Gelten die Zehn Gebote/Worte auch für Christen?
Vortrag auf dem Kirchentag in Bremen 2009
von Frank Crüsemann

Die einfache Frage, ob die Zehn Gebote – ich rede im Folgenden vom Dekalog – eigentlich auch für Christen gelten, führt in sehr grundsätzliche Fragen des Umgangs mit der Bibel. Ich möchte versuchen, Schritt für Schritt vorzugehen und zunächst den Befund erläutern. Die meisten kennen die Gebote aus dem kirchlichen Unterricht und dann wahrscheinlich in der Fassung des kleinen Katechismus von Martin Luther. Da fangen sie so an: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“

Der Dekalog stammt aber aus der Bibel und findet sich dort zweimal, in 2. Mose 20 und 5. Mose 5. Mit dieser Feststellung muss man anfangen, ich selbst etwa habe das in meiner Jugend trotz kirchlicher Sozialisation nicht gelernt, wusste es noch am Beginn des Theologiestudiums nicht und bin damit heftig auf die Nase gefallen.

Der Dekalog, so erzählt die Bibel, wird nach dem Auszug aus Ägypten und dem Zug durch die Wüste dem Volk Israel von Gott mitgeteilt. In 2. Mose 20 ist der Befund klar, und im 5 Buch Mose wird daran erinnert: Israel lagert am Berg Sinai, Gott spricht das Volk an und das erste, was Gott sagt, ist der Dekalog und er fängt so an: „Ich bin Adonaj, bin dein Gott, weil ich dich aus Ägypten, dem Haus der Sklavenarbeit herausgeführt habe“. Von der Wiedergabe des Namens, mit dem sich Gott vorstellt, durch „Herr“ oder anders sehe ich im jetzigen Zusammenhang ab. Aber auch sonst stimmt der Wortlaut nicht mit Fassung im Katechismus überein. Luther hat den Text geändert – für den Katechismus, nicht, oder jedenfalls nicht so, in der Bibelübersetzung. Er hat manches weggelassen, inhaltlich geändert und erheblich gekürzt. Der wichtigste Grund für die Änderungen liegt auf der Hand: Im biblischen Zusammenhang geht es um Israel und der Anfang des Dekalogs ist eindeutig an das Volk Israel gerichtet. Luther aber schreibt für Christen, er streicht den Bezug auf Israel, also vor allem die Herausführung aus Ägypten. Und er spricht allgemein von Feiertagen, wo doch vom jüdischen Sabbat die Rede ist.

Ist das erlaubt, was Luther hier macht? Luther hat seine eigene Sicht und Begründung besonders in der Schrift „Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mosen sollen schicken“ (1526)1 entwickelt. Als genauer Bibelwissenschaftler weist er mit Nachdruck auf den Anfang des Sinaigesetzes im Dekalog hin und sagt: „Dass aber Mose die Heiden [also uns, die Nichtjuden] nicht binde, kann man aus dem Text im zweiten Buch Mose beweisen, wo Gott selber spricht: ‚Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthaus geführt habe‘ (2. Mose 20,2). Aus diesem Text ersehen wir klar, dass selbst die zehn Gebote uns nichts angehen. Denn er hat ja nicht uns aus Ägypten geführt, sondern allein die Juden“. Wie das übrige Gesetz des Mose, so betrifft uns auch der Dekalog nicht, „denn dieses Gesetz ist allein dem Volk Israel gegeben; Israel hat es für sich und seine Nachkommen angenommen, und die Heiden sind hie ausgeschlossen“. Aber wie kommen die Gebote dann in Luthers Katechismus und in unseren Konfirmandenunterricht? Luther begründet das so: „Wiewohl die Heiden auch etliche Gesetze mit den Juden gemeinsam haben, wie etwa dass es einen Gott gebe, dass man niemand ein Leid antue, dass man nicht ehebreche oder stehle und dergleichen andere mehr. Das alles ist ihnen von Natur ins Herz geschrieben, und sie haben’s nicht vom Himmel herab gehört wie die Juden“. Luther glaubt also, dass diese Gebote bereits im menschlichen Herzen stehen, deshalb sieht er sich legitimiert, den Bibeltext zu verändern und an das Naturgesetz anzupassen, also statt von Sabbat von Feiertag zu reden und den Verweis auf den Exodus am Beginn und damit auf die Juden einfach zu streichen.

