Urteil statt Vorurteil. Heute:
Jüdischer Wucher - das Vorurteil vom geldgierigen Juden
von Klaus-Peter Lehmann

Das Vorurteil von den geldgierigen Juden zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des christlichen Abendlandes. Neben dem Antijudaismus, den kirchliche Predigt und Lehre verbreiteten, war es die prekäre rechtliche Stellung der Juden im Mittelalter, die sie in den Geldverleih abdrängte und in den Augen der gemeinen Leute zu Ausbeutern des Volkes machte. In wirtschaftlichen und politischen Krisen stempelte man sie immer wieder zum Sündenbock.

Seit dem 12. Jahrhundert zwangen verschiedene Faktoren die Juden, in den Städten zu leben und in der Kleinkreditvergabe ihren Erwerb zu suchen. Die Herrschaft der Kirche machte es ihnen unmöglich einen Platz im Lehnsystem einzunehmen. Ein Ungläubiger konnte weder Lehnsherr noch Untertan werden. Auch der Zugang zu den Zünften war ihnen wegen deren streng christlicher Verfassung versperrt. Gegen die Ausübung geachteter Berufe durch Juden organisierten sich kirchliche Instanzen  (1)  und christlicher Pöbel, auch gegen ihre Tätigkeit in einflußreichem Handel und Geldgeschäften. Selbst im Kreditwesen blieb ihnen nur das Verbrauchsdarlehen offen: Kredite für Ernteausfälle, Bauvorhaben, Krankenbehandlung, Lösegeld für Gefangene. Die Gewährung solcher Zinsdarlehen wurde zum Hauptberuf der vermögenden Juden in England, Frankreich, Deutschland und Norditalien. Der armen Mehrheit blieb der Kleinhandel und der Jahrmarkt. Dennoch stempelte der Feldzug kirchlicher Prediger gegen den jüdischen Wucher die Juden zu geldgierigen Blutsaugern des Volkes. Ein übriges bewirkte das bis 1435 gültige kanonische Zinsverbot. Das Zinsverbot der Tora galt nur für Juden untereinander. So erschien das Bild des von Geldgier getriebenen Judentums wie durch einen Schriftbeweis untermauert.  (2)

Tatsächlich verhielt es sich so, daß den Juden als Kammerknechten des Kaisers und um in einer Stadt leben zu dürfen meist erhebliche sogen. Schutzgelder aufgedrückt wurden, die den Charakter von erpresserischer Ausplünderung hatten. Außerdem war der Zinsfuß auf Krediten, die Juden vergaben, streng geregelt. Dabei stieg die Lebensgefahr für jüdische Geldverleiher mit der Höhe des Kredites. Oft vertrieb man Juden aus den Städten, um sich der Schulden bei ihnen zu entledigen, so z.B. aus Augsburg im Jahr 1348.

Nutznießer des Feindbildes vom jüdischen Wucher bzw. vom jüdischen Kapital waren die Kreise der Gesellschaft, die Kapital akkumuliert hatten, wie die Kirche selbst sowie die neuzeitlichen Handelsgesellschaften und Banken. Der Templerorden z.B. hatte erheblichen Gewinn aus dem Pilgerverkehr ins Heilige Land gezogen. Trotz des kirchlichen Zinsverbots verlieh er Summen an Fürsten gegen Rückzahlungen, die ungleich höher waren als die geliehenen Gelder. Doch niemand beschimpfte sie als Diebe oder Wucherer, die wie Heiden, Ketzer und Juden dem Teufel verfallen seien.

Viele Juden verarmten unter den großen ihnen aufgedrückten Belastungen. So erhob Kaiser Sigismund anläßlich seiner Krönungsfeierlichkeiten eine Sondersteuer. Außerdem mußten die Juden einen großen Teil der Kosten für das Konstanzer und das Basler Konzil vorfinanzieren (Anfang 15. Jahrhundert). Diese Summen konnten sie aus den Erträgen des ihnen erlaubten Geldgeschäftes nicht aufbringen. Zudem gab es seit der Aufhebung des kirchlichen Zinsverbotes immer mehr christliche Geldgeschäfte. Handelshäuser wie die Fugger und Welser liehen Geld gegen Gewinnbeteiligung. Der jüdische Geldhandel wurde zurückgedrängt, die Mehrzahl der Juden verarmte und konnte keine größeren Summen aufbringen. Für lange Zeit waren die Juden aus dem städtischen Handel und der Großfinanz verdrängt.

