… wie dich selbst
Bibelarbeit auf dem Bremer Kirchentag zu Lukas 10,25–37
von Jürgen Ebach

Zu Beginn dieser Bibelarbeit, liebe Zuhörende, lese ich den Text aus Lukas 10 in der Kirchentagsübersetzung:

Und seht! Ein Toragelehrter erhob sich, um ihn herauszufordern, und sagte: „Lehrer, mit welchem Tun bekomme ich Anteil am unvergänglichen Leben?“ Jesus sprach zu ihm: „In der Tora – Was steht da geschrieben? Wie liest du sie?“ Er antwortete ihm und zitierte: „Du sollst Adonaj, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deine Nächste, deinen Nächsten wie dich selbst.“ Jesus sprach zu ihm: „Du hast richtig geantwortet. Tu das! Und du wirst leben.“

Der wollte seinerseits dem gerecht werden und sagte darum zu Jesus: „Und wer ist mein Nächster, wer meine Nächste?“ Jesus nahm diese Frage auf und sprach:

„Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel Straßenräubern in die Hände. Diese plünderten ihn aus, misshandelten ihn, machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig ging ein Priester den Weg hinab, sah ihn und ging auf der anderen Seite vorbei. Ebenso kam ein Levit zu der Stelle, sah ihn und ging auf der anderen Seite vorbei. Da kam ein Reisender, einer aus Samaria, dorthin, sah ihn und es ging ihm durch und durch. Er lief zu ihm hin und verband seine Wunden, wobei er Öl und Wein darauf goss. Dann hob er ihn auf sein eigenes Tier, brachte ihn in ein Gasthaus und kümmerte sich um ihn. Am folgenden Tag holte er zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sagte: ‚Kümmere dich um ihn! Und falls du mehr ausgibst, will ich es dir bei meiner Rückkehr bezahlen.‘

Was meinst du: Wer von den dreien ist dem der Nächste geworden, der den Räubern in die Hände gefallen war?“ Er sprach: „Der ihm durch sein Tun Barmherzigkeit erwiesen hat.“ Jesus antwortete ihm: „Geh und handle du entsprechend!“

Bevor ich versuche, mit diesem Text aus dem Lukasevangelium ins Gespräch zu kommen, indem ich ihm schrittweise folge und frage, welches Licht er auf die Kirchentagslosung wirft, möchte ich Sie etwas fragen. Wie ging es Ihnen beim Hören des Textes? Manchen von Ihnen ist er gewiss seit langem vertraut. Sie haben, denke ich mir, an einigen Stellen gestutzt, an denen die Kirchentagsübersetzung vom Wortlaut der Lutherbibel abweicht. Manche von Ihnen waren vielleicht froh, diesen dichten Text zu Beginn im Zusammenhang zu hören. Aber ich frage Sie alle ernsthaft: Waren Sie an der einen oder anderen Stelle wirklich gespannt, wie es weiter geht? Haben Sie mit Bestürzung gehört, wie da zwei an dem geschlagenen und misshandelten Opfer vorübergingen? Waren Sie verblüfft, dass ausgerechnet einer aus Samaria nicht vorüber ging, sondern tätige Nächstenliebe übte? Ich vermute, dass die allermeisten von Ihnen diese Fragen verneinen müssten. Denn wir kennen die Geschichte schon; wir kennen das Erzählmotiv und wissen, dass nach den beiden, die das Falsche tun, der Dritte das Richtige tun wird. Und wir wissen auch schon, dass es der „Samariter“ ist, der hilft. Ein „Samariter“ ist in unserem Sprachgebrauch eben einer, der hilft. Um es ganz platt zu sagen: Der kommt doch schon mit seinem Auto, auf dem „Samariterhilfsdienst“ steht.

Zu vielen Bibeltexten finden Menschen heute schwer einen Zugang, weil sie von so weit her kommen und so fremd sind. Aber es gibt auch das Umgekehrte: Manche Geschichten der Bibel sind uns zu vertraut, als dass sie uns noch etwas zu sagen hätten. Mit Texten ist es da wie mit Menschen. Manche sind uns zu fremd, um mit ihnen etwas anfangen zu können. Aber es gibt auch da das Umgekehrte: Manche sind uns zu vertraut, als dass sie uns noch überraschen könnten. Aber glücklicherweise ist ja nicht das Fremde stets unverständlich und das Vertraute stets langweilig. Auf das Vertraute dürfen wir eben vertrauen und lieben Menschen gestehen wir zu, dass sie immer wieder erzählen, was wir schon kennen. Wenn ich im Heiligabendgottesdienst die Weihnachtsgeschichte höre, möchte ich sie als eine schon lange bekannte und im Wortlaut vertraute Geschichte hören. Schön ist es aber auch, im Fremden etwas Nahes und im Vertrauten etwas Überraschendes zu entdecken – bei Menschen und bei Texten. Auf Neues und so noch nicht Gesehenes aufmerksam zu machen ist bei biblischen Texten die Aufgabe von Exegetinnen und Exegeten. Sie sollten sie, meine ich, in zweierlei Richtung wahrnehmen. Sie sollten das Fremde so genau anschauen, dass es ein wenig vertrauter wird, und sie sollten das Vertraute so genau anschauen, dass es ein wenig fremder wird.

Versuchen wir also, den bekannten Text aus Lk 10 neu zu hören – eine frische Übersetzung mag dabei helfen. Die Übersetzung der Texte für den Kirchentag ist – das möchte ich betonen – keineswegs ein Versuch, die Lutherbibel zu modernisieren. Die Kirchentagsübersetzungen wollen dem Wortlaut der hebräischen und griechischen biblischen Originaltexte gerecht werden und so genau wie möglich deren Aussagen wiedergeben. Dabei gibt es – auch das sage ich immer mal wieder – nicht die richtige Übersetzung. Niemand von uns, die wir die Kirchentagsübersetzungen gemeinsam erarbeitet haben, würde rundweg behaupten, die Lutherbibel enthalte die falsche und wir präsentierten nun die richtige Übersetzung. Aber es gibt gerade bei unserem heutigen Bibelarbeitstext Übersetzungen, die den Zugang zum Text selbst verstellen. Dabei geht es nicht nur um Spezialfragen für Grammatiker und Sprachwissenschaftlerinnen. Denn da gibt es eine Übersetzungskonvention, die den Schriftgelehrten, der Jesus befragt und ihn so zum Erzählen des Gleichnisses vom barmherzigen Samaritaner bewegt, zu einem Gegner macht, der Jesus aufs Glatteis führen will und Fangfragen stellt. So wird unser Text zu einem, der Jesus in einen Gegensatz zum Judentum bringt. Das will ich aber nicht abstrakt verhandeln, sondern an den betreffenden Stellen selbst zur Sprache bringen. Lassen wir uns also ein auf das Gespräch mit diesem bekannten Text, das, wenn es intensiv genug wird, womöglich doch Überraschungen bereit hält.

