Kein Raum für „rassejüdische“ Christen
von Doris Stickler

Ganz auf der Linie der nationalsozialistischen Rassenlehre schloss die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau 1941 Gemeindemitglieder mit jüdischen Vorfahren aus. Erst jetzt beginnt man, dieses wenig ruhmreiche Kapitel der Kirchengeschichte zu erforschen.

„Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht.“ Mit diesen klaren Worten verbannte die Evangelische Landeskirche von Nassau-Hessen im Dezember 1941 mehrere tausend „nichtarische“ Mitglieder aus ihren Gemeinden. Der Besuch von Gottesdiensten, die Teilnahme am Abendmahl und die Bestattung auf christlichen Friedhöfen wurde ihnen fortan verweigert.

Pfarrer Volker Mahnkopp fand heraus, was es mit diesem gotischen Glasfenster in der Sakristei der Lukaskirche in Sachsenhausen auf sich hat: Das vermutlich wertvolle Kunstwerk, das den Evangelisten Johannes zeigt, hat Marie Kalischer 1953 dem damaligen Pfarrer Otto Haas vermacht – wohl aus Dankbarkeit dafür, dass dieser 1938 ihren von den Nationalsozialisten als „jüdisch“ kategorisierten Ehemann christlich beerdigt hatte. Allerdings sympathisierte Haas zu anderen Gelegenheiten durchaus mit den Anschauungen der Nazis.

„Was bleibt dann noch von Kirche, Taufe, Sakrament und Bibel?“ notierte die 1903 zum Protestantismus konvertierte Claire von Mettenheim in ihr Tagebuch. „Damit ist doch alles hinfällig.“ Als Verrat am Evangelium wurde die Verfügung der aus „Deutschen Christen“ bestehenden Kirchenleitung auch von Pfarrern der Bekennenden Kirche eingestuft, die sich gegen staatlichen Einfluss auf kirchliche Belange zur Wehr setzten. Gegen die bürgerliche Entrechtung ihrer „nichtarischen“ Glaubensgeschwister begehrten allerdings auch in der Bekennenden Kirche nur einzelne auf.

„Wir haben geschwiegen, wo wir hätten reden müssen“, gestand 1946 der Paulskirchenpfarrer Karl Veidt. Dabei war er einer der wenigen gewesen, die sich tatsächlich für Verfolgte eingesetzt hatten. Die Mehrheit seiner Kollegen versagte den „Judenchristen“ Unterstützung und Schutz und gab sie damit den Hetzjagden der Nazis frei. Der His­torikerin Ursula Büttner zufolge hob ein Bekenntnispfarrer sogar noch 1947 „die Fremdheit der Christen jüdischer Herkunft“ hervor. Im selben Jahr lehnte das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland ein Sonderprogramm ab, das Betroffenen die Rückkehr in den Alltag erleichtern sollte.

Erst in den 1970er Jahren habe die Kirche langsam begonnen, sich einzugestehen, „wie viel sie ihren als Juden verfolgten Mitgliedern schuldig geblieben war“, so die Wissenschaftlerin. Die ersten landeskirchlichen Forschungsprojekte starteten Anfang der 1990er Jahre. Seit 2007 wird offiziell auch „Der Umgang der Evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft während der NS-Zeit und nach 1945“ beleuchtet.

Der seit langem mit der Thematik befasste und an dem Projekt beteiligte Frankfurter Publizist Hartmut Schmidt vergleicht die Nachforschungen mit einem Puzzle, bei dem maßgebliche Teile fehlen. „Es gibt heute nicht mehr viele Menschen, die sich erinnern können, was in ihrer Nachbarschaft oder gar in ihrem Haus geschah.“ Um die Ereignisse zu rekonstruieren, bleibt nur die Wühlarbeit in Archiven. So stöberte Schmidt elf Pakete mit Fragebögen auf, die eine 1946 von Bekenntnispfarrern eingerichtete „Hilfsstelle für rassisch verfolgte Christen in Frankfurt“ gesammelt hatte. Anhand dieser Unterlagen konnte er etwa neunzig Prozent der rund 2500 evangelischen Christinnen und Christen jüdischer Herkunft, die 1939 in Frankfurt gelebt hatten, zumindest namentlich erfassen und einer Gemeinde zuordnen. Die wahre Dimension des dahinter verborgenen Leids könne er freilich nicht erschließen. Ziffern gäben auch keine Auskunft darüber, wie Pfarrer oder Gemeindemitglieder auf die Verfolgung ihrer Glaubensgeschwister reagierten, so Schmidt.

