damit habe Israel schon früh seine eigentliche Bestimmung verraten und verfehlt. Auf die Warnungen der Propheten habe man leider nicht gehört.

Ich sehe das etwas anders; aber ich verstehe schon, dass es sehr riskant war, wenn sich das Volk Israel damals unter David und seinen Nachfolgern den anderen Völkern und ihren religiösen Sitten weitgehend angepasst hat. Und in der Tat gab es, wie Du vielleicht aus dem Religionsunterricht weißt, in biblischen Zeiten Stimmen, die vor der Errichtung eines Königtums und Königreichs in Israel warnten. Aber ich denke andererseits, dass die Gründung des Staates, auch dieser Hauptstadt, ja sogar der Bau des Tempels in jener Zeit einfach notwendig war. Und bald schon lag ja diese ganze Staats- und Königs- und Tempel- Herrlichkeit in Trümmern. Von David bis zur ersten Zerstörung Jerusalems und des Tempels, vergingen nur etwa 400 Jahre. Das ist im Vergleich mit anderen Reichen des Alten Orients eine ganz kurze Zeit. Und das Volk Israel wurde bald darauf zurückgeworfen in die Heimatlosigkeit und ins Unterwegssein.

Du spürst sicher, dass es bei all dem nicht bloß um Ereignisse geht, die sich vor sehr langer Zeit im fernen Palästina zugetragen haben. Die Gefahr, dass fromme Menschen ihren Gott zu besitzen, über IHN verfügen zu können meinen, besteht immer, bei Christen wie bei Juden. Und was damals, zur Zeit des ersten David geschah, hat durchaus auch mit dem zu tun, was sich schließlich im zwanzigsten nachchristlichen Jahrhundert dort anbahnte und abspielte. Es mag ein merkwürdiger Zufall sein, dass es wieder ein David war (David Ben Gurion), der im Jahr 1948 den neuen Staat Israel ausgerufen hat.

Auch mein kritischer Kollege hatte bei seiner Verurteilung der ersten Staatsgründung in Israel jene letzte im Visier. Er meinte, das sei auch im 19. nachchristlichen Jahrhundert ein Fehler gewesen, dass die Juden einen Staat wollten wie alle anderen Völker. Dabei hat er leider nicht oder zu wenig bedacht, dass die Juden dies ja gar nicht gewollt hätten, wenn man sie nicht förmlich dazu genötigt hätte ...

Wir werden darauf auf unserem Weiterweg sicher noch einmal zurückkommen. Denn wir berühren jetzt zum ersten Mal das Thema Zionismus. Davon hatte unser David Friedländer noch keine Ahnung. Und wenn er davon gewusst hätte, dann hätte er nur entsetzt abgewinkt. Denn er wollte gewiss keinen jüdischen Staat gründen, sondern ganz im Gegenteil: er strebte eine vollständige Eingliederung der jüdischen Minderheit in die christliche Mehrheitsgesellschaft an. In modernen Zeiten, meinte er, sollten die Juden nicht von Jerusalem und Bethlehem träumen, sich vielmehr dort heimisch fühlen und nützlich machen, wo sie sich inzwischen aufhielten und hoffentlich bald volle Bürgerrechte bekommen sollten. Zum Beispiel in Preußen, in Deutschland. Deshalb wollten die jüdischen „Hausväter“ jene uralte jüdische Hoffnung auf eine Heimkehr der Juden ins „Gelobte Land“ lieber vergessen.

Ach, lieber Enkelsohn, war dieser vierte Brief Dir nun ein hilfreicher, ein klärender Umweg? Ich merke, dass ich Dir eine Gewalttour zumute. Aber ich wollte uns beiden doch einmal einen ganz groben Überblick über jene immerhin 3000 Jahre eröffnen, die seit den ältesten biblischen Zeugnissen vergangen sind. Und ich wollte Dich daran erinnern, wie vielfältig unsere Gegenwart mit Ereignissen und Entwicklungen der nahen und auch der sehr fernen Vergangenheit vernetzt ist. Davon sollte, wer sich im Heute orientieren will, wenigstens eine Ahnung haben. Warum all diese alten Vorgänge und Geschichten Deinen Großvater so beschäftigen und beunruhigen, das wird sich bald vollends herausstellen. Doch zuerst will ich Dir im nächsten, dem Fünften Brief noch mehr von David Friedländer erzählen.

Ich grüße Dich mit guten Wünschen und hoffe, dass Du durch diesen Text, seine Vorgänger und seine Nachfolger nicht in solchem „Affentempo“ rasen wirst, wie kürzlich über jene Skipiste. Wie Leid tust Du mir, dass Du Dir dabei einen schweren Sturz zugezogen hast! Und ich bin mit Euch froh, dass Du dabei nichts gebrochen, Dir nur eine blaugrüne Nase verschafft hast. Das geht ja bald vorbei. Glaubst Du übrigens, dass man auch bei der Beschäftigung mit Geschichte und Literatur ausrutschen und auf die Nase fallen kann? Und dass dies unter Umständen nachhaltigere und üblere Folgen haben kann als ein Skiunfall?

Herzlich Dein Großvater

zur Titelseite

zum Seitenanfang

Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email