Und seht! Ein Toragelehrter erhob sich, um ihn herauszufordern, und sagte ... Der Einsatz ist zugleich Fortsetzung. Die Evangelien bilden eine Folge von Sequenzen, in denen jeweils etwas Neues beginnt und die doch einen Zusammenhang haben. Voraus geht die Rückkehr der von Jesus ausgesandten 70 oder 72 Jüngerinnen und Jünger – es gibt mehr als „die Zwölf“ und es sind Männer und Frauen, die Jesus nachfolgen und von und mit ihm lernen. Jesus spricht sie selig, denn sie haben die Nähe Gottes verspürt. Und dann steht ein Toralehrer, ein Schriftgelehrter auf und wendet sich an Jesus. Wir erfahren sogleich, in welcher Weise er es tut, nämlich – so der griechische Text – ekpeirazōn. Aber was heißt das? Das ist ein erster Punkt, bei dem die jeweilige Übersetzung mit einem Vorzeichen vor der Klammer den Ton vorgibt. Er „versuchte ihn“, lesen wir in den Lutherbibeln, die Kirchentagsübersetzung lässt ihn Jesus „herausfordern“. In der Tat, er stellt eine herausfordernde Frage, er will herauskriegen, ob Jesus etwas zu sagen hat. Ich bin kein jüdischer Toragelehrter, aber als Alttestamentler, der die hebräische Bibel studiert und lehrt, empfinde ich diesen Lehrer ein wenig als Fachgenossen. Wenn ich einen Kollegen oder eine Kollegin höre und den Eindruck habe, sie hätten wirklich etwas zu sagen, stelle ich versuchsweise Fragen, die mir wichtig sind und auf die ich selbst allenfalls fragende Antworten habe. So verstehe ich es auch in unserem Text. Insofern geht es tatsächlich um einen Versuch und die Lutherbibel übersetzt nicht falsch. Aber unweigerlich hören wir bei „er versuchte ihn“ den Versucher mit und so wird der jüdische Fragesteller und Diskussionspartner zu einer teuflischen Gestalt. Er fragt etwas, aber er tut es nur, um Jesus in Versuchung zu führen, ihm eine Falle stellen, in die er tappt, wenn er keine Antwort weiß oder eine, die nicht im Einklang mit der anerkannten Lehre steht. So wird der Eindruck des bösen Versuchers zum Vorzeichen für alles Weitere. Bei einer Rechenaufgabe wendet ein negatives Vorzeichen vor der Klammer auch die positiven Zeichen in der Klammer ins Negative. Darum liegt hier so viel an der Übersetzung. Ich stelle mir einen Schriftgelehrten vor, der herausfinden will, ob Jesus ihm bei einer für ihn entscheidenden Frage zu einer Einsicht verhelfen kann. Er redet ihn respektvoll als „Lehrer“ an. Luthers Wiedergabe des Wortes didaskalos – Lehrer mit „Meister“ macht aus einem jüdischen Lehrhaus einen mittelalterlichen Handwerksbetrieb; auch das entfernt Jesus aus der Welt des biblischen Judentums. Der Torakundige fragt:

„Lehrer, mit welchem Tun bekomme ich Anteil am unvergänglichen Leben?“

Das ist in der Tat eine herausfordernde Frage. Wer vermöchte sie schlüssig zu beantworten? Wäre Jesus der Stifter einer neuen Religion, zu der er den Fragenden bekehren wollte, würde er jetzt womöglich deren zentrale Glaubens- und Lehrsätze formulieren. Da er das nicht ist, tut er das nicht, sondern stellt, um es zunächst formal zu beschreiben, eine Gegenfrage. Das ist gut jüdisch. Fragt einer einen Juden: „Warum beantwortet ein Jude jede Frage mit einer Gegenfrage?“ – – „Und warum sollte er nicht?“ Das ist die formale Seite der Antwort Jesu, die inhaltliche ist: Der Rabbi aus Nazaret verweist seinen fragenden Kollegen auf das, was für beide die alleinige Quelle einer Antwort sein kann – auf die Tora: Jesus sprach zu ihm: „In der Tora – Was steht da geschrieben? Wie liest du sie?“

Ein kleines Wort verdient Aufmerksamkeit. Jesus fragt nicht: „Was liest du“ (so in der Lutherbibel), sondern „Wie liest du?“ Die Formulierung enthält etwas für jede „Schriftreligion“ Bedeutsames. Es geht nicht allein um das, was in den normativen Texten steht, sondern immer auch darum, wie man sich auf die normativen Texte bezieht. Lesen ist immer auch Interpretieren. Das kann darin bestehen, einen Satz, ein Wort, ein Gebot in einer bestimmten Weise auszulegen, wobei dann nicht selten Auslegung gegen Auslegung steht. Das kann in der Gewichtung von Sätzen, Worten, Weisungen bestehen, aber auch darin, Worte, die an verschiedenen Stellen der „Schrift“ stehen, in einen Zusammenhang zu bringen. Die Antwort des Toralehrers zeigt eben das, d.h. nicht nur, was er in der Tora liest, sondern wie er liest. Er liest so, dass er zwei Sätze aus verschiedenen Büchern der Tora, aus unterschiedlichen Mosebüchern, zusammenbringt. Beides ist kennzeichnend, das Zitieren und die Quintessenz, die aus diesem komplementären Zitieren folgt:

Er antwortete ihm und zitierte: „Du sollst Adonaj, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deine Nächste, deinen Nächsten wie dich selbst.“