Zur Petersgemeinde im Nordend zählten mit über 80 Personen besonders viele Betroffene. Wie Hartmut Schmidt herausfand, wurde etwa ein Drittel von ihnen in die Konzentrationslager Auschwitz oder Theresienstadt deportiert. „Die anderen mussten Zwangsarbeit leisten oder waren anderen Schikanen und Entrechtungen ausgesetzt.“ Anlässlich des 70. Jahrestags der Pogromnacht im vergangenen Jahr richtete die Gemeinde einen Gedenkgottesdienst aus, an dem sich auch die Konfirmandinnen und Konfirmanden beteiligten. Pfarrerin Lisa Neuhaus begreift das als „eine Art Buße für kirchliches Unrecht, das nicht nur an Juden, sondern auch an Christen jüdischer Herkunft verübt worden ist.“ Sehr viele Menschen hätten teilgenommen, darunter auch eine alte Frau, die selbst verfolgt worden war und sich unter Tränen für diese „späte Anerkennung ihres Leidensweges und des erlittenen Unrechts“ bedankt habe, so Neuhaus.

Auf die Suche nach Erkenntnissen machte sich auch Pfarrer Volker Mahnkopp. Weil er wissen wollte, ob sich die Sachsenhäuser Lukasgemeinde (aus der inzwischen durch Fusion die Maria Magdalena-Gemeinde geworden ist) „im Nationalsozialismus bewährte“, hat der Theologe im vergangenen Jahr Studienurlaub genommen. Drei Monate lang durchforstete er die zwischen 1929 und 1944 verfassten Protokollbücher sowie Akten und 500 handschriftliche Predigten. Die Materialfülle hat Mahnkopp zwar einen profunden Einblick in die Gemeindegeschichte beschert, doch wenig klare Befunde.

„Es gibt so gut wie keine eindeutigen Geschichten“, bilanziert er. Der damalige Gemeindepfarrer Otto Haas zum Beispiel habe zwar die Mitgliedschaft seines Kollegen in der Bekennenden Kirche res­pektiert und heimlich „nichtarische“ Gemeindemitglieder versorgt. Doch andererseits lehnte er, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bereits seit 1936 kirchliche Amtshandlungen für „nichtarische“ Christen ab und verweigerte die Taufe eines Kindes, dessen Vater Jude war.

Eine Ausnahme war die Beerdigung von Georg Kalischer im Dezember 1938 auf dem Südfriedhof. Im Zuge der Pogromnacht war Kalischer als Christ jüdischer Herkunft und führender IG Farben-Chemiker nach Buchenwald verschleppt und so schwer misshandelt worden, dass er drei Tage nach seiner Rückkehr starb. Kalischers Witwe vermachte der Gemeinde 1953, wohl aus Dankbarkeit für Haas’ Unterstützung, ein Glasfenster für die Sakristei.

Angesichts der vielen Ungereimtheiten maßt sich Mahnkopp kein definitives Urteil an. Dass die Gemeinde „in zwei Lager gespalten“ war mit einem „klar nationalsozialistisch gesinnten“ Kirchenvorstand und einem eher kritischen Bruderrat, dürfte damals kein Einzelfall gewesen sein. In der Hoffnung, dass es seinen Kolleginnen und Kollegen „Appetit macht, auch in ihren Gemeinden zu recherchieren“, fasste Mahnkopp das Resultat seiner Forschungen in einer 90-seitigen Broschüre zusammen. Die drei Forschungsmonate, soviel ist klar, waren nur der Auftakt. Er fange erst jetzt an, sich „um konkrete Einzelschicksale zu kümmern“. Wie etwa das der zur Lukasgemeinde gehörenden Schauspielerin Martha Habermehl. Getauft und mit einem Protestanten verheiratet, kam sie ohne Argwohn drei Tage vor der Konfirmation ihres jüngsten Sohnes einer Vorladung der Gestapo nach. Sie kehrte nie mehr zurück. Fünf Monate später erhielt Familie die lapidare Nachricht, Martha Habermehl sei am 23. Juli 1943 in Auschwitz „verstorben“.

 

Die perfide Rasselogik der Nazis

In der nationalsozialistischen Rassenideologie war die Konfessionszugehörigkeit ohne Belang. Christinnen und Christen, die keinen arischen Stammbaum vorweisen konnten, wurden genauso wie Angehörige der jüdischen Religion als „jüdisch“ eingeordnet und entsprechend verfolgt.

Diese christlichen „Nichtarier“ waren in jeder Hinsicht heimatlos. Als Christen fanden sie in den jüdischen Organisationen keine Zuflucht, und aus den Kirchengemeinden wurden sie wegen ihrer jüdischen Abstammung ausgeschlossen. Ab 1943 wurden auch sie in Konzentrationslager verfrachtet und ermordet.

Relativ unbehelligt blieben sie lange Zeit jedoch, wenn sie in so genannten „privilegierten Mischehen“ lebten, also einen „arischen“ Ehepartner hatten. Andernorts in Deutschland wurde diese Gruppe erst in den letzten Kriegsmonaten deportiert – nicht jedoch in Frankfurt. Hier wütete die Gestapo besonders brutal und startete bereits 1943 eine „Aktion Mischehepartner“: Die Betroffenen wurden vorgeladen, verhört, gequält und deportiert.
Doris Stickler

aus: Evangelisches Frankfurt, Februar/März 2009

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