Trotzdem lebte das Feindbild vom jüdischen Wucherer fort. ‘Der Jude’ wurde auch zum Sündenbock in der neuzeitlichen kapitalistischen Gesellschaft. Dazu beigetragen hat die neutestamentliche Gestalt des Judas, der für 30 Silberlinge seinen Meister verriet und unter dem Einfluß des Klerus zum Stereotyp des machthungrigen Wucherjuden mutierte, der durch den Geldhandel die Gesellschaft aussaugte.

In der Zeit des Absolutismus und Merkantilismus benötigten viele Herrscher für ihre Staatsführung Finanziers, die nicht an ständische Interessen gebunden waren. Auch die Ausweitung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens schuf neue Betätigungsfelder. Vielen Juden gelang der Aufstieg vom Trödel in den Handel. Es bildete sich eine neue Oberschicht aus Ärzten, Gelehrten und Geschäftsagenten. Letztere standen meist im Dienst eines Fürsten (Hofjuden). Andererseits vermehrte sich mit dem rasanten Bevölkerungswachstum die Zahl der Juden, denen sich keine Möglichkeit eines legalen Erwerbs bot. Parallel zur Schicht der deklassierten Christen bildeten sich auch unter den rechtlosen Juden Gauklerscharen, Bettlerhorden und Diebesbanden.

Manche Hofjuden nahmen ein unglückliches Ende. Am bekanntesten ist das Schicksal von Joseph Süß Oppenheimer (1692-1739), finanzieller Berater des Herzogs Alexander von Württemberg. Er führte unpopuläre Steuern ein, errichtete Staatsmonopole u.a. für Leder und Wein und ließ Abgaben polizeilich eintreiben. Das sanierte die Staatskasse, stärkte den absoluten Herrscher und brachte Bevölkerung und Landstände gegen ihn auf. Da ihm auch Bereicherung und Bestechung nachgesagt wurden, konnte sich, nachdem der Herzog gestorben war, der Hass des Volkes ungehemmt auf den Hofjuden als Sündenbock entladen. Ohne Schuldbeweis zum Tode verurteilt, wurde seine Exekution zum offiziellen Volksspektakel. Als er die Leiter zum Todeskäfig mit dem Schma Jisrael auf den Lippen bestieg, sandte der Pfarrer, der ihn taufen wollte, ihm einen Fluch nach. „Jud Süß“, wie ihn der Volksmund nannte, wurde exekutiert und sein Leichnam in einem Käfig am Balken eines Galgens zur Schau gestellt, „den Raben zum Fraß.“  (3)

Im 19. und 20. Jahrhundert politisierte sich das Feindbild vom geldgierigen Wucherjuden zum Wahnbild vom internationalen Finanzjudentum. Dieses sauge die nationalen Volkskörper durch Wuchergeschäfte parasitär aus und sei auf dem Weg, mit der dadurch gewonnenen Macht die Weltherrschaft an sich zu reißen. Es sei verantwortlich für das Entstehen einer am Profit orientierten kapitalistischen Wirtschaft als auch für deren Krisen, durch die es sich bereichere und seine Macht zu vergrößere. Die sogen. > Protokolle der Weisen von Zion sollten dieses Feindbild quasi beweisen. Der nationalsozialistische Hetzfilm „Jud Süß“ war ein Machwerk des vollkommen politisierten Antisemitismus.

Anmerkungen:

  1. Das 4. Laterankonzil (1215) erneuerte das kanonische Gesetz, nach dem ein christlicher Fürst Juden kein Amt verleihen durfte.
  2. Das Zinsverbot des Alten Testaments (2Mose 22,25; Ps 15,5) gilt zunächst Israel, um Vorbild für andere Völker zu sein.
  3. Bildbericht von Oppenheimers Hinrichtung von 1738

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