Das eine Zitat steht in 5 Mose 6,5. Es ist der Satz, welcher auf das und aus dem schma jisrael folgt, dem „Höre, Israel!“, dem Grundbekenntnis Israels zu Adonaj als dem einen und einzigen Gott. Lukas lässt es den Toralehrer in griechischer Sprache sagen – „Du sollst Adonaj, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken“ – und er lässt ihn unmittelbar mit dem Zitat eines anderen Grund-Satzes der Tora fortfahren. Auch in ihm, in 3 Mose 19,18, ist Liebe geboten, hier aber nicht Gottesliebe, sondern Nächstenliebe. Wie sehr beide Sätze zusammengehören, zeigt sich daran, dass der Imperativ „liebe!“ aus dem Gebot der Nächstenliebe nicht eigens mitzitiert werden muss, weil die Liebesforderung beides verbindet. Darum kann er, wie wenn es ein einziges Gebot wäre, fortsetzen: „und deine Nächste, deinen Nächsten wie dich selbst.“ Indem der Toralehrer so zitiert, d.h. nicht den einen und dann noch den anderen Satz aufsagt, sondern beide zu einem zusammenfügt, zeigt er, wie er liest. Gottesliebe und Nächstenliebe bilden in seinem Tora-Lesen eine Einheit; da steht nicht das eine hier und das andere auf einem anderen Blatt. Gottesliebe, die nicht auch Nächstenliebe ist, ist keine Gottesliebe.

Noch immer kann man hören, das Gebot der Nächstenliebe sei etwas Neutestamentliches, etwas, das Jesus gegen das Judentum gesagt habe. Darum ist immer wieder zu betonen, dass es sich um ein zentrales Gebot der hebräischen Bibel handelt, und ebenso, dass in 3 Mose 19 nicht nur das Gebot der Nächstenliebe steht, sondern wenige Verse danach auch die Weisung: „Liebe die Fremden wie dich selbst!“ (19,34). Und auch die Zusammenfügung der beiden Gebote ist jüdische Tradition und keine jesuanische Besonderheit gegenüber dem Judentum. In einem jüdisch-hellenistischen Text, den „Testamente(n) der zwölf Patriarchen“, heißt es: „Liebt nur Adonaj und eure Nächsten!“ und ganz in der Linie des in unserem Text folgenden Gleichnisses lautet die Fortsetzung: „Habt Mitleid mit den Schwachen und den Armen!“1 In den Parallelen zu unserem Text bei Matthäus und Markus ist es Jesus, der beide Gebote in eins zusammenfasst, bei Lukas ist es der Fragende. Darum verwundert die Fortsetzung nicht:

Jesus sprach zu ihm: „Du hast richtig geantwortet. Tu das! Und du wirst leben.“

Auch in dieser Antwort steckt ein Zitat aus der Tora. In 3 Mose 18,5 heißt es: „Ihr sollt meine Ordnungen bewahren und meine Rechtsbestimmungen, durch die wird der Mensch, der sie tut, leben.“ Halten wir fest: Jesus und ein anderer jüdischer Schriftgelehrter sind sich über Grundfragen des Glaubens und des Tuns einig. Wäre das nicht (so bemerkte mein Kollege Martin Leutzsch einmal) eine schöne Überschrift für unseren Text und hätte er nicht womöglich eine andere Wirkungsgeschichte, wenn statt „Der barmherzige Samariter“ das seine Überschrift wäre? Auch die in vielen Bibelausgaben hinzugefügten Überschriften sind so etwas wie Vorzeichen vor der Klammer und wenn man denn schon solche Überschriften hinzufügt, wäre es gut, wenn sie im Neuen Testament auch die Übereinstimmungen zwischen dem Juden Jesus und anderen jüdischen Menschen kennzeichneten. Jesus und ein anderer Torakundiger sind sich über die zentrale Rolle der Gottes- und der Nächstenliebe und über deren unauflöslichen Zusammenhang einig. Sie stimmen auch darin überein, dass es um das Tun geht. „... mit welchem Tun bekomme ich Anteil am unvergänglichen Leben?“ hatte der Toralehrer gefragt; es geht ihm um das, was er tun muss, und nicht um abstrakte Glaubenssätze. Aber warum ist der Diskurs der beiden Toralehrer nicht beendet, wenn doch beide einer Meinung sind und sich, wichtiger noch als jede Meinung, auf dieselben Worte der Tora als die entscheidenden beziehen? Die Geschichte ist nicht zu Ende, weil der Toralehrer Jesus noch die weitere Frage stellt, wer denn sein Nächster, seine Nächste sei. Abermals steht davor eine Bemerkung, die sagt, warum er das tut. thelōn dikaiōsai heauton heißt es im griechischen Text. Und damit sind wir bei einem weiteren Knackpunkt der Übersetzung. Ich stelle Ihnen mehrere Verdeutschungen vor: „Der aber wollte sich rechtfertigen“ übersetzt die Neue Zürcher Bibel von 2007. Pointierter heißt es in den Lutherbibeln: „Er aber wollte sich selbst rechtfertigen“. Anders akzentuiert die katholische Einheitsübersetzung: „Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen“. „Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage ins rechte Licht rücken und bat um eine weitere Erklärung“ paraphrasieren Klaus Berger und Christiane Nord. In der Kirchentagsübersetzung heißt es: „Der wollte seinerseits dem gerecht werden“, d.h. er fragte weiter, weil er eben das tun und seinen eigenen Vorsatz einlösen wollte. Auch hier gibt es nicht falsche und richtige Übersetzungen, geschweige denn viele falsche und die eine richtige. Doch jede dieser Übersetzungen gibt der dann folgenden Frage, wer die und der Nächste sei, ihre eigene Färbung.

Ich vermute, dass diese zweite Frage die erste ergänzen, begründen und in diesem Sinn rechtfertigen soll. Wenn zur Beantwortung der Frage nach dem unvergänglichen Leben das bloße Zitieren aus den Mosebüchern ausreicht, wenn zudem der Fragende wie der Gefragte diese Schriftstellen so gut kennen wie unsereins das „Kleine Einmaleins“, dann war die Frage nicht sehr originell. Geeignet, die Kompetenz Jesu zu prüfen, war sie schon gar nicht. Darum, so kann man das verstehen, schiebt der Toralehrer eine weitere Frage nach, um nicht dazustehen wie einer, der etwas Triviales gefragt hat, das er sich leicht hätte selbst beantworten können.

Der Wortlaut der Lutherbibel legt eine andere Tendenz nahe. „Er aber wollte sich selbst rechtfertigen“, steht da. Diese Formulierung ist problematisch. Denn das Wort „rechtfertigen“ hat nicht zuletzt durch Luther selbst über den Alltagssprachgebrauch hinaus eine hochtheologische Bedeutung. „Rechtfertigen, Rechtfertigung, Rechtfertigungslehre“ – das sind reformatorische Kernbegriffe. Mit der Wiedergabe „sich selbst rechtfertigen“ bekommt der Text ein Verstehensgefälle, welches ihn, davon bin ich überzeugt, gründlich verfehlt. Aus einem, der die Berechtigung einer Frage durch eine Zusatzfrage bekräftigen will, wird einer, der selbstgerecht ist. Der Fragesteller wird zum Zerrbild vermeintlicher jüdischer Werkgerechtigkeit, zu einem, der das „Gesetz“ repräsentiert und dem Jesus das „Evangelium“ entgegen hält. So erhält die Geschichte eine verhängnisvolle Kontur, in der Gesetz gegen Evangelium, Wortklauberei gegen konkretes Tun, abstrakte Rechthaberei gegen Barmherzigkeit und am Ende der sozusagen schon „christliche“ Samariter gegen den und die Juden zu stehen kommen. So aufgeladen wurde dieser Text zusammen mit anderen in ähnlicher Tendenz gelesenen zur Waffe gegen das vermeintlich Jüdische und in der Reformation und den Zeiten danach zugleich zur Waffe gegen die in den Vorwurf der Werkgerechtigkeit einbegriffenen Katholiken. Die Übersetzung „Er aber wollte sich selbst rechtfertigen“ ist grammatisch nicht falsch, sie gibt die Wörter richtig wieder. Aber sie ist in ihren Worten, in dem, was da zum Klingen und zum Mitklingen kommt, problematisch oder wird spätestens dann, wenn man hier einen Menschen sieht, der sich selbst rechtfertigen will, der meint, das eigene Seelenheil selbst bewirken zu können.

Versteht man den Satz so, dass er seine Frage rechtfertigen will, d.h. schlicht darauf besteht, dass er keine dumme Frage gestellt hatte, dann klingt es anders. Ich höre darum in der kleinen Differenz zwischen der Neuen Zürcher Bibel (Der aber wollte sich rechtfertigen) und der Lutherbibel (Er aber wollte sich selbst rechtfertigen) einen großen Unterschied. Bezieht man die Bemerkung auf die zuvor gestellte Frage zurück, plädiere ich dafür, im Deutschen das und nur das auszudrücken, etwa mit der vorhin zitierten Fassung der Einheitsübersetzung: „Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen“. Warum er das mit seiner weiteren Frage tut, wer sein Nächster sei, müssen wir noch bedenken. Aber zuvor möchte ich – mit der Kirchentagsübersetzung – eine weitere Möglichkeit ins Spiel bringen. Sie nämlich hört im dikaiōsai heauton nicht die Absicht, die zuvor gestellte Frage als recht zu erweisen, sondern die Absicht, seinerseits das Rechte zu tun, d.h. eben das, was aus den Geboten folgt. In dieser Verstehensmöglichkeit hieße der ganze Satz: Der wollte seinerseits dem gerecht werden und sagte darum zu Jesus: „Und wer ist mein Nächster, wer meine Nächste?“

Jesus nimmt diese Frage auf. Die Parabel von dem, der unter die Räuber gefallen war, mit der Frage, wer ihm zum Nächsten wurde, wird zur Antwort auf diese Frage. Um zu ahnen, warum dazu eine, nämlich diese Geschichte erzählt wird, könnten wir einen Moment überlegen, was für eine Antwort es denn auf die Frage geben könnte: „Und wer ist mein Nächster, wer meine Nächste?“ Schon die deutschen Wörter „der Nächste“, „die Nächste“, „die Nächsten“ sind mehrdeutig. Auch wenn man „den Nächsten“ im Gebot der Nächstenliebe nicht im Sinne der Aufforderung „Der Nächste bitte!“ verstehen wird, bleibt doch eine große Bandbreite. Sie reicht von der Bezeichnung der „Nächsten“ als der ganz nahen Angehörigen bis zum Verstehen der Nächstenliebe als universaler, allen Menschen geltenden Forderung. „Und wer ist mein Nächster, wer ist meine Nächste?“ Schon das deutsche Wort zeigt, dass die Antwort nicht einfach ist. Mit dem griechischen Wort plēsion und dem in 3 Mose 19,18 selbst stehenden hebräischen Wort rea verhält es sich ähnlich. Seine Bedeutung reicht von den Geliebten über die Familienangehörigen und Nachbarn und weiter die Angehörigen des eigenen Volkes bis zur universalen Bedeutung „Mitmensch“. Ginge es nur um die Frage, was das Wort „Nächste“ meinen kann, so wäre die wohl so zu beantworten: Es kann vieles bedeuten und was es konkret bedeutet, zeigt sich im konkreten Fall. Doch genau um diesen konkreten Fall geht es. Was heißt es, den Nächsten zu lieben? Was für eine Liebe ist da gemeint? In der jüdischen Auslegung dieses Gebots geht es nicht um eine Gesinnung oder ein bloßes Gefühl, sondern um das Tun. Auch darin sind sich Jesus und der andere jüdische Schriftgelehrte einig. Da will nicht der eine über abstrakte Worte diskutieren und der andere meint das konkrete Tun.

Aber gerade wenn es ums Tun geht, muss ich doch wissen, wem ich welches Tun schuldig bin. Die Liebe zu meinem Kind ist eine andere als die zu meinen näheren und fernen Mitmenschen. Was heißt Nächstenliebe angesichts der Flutopfer in einem fernen Land in Asien oder der AIDS-Toten in Afrika? Was bedeutet Nächstenliebe, wenn es um den kranken Nachbarn geht, was, wenn es um die Hartz IV-Empfängerinnen geht, aber auch um manche Manager mit ihrem mehr als zweifelhaften Tun? In welcher Weise haben meine Steuererklärung und mein Verhalten im Straßenverkehr mit der Nächstenliebe zu tun? Sind die Opfer eines Amokläufers in einer süddeutschen Kleinstadt meine Nächsten? Und wie steht es mit dem Täter selbst? Wenn ich all das, was da jeweils wie zu tun ist, unter den Begriff der Nächstenliebe fasse, wird es rasch abstrakt und die Verwechslung der Ebenen kann fatal sein. Kann universale Nächstenliebe konkret sein? Alle Menschen zu lieben kann leichter sein als einen konkreten einzelnen. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die ich vor Jahren von einer Studentin hörte:

Da saß eine Therapiegruppe in einem Stuhlkreis und alle sollten aussprechen, was sie belaste. Eine Frau sagte mit gesenktem Kopf: „Niemand liebt mich.“ Ein Mann ihr gegenüber reagierte: „Doch, ich liebe dich.“ Die Frau wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie blickte verwundert und scheu-beglückt auf, schaute ihn etwas verlegen an – und der Mann sagte: „Ich liebe doch alle Menschen; warum sollte ich ausgerechnet dich nicht lieben?“

Die Geschichte spricht für sich. Sie zeigt tragikomisch, was geschieht, wenn das Besondere im Allgemeinen ersäuft. Sie zeigt aber auch die Notwendigkeit von Unterscheidungen. Was bin ich wem schuldig? Wie weit reicht meine Verpflichtung zum konkreten Tun? In der jüdischen Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe geht es stets um das konkrete Tun. Übrigens könnte Liebe als Gefühl ja auch kaum geboten werden. Der mittelalterliche jüdische Religionsphilosoph Maimonides sagt in einer Auslegung, es gehe darum, „Kranke zu besuchen, Trauernde zu trösten, Bräute auszustatten, für vorüberziehende Wanderer zu sorgen, alles Notwendige zur Beisetzung eines Toten zu tun und auch das junge Paar an seinem Hochzeitstag zu erfreuen.“2 Diese Beispiele tätiger Nächstenliebe schließen soziale und dabei auch ökonomische Verpflichtungen ebenso ein wie das von Religion und Pietät Gebotene und auch Erweise großzügiger Freundlichkeit. Allen gemeinsam ist die Forderung des Tuns. Aber gerade eine solche Konkretisierung setzt Kriterien voraus, die mir sagen, was ich wem schuldig bin. Genau so verstehe ich in unserem Text die Frage des Toralehrers und so ist sie etwas ganz anderes als bloße Wortklauberei.

Was für eine Antwort mochte der Fragesteller erwarten? Das sagt uns der Text nicht. Ich denke mir, er erwartete eine Klärung durch die Angabe der jeweiligen Reichweite, er suchte nach Kriterien der konkreten Einhaltung des Gebots, womöglich nach einer Differenzierung in ganz nahe, nahe, fernere und ganz ferne Nächste. Das machte ihn nicht zu einem bloßen Semantiker, sondern zeigte ihn als einen Menschen, der die Gebote im konkreten Tun befolgen möchte. Was er selbst zu seiner Frage gesagt hätte, erfahren wir nicht. Der Text enthält nur die Frage und ihre Motivation, deren Berechtigung Jesus anerkennt, indem er sie aufnimmt. Allerdings nimmt er sie nicht so auf, wie es der Fragesteller vermutlich erwartet hatte. Er nimmt die Frage auf, indem er eine Geschichte erzählt.

Jesus nahm diese Frage auf und sprach: „Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel Straßenräubern in die Hände. Diese plünderten ihn aus, misshandelten ihn, machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.

So beginnt die Gleichniserzählung. Sie ist kein Tatsachenbericht, aber sie spielt ganz in der Realität. Was sie erzählt, kam vor und kommt vor. Da ist ein Mensch unter die Räuber gefallen, mehr wissen wir nicht von ihm, der Text sagt nicht einmal, dass es ein Mann war. Wir können das vermuten; vermuten können wir auch, dass es ein Jude war. Der Weg von Jerusalem hinab nach Jericho – etwa 27 km lang mit einem Gefälle von über tausend Metern – war nicht ungefährlich. Er führte in der Antike durch Schluchten, in denen es keine Fluchtmöglichkeit gab, wodurch Wegelagerer leichtes Spiel hatten. Die Räuber haben ihrem Opfer die Kleidung genommen, ihn zusammengeschlagen und halbtot liegen lassen. Und nun kommen zwei andere Menschen denselben Weg hinunter:

Zufällig ging ein Priester den Weg hinab, sah ihn und ging auf der anderen Seite vorbei. Ebenso kam ein Levit zu der Stelle, sah ihn und ging auf der anderen Seite vorbei. Beide gehen an dem Gewaltopfer vorüber, obwohl sie es gesehen haben. Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Aber oft wird mehr dazu gesagt und nicht immer Hilfreiches. Natürlich fragen wir nach dem Grund ihres Vorbeigehens und auch, was es zu bedeuten hat, dass es zwei Personen des Tempelpersonals sind, ein Priester und ein Levit. Über ihre Beweggründe erfahren wir nichts. Vielleicht hatten sie Angst vor den womöglich noch nahen Gewalttätern. Wie oft werden Menschen in der U-Bahn drangsaliert und viele Fahrgäste schauen tatenlos zu? Immer häufiger werden in unseren Städten hilflose Menschen bedroht, attackiert, zusammengeschlagen – manche sehen es und gehen auf der anderen Straßenseite vorbei. Aber wie mutig bin denn ich, wenn ich mich selbst in Gefahr wähne? Ist nicht in manchen Situationen das Weggehen und Wegsehen fast das Normale? Und wie ist es bei der Gewalt, die ich nicht als unmittelbarer Augenzeuge sehe, von der ich aber täglich höre und lese? Wie oft gehe ich auch zur anderen Seite – zur nächsten Seite der Zeitung z.B. „Mensch, wo bist du?“ Wo stehst du? Hältst du stand? Gehst du dahin, wo du gebraucht wirst? Bevor ich darüber nachsinne, warum hier von einem Priester und einem Leviten die Rede ist, muss ich mir selbst diese Fragen stellen und die Antworten sind nicht alle schön für mich.

Es gibt eine spezifische Lesart für die Erwähnung von Priester und Levit. Sie lässt sie nicht die Räuber fürchten, sondern den Kontakt mit der Sphäre des Todes, der ihnen aus kultischen Gründen untersagt sei. Resultiert ihr Verhalten aus einem Konflikt zwischen kultisch realisierter Gottesliebe und tätiger Nächstenliebe? Schärft das Gleichnis ein, dass es zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe keine Konkurrenz geben darf, weil es das eine nicht ohne das andere geben kann? Das ist nicht abwegig, aber wäre das der gemeinte Grund für das Nichthingehen der beiden, dann hätten wir es mit einem ziemlich ungeschickten Erzähler zu tun. Denn das alles wäre viel plausibler, wenn er die beiden den Weg von Jericho nach Jerusalem hätte hinauf gehen lassen. Dann gingen sie zum Tempeldienst, dann läge eine Furcht vor kultischer Verunreinigung viel näher. So aber sind sie nach Dienstschluss auf dem Heimweg und es dauert eine Weile, bis sie wieder zu den im Tempel Eingeteilten gehören – lange genug jedenfalls für eine kultische Reinigung. Ich nehme die Wegangaben der Gleichniserzählung ernst und bleibe darum beim schlichten Fazit: Die beiden gehen vorbei, schauen weg. Das ist normaler, als uns lieb sein mag. Das, was ganz und gar nicht normal ist, kommt erst jetzt:

Da kam ein Reisender, einer aus Samaria ... Die Bewohner Samariens und die Judäas waren einander nicht Freund. Es gab immer wieder von beiden Seiten geschürte Konflikte. Für die Judäer waren die Samaritaner ein unzuverlässiges Mischvolk; sie hatten eigene Kultformen und sahen nur einen Teil der „Schrift“ als verbindlich an. Die alten Historiker berichten von heftigen und verletzenden gegenseitigen Attacken. Ein jüdischer Mensch wird von einem solchen Samaritaner gerade nicht das erwartet haben, was wir heute unter einem Samariterdienst verstehen. Dass so einer hilft, überrascht. Ob man von so einem Hilfe haben will, ist ja auch eine Frage. Da kam ein Reisender, einer aus Samaria, dorthin, sah ihn und es ging ihm durch und durch. „Es jammerte ihn“, heißt es bei Luther, man kann auch verdeutschen: „Es ging ihm durch Mark und Bein“. Wie immer man hier übersetzen mag – wichtig ist, dass das Mitleiden leiblich-leibhaftig ins Bild kommt. Das hier stehende griechische Wort splanchnizomai kommt an mehreren für das Lukasevangelium kennzeichnenden Stellen vor. Darauf macht Marlene Crüsemann in ihrer „Exegetischen Skizze“ zur Vorbereitung auf diesen Bibelarbeitstext in der „Jungen Kirche“ aufmerksam.3 Es bezeichnet das Mitgefühl Gottes, das Mitgefühl, das Jesus zum Eintreten für die ganz Schwachen bewegt, aber auch das Mitgefühl, das in einer anderen Gleichniserzählung dieses Evangeliums der Vater des „verlorenen Sohns“ empfindet. „So“ – ich zitiere aus Marlene Crüsemanns Skizze, der ich nicht nur diesen Hinweis verdanke – „verbindet dieses eine Wort die göttliche und menschliche Liebesfähigkeit und damit alle Dimensionen zwischen Himmel und Erde“.

Bleiben wir noch einen Moment bei diesem Wort für das Mitgefühl. Es hat wie das entsprechende hebräische mit dem Bauch zu tun, den Weichteilen. Mitleid empfinden kann ich nur da, wo ich selbst verletzlich bin. Darum zeigt das, was Menschen für einen idealen Körper halten, immer auch, was in der Gesellschaft zählt. Die gestählten Körper der von den Nazis propagierten Kunst sind da ebenso sprechend wie der heute gepriesene Waschbrettbauch des body-gebuildeten Mannes. „Ein deutscher Junge weint nicht.“ Wer so erzogen wurde, konnte fähig werden, mitleidslos auch auf das Leiden anderer zu blicken. Wer selbst unverletzlich ist, ist gnadenlos. Die Mythen erzählen tröstlich davon, dass die großen Helden wenigstens eine verletzliche Stelle hatten, Achill die Ferse, Siegfried die Stelle am Rücken, an der ein Lindenblatt das ihn panzernde Drachenblut abhielt. Die Sprachen der Bibel verbinden das Mitleid mit den schwachen Stellen des eigenen Leibes – auch da, wo von Gottes rachamim, von Gottes Bauch, Gottes Mutterleib, Gottes Mitleid die Rede ist. Von solchem Mitleiden ist auch in unserem Text die Rede. Mir gefällt Luthers „es jammerte ihn“. Er ist kein Jammerlappen, sondern ein Mensch, der das Leiden anderer am eigenen Leib spürt. Aber er verharrt nicht im Mitleid, er tut, was zu tun ist:

Er lief zu ihm hin und verband seine Wunden, wobei er Öl und Wein darauf goss. Dann hob er ihn auf sein eigenes Tier, brachte ihn in ein Gasthaus und kümmerte sich um ihn. Am folgenden Tag holte er zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sagte: ‚Kümmere dich um ihn! Und falls du mehr ausgibst, will ich es dir bei meiner Rückkehr bezahlen.’ Zwei Denare waren der durchschnittliche Arbeitslohn für zwei Tage. Der Samaritaner tut viel für das Gewaltopfer. Dass er sich selbst aufopferte, steht da nicht. Er tut, was er jetzt tun kann, er lässt den Verletzten nicht unbetreut zurück, aber dann geht er weiter seinen Geschäften nach. Die Geschichte ist nicht kitschig. Davon, dass er das womöglich judäische Gewaltopfer lieb gewonnen hätte oder dass die beiden ihre gegenseitigen Vorurteile aufgearbeitet hätten, steht da nichts. Das Tun des Gebotenen muss nicht überfordern und darum ist eine gefürchtete Überforderung auch kein Grund, das Gebotene nicht zu tun. Die Gleichniserzählung gibt Antwort auf die Frage: „Wer ist mein Nächster?“ Die Antwort wird nun auf bezeichnende Weise mit der Ausgangsfrage verbunden – nämlich mit einer abermaligen Frage, in welche die Erzählung mündet:

„Was meinst du: Wer von den dreien ist dem der Nächste geworden, der den Räubern in die Hände gefallen war?“ Er sprach: „Der ihm durch sein Tun Barmherzigkeit erwiesen hat.“ Wieder war die Antwort naheliegend. Wir sprechen in solchen Fällen von rhetorischen Fragen. Aber eine rhetorische Frage zielt nicht auf die offensichtliche Antwort, sondern darauf, aus der offensichtlichen Antwort Konsequenzen zu ziehen. Ebenso wichtig ist die hier aufleuchtende Umkehrung der Frage. „Wer ist mein Nächster, meine Nächste?“, hatte der Toralehrer gefragt. „Wer von den dreien ist dem der Nächste geworden, der den Räubern in die Hände gefallen war?“, lautet die Frage Jesu, auf welche die Erzählung zielt. Die ganze Gleichniserzählung ist eine einzige Gegenfrage an den Fragesteller, eine Gegenfrage, welche die Frage modifiziert und auch korrigiert.

Wie erfolgt diese Korrektur? Ich stelle mir für einen Moment eine Diskussion in einer gegenwärtigen Schule vor. Da gibt es eine Tafel und Kreide und der Toralehrer verfertigt ein Schaubild, das seine Frage, wer der Nächste sei, erläutert. In der Mitte bringt er eine Markierung an, die ihn selbst bezeichnet. Und dann zeichnet er um diesen Mittelpunkt mehrere konzentrische Kreise, die für jeweils eine Bedeutung des Wortes „Nächste“ stehen: einen engen Kreis für die nahen Familienangehörigen, einen weiteren für die ferneren Verwandten, einen noch weiteren für die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und schließlich einen ganz weiten für alle Mitmenschen. Und jetzt, stelle ich mir weiter vor, drückt er Jesus die Kreide in die Hand und bittet ihn, mit Pfeilen von der Mitte aus zu bezeichnen, bis zu welchem dieser Kreise welche Verpflichtung zu tätiger Nächstenliebe reichen soll. Diesen Nächsten bist du das schuldig, diesen das und auch diesen noch das. Die musst du versorgen und gegebenenfalls ihre Schulden übernehmen, diese etwas ferneren Nächsten sollst du besuchen, wenn sie krank sind, und diesen bist du, auch wenn du nie auf sie triffst, liebevollen Respekt schuldig. Der Fragesteller ist sich bewusst, dass es ein ziemlich komplexes Schaubild werden muss. Wenn es so einfach wäre, hätte er die Frage ja nicht stellen müssen. Wo kommen z.B. in einem solchen Schaubild die nächsten Angehörigen zu stehen, die ich fast nie sehe, und umgekehrt die von weit her, die meine Nachbarn geworden sind? Und wie ist es mit denen, denen ich und die mir feind sind? Die einfache Lösung eines alle umfassenden Kreises verschlägt jedenfalls nicht. Doch Jesus, stelle ich mir weiter vor, zeichnet nichts auf die Tafel, sondern er erzählt eine Geschichte, diese Geschichte. Eine Geschichte sagt oft mehr als ein Schaubild (und mehr als manche Powerpoint-Präsentation, füge ich als altmodischer Hochschullehrer hinzu); sie kann zuweilen das zur Sprache bringen, was in keinem Schaubild aufgeht.

Aber könnten wir nicht doch versuchen, das, was die Gleichniserzählung besagt, in einem Schaubild darzustellen? Eins wäre da klar: Im Zentrum eines solchen Bildes stünde nicht der Samaritaner – im Mittelpunkt befände sich der, der unter die Räuber gefallen ist. Und dann gäbe es keine engeren oder weiteren Kreise um ihn herum, sondern Bewegungen – zwei Bewegungen an ihm vorbei und eine zu ihm hin. Die Nächste ist man nicht, der Nächste wird man. Man wird es im Tun. Das ist die schlichte und doch so entscheidende Pointe der Gleichniserzählung. Kann man sie dann nicht auch so schlicht in ein Schaubild fassen? Nun sollten wir aber noch den letzten Satz unseres Textes wahrnehmen. Er vollzieht eine weitere Umdrehung, die nun wieder den Fragesteller in die Mitte rückt.

Jesus antwortete ihm: „Geh und handle du entsprechend!“ Wer die Nächste ist und wem ich zum Nächsten werden kann und soll, das lässt sich nicht definieren und nicht katalogisieren. Eben darum erfolgt die Antwort Jesu auch nicht in einem Lehrsatz, sondern in einem Gleichnis. Ein Gleichnis ist nicht nur eine anschauliche didaktische Form, in einem Gleichnis wird vielmehr das erzählt, was allein in der Form eines Gleichnisses erzählt werden kann. Nimmt man das ernst, dann meldet sich gegen das, was ich Ihnen gerade als Quintessenz vorgetragen habe, ein beunruhigender Einwand. Den will ich Ihnen und mir nicht ersparen. Denn wenn es so ist, dass Gleichnisse erzählen, was nur in Gleichnissen erzählt werden kann, dann kann auch die Botschaft eines Gleichnisses nicht ohne Verlust in eine andere Sprachform überführt werden. Zugespitzt gesagt: Wenn ich meine, ein Gleichnis verstanden zu haben, und das Ergebnis meines Verstehens in einer Moral, einem Lehrsatz, einem Schaubild formulieren kann, erweist das nicht gerade, dass ich das Gleichnis nicht verstanden habe? Also hüten wir uns auch bei diesem Gleichnis davor, seine Moral auf Flaschen zu ziehen. Handle so, dass du denen zur Nächsten, zum Nächsten wirst, die deiner Nächstenliebe konkret bedürfen! Das aus unserem Text zu ziehen wäre gewiss nicht falsch, aber wenn die Erzählung darin aufginge, hätte Jesus das ja auch gleich so sagen können. Allemal enthält das Gleichnis mehr als diese „Moral“. Mit der Erzählung ist es so wie mit dem, was sie erzählt. Erst in der konkreten Situation zeigt sich, was ein Sehen und Wegsehen und was ein Hinsehen und ein Hingehen ist.

„Mensch, wo bist du?“ Wo stehst du, gehst du dorthin, wo du gebraucht wirst? Hältst du Stand, wenn von dir etwas gefordert ist, was ungemütlich werden kann, z.B. auch, dass du zuweilen feste und lieb gewordene, weil Orientierung und Halt gebende Standpunkte aufgeben musst? Ein Standpunkt, der angesichts unseres Textes allemal aufzugeben wäre, ist der einer christlichen Überlegenheit gegenüber dem Judentum. Jesus und ein anderer jüdischer Toralehrer sind sich in zentralen Fragen des Glaubens einig – das bleibt eine gute Überschrift.

Doch das Gleichnis kann noch manche weiteren Dimensionen entfalten. Nun habe er die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ verstanden, sagte mir vor Jahren einmal ein jüdischer Kollege. Er, der der politischen Linken in Deutschland angehört, sah sich in einer bestimmten Situation Israels von all seinen linken Freunden verlassen und bei einer Demonstration nur noch von CDU-Anhängern und Angehörigen des US-Konsulats begleitet. Will ich eigentlich, dass die mir helfen? Wer „die“ sind, auf deren Nächstenliebe ich lieber verzichten möchte, ist schwerlich mit einem Schaubild zu klären. Auch das hängt von der Situation ab, aber auch auf diese Frage vermag unser Text zu führen.

Und noch etwas: Dietrich Bonhoeffer schrieb im Jahre 1933 im Angesicht der Judenverfolgungen, es gehe darum, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“4 Es reicht also nicht, den unter die Räuber Gefallenen zu pflegen, man muss auch etwas gegen die Räuber unternehmen. Es gibt noch immer die Räuber, die auf der Straße mit nackter Gewalt zuschlagen, es gibt aber auch die, die in klimatisierten Bureaus sitzen und mit denen, die sie berauben, nie in Kontakt kommen. Sie zu kritisieren, fällt mir leicht, auch ihnen gegenüber Nächstenliebe zu üben, viel schwerer. Aber sitze nicht auch ich die meiste Zeit meines Lebens auf einem bequemen Schreibtischstuhl und habe wenig Kontakt mit denen, die unter die Räuber gefallen sind? Reicht es, dass ich meine „zwei Denare“ – und wenn denn mehr nötig ist, auch mehr – nicht bei jenem „Wirt“, sondern beim Finanzamt abliefere und hoffe, dass meine Steuern sozial gerecht eingesetzt werden? Habe ich da nicht öfter die Rechnung ohne den Wirt gemacht? Die Antwort, die das Gleichnis gibt, führt auf viele Fragen. Das ist das Beste, was man von einem Gleichnis sagen kann. Es lohnt sich, es mit solchen und ähnlichen Fragen ein weiteres Mal zu lesen. Wir kennen es schon. Gerade darum sollten wir es wieder und je neu lesen. Es entfaltet bei jedem Lesen neue Seiten; vielleicht hat es ja auch diesmal ein paar neue Seiten entfaltet.

Erlauben Sie mir, liebe Zuhörende, ganz am Ende dieser Bibelarbeit noch einen Blick auf das in ihm entscheidende Zitat aus der hebräischen Bibel und erlauben Sie mir noch einmal einen Hinweis auf das schwierige, notwendige und schöne Geschäft des Übersetzens. „Liebe deine Nächsten wie dich selbst!“ So übersetzt man meist jenen Halbsatz in 3 Mose 19,18. Was ist das für ein „wie“? Ein quantitatives? Wohl auch, aber wenn es nur das wäre, hätten die, die sich selbst nicht ausstehen können, das Recht ihre Mitmenschen auch nicht leiden zu können. „Halte lieb deinen Genossen, dir gleich“, verdeutschen Martin Buber und Franz Rosenzweig und dieses „dir gleich“ lässt mit dem Maß der Liebe auch anklingen, dass die Nächste, der Nächste dir gleich, dass sie Menschen wie du sind. „Liebe deinen Nächsten als dich selbst“ übersetzt Luther selbst an unserer Lukasstelle. Das kommt einer weiteren Übersetzung nahe, die zuerst im 18. Jahrhundert von Moses Mendessohns Zeitgenossen und Freund Naphtali Herz Wessely ins Spiel gebracht wurde. Sie nimmt den hebräischen Satz – we’ahavta lereacha kamocha – in einer anderen grammatischen Verstehensmöglichkeit auf und verdeutscht: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ Der Andere, das bin auch ich; die Andere, das kann auch ich sein.

Unser Gleichnis nimmt das auf seine Weise auf. Erinnern wir uns an die doppelte Umkehrung! Es geht um die und den, denen ich zum Nächsten werden soll, und darum muss ich das den Nächsten gegenüber Gebotene tun. Die Frage „Mensch, wo bist du?“ ist immer auch die nach dem Ort des Anderen und so bestimmt sie meinen Ort. Vielleicht muss man sogar sagen: Und so bestimmt sie mein Menschsein. Der jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Lévinas, der „den Anderen“ ins Zentrum seines Denkens und seiner Ethik gestellt hat, versteht den Satz aus dem 3. Mosebuch so: „Liebe deinen Nächsten; dies alles bist du selbst; dieses Werk bist du selbst; diese Liebe bist du selbst.“ Und er fügt hinzu: „Die Bibel, das ist die Priorität des Anderen im Verhältnis zu mir. Und in den Anderen sehe ich immer die Witwe und die Waise. Immer gehen die Anderen vor.“ Und dann sagt er noch – und mit diesem Zitat will ich die Bibelarbeit schließen –: „Einzig ein verletzliches Ich kann seinen Nächsten lieben.“5

1 Testament Jissachar, 5,2.
2 Maimonides, Gesetze für den Trauernden, 14,1.
3 M. Crüsemann, Einig über die Nächstenliebe, in: Junge Kirche extra 2008, 11-17, hier 15.
4 D, Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage (1933), DBW 12, 353ff.
5 E. Lévinas: Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg / München 2004, 116.

 

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