Aber ist das richtig und überzeugend? Einige ganz wichtige Gebote stehen ganz sicher nicht im menschlichen Herzen. Der Sabbat etwa ist gerade kein natürlicher Rhythmus. Und dass ein Gott ist, nur ein Gott und dass Gott nicht abgebildet werden soll, ist keineswegs allgemein menschlich, die Vielfalt der Religionen zeigt etwas anderes. Und Luther selbst schreibt ja den Katechismus, weil man das alles lehren und lernen muss und nicht einfach in sich vorfindet. Vor allem ist Luthers Gedanke nicht biblisch begründet. Was im menschlichen Herzen steht, haben wir heute Morgen in der Bibelarbeit gesehen. Die Erkenntnis von Gut und Böse haben sich die ersten Menschen buchstäblich einverleibt. Aber was ich für gut halte, ist nicht immer auch für andere gut, auch Kain hält seine Tat für richtig. Nein biblisch gilt, „es ist dir gesagt Mensch, was gut ist“ (Mi 6,8), wörtlich steht da bei Micha: Gott hat dir gesagt. Und Gott hat es eben zuerst zu Israel gesagt, daran kommt niemand vorbei. Wenn aber Gott das, was gut ist, zu seinem Volk gesagt hat, sollte uns das nichts angehen? Und so gibt es in der Bibel eine Fülle von Texten, die davon reden, dass alle Menschen, alle Völker zum Gott Israels kommen, zur einzigen Gottheit, die auch sie geschaffen hat. Und dass sie damit auch zu Gottes Wort, zu Gottes Gebot, zu Gottes Tora kommen. Bekannt ist etwa die Erwartung, dass alle Völker nach Jerusalem ziehen, dort Gottes Weisung, Tora, empfangen und dann ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden (Jes 2; Mi 4). Und das Neue Testament spricht von der Erfahrung, dass sich solche Hoffnungen erfüllen. Wo es um Jesus geht, geht es auch um die Gebote Gottes. So heißt es gleich im ersten Evangelium als Wort Jesu: 17Denkt nicht, ich sei gekommen, die Tora und die prophetischen Schriften außer Kraft zu setzen! Ich bin nicht gekommen, sie außer Kraft zu setzen, sondern sie zu erfüllen. 18Wahrhaftig, ich sage euch: Bevor Himmel und Erde vergehen, wird von der Tora nicht der kleinste Buchstabe und kein einziges Häkchen vergehen, bis alles getan wird (Mt 5,17f).

Kein Buchstabe also soll wegfallen von der Tora – und dann doch wohl erst recht nicht ganze Sätze aus dem Dekalog. Man muss sich an dieser Stelle klar machen, was damit alles fällt. Streicht man mit Luther den Bezug auf Israel, dann streicht man zugleich den Bezug auf 1 Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mosen sollen schicken (1526), WA 24, 2-16; hier nach: M. Luther, Werke II, hg. v. K. Bornkamm u. G. Ebeling. Frankfurt/M 3. Aufl. 1983, 207-224.

Befreiung und Freiheit. Gott erinnert ja zu Beginn des Dekalog an die Erfahrung der Befreiung, das ist die erste und die entscheidende Gotteserfahrung Israels und der Bibel überhaupt. Darauf gründet sich die Beziehung zu Gott, deshalb heißt es „Dein Gott“. Streicht man diesen Anfang, wird schnell aus einem befreienden Gott ein strenger, mächtiger und strafender Gott. Denn wenn sich das Vorzeichen vor der Klammer ändert, ändert sich alles. Aus Regeln zur Bewahrung und Ausgestaltung der Freiheit werden rasch einengende und belastende Zwangsgebote.

Vielleicht zeigt dieses Beispiel auch, warum nach der Bibel die Menschen weltweit auf solche Weisungen zu Freiheit und Gerechtigkeit warten (Jes 42,4), warum die anderen Völker angesichts Israels und seiner Gottesbeziehung sagen: 7Ja, welches große Volk hat Gottheiten, die ihm nahe sind, so wie Adonaj, Gott für uns, nahe ist, immer wenn wir ihn anrufen? 8Welches große Volk hat so gerechte Bestimmungen und Rechtssätze, wie diese ganze Tora, die ich heute vor euch darlege? (Dtn 4,7f). In solchem Staunen über die Menschengerechtigkeit der Gebote Gottes liegt dann wohl auch der tiefste Grund dafür, dass man meinen konnte, sie seien uns Menschen ins Herz geschrieben.

Der Dekalog ist zu Israel gesagt und er verbindet uns Christen mit dem jüdischen Volk, denn Gott hat ihn zu diesem Volk gesagt. Er verbindet uns aber auch, und das ist der nächste Schritt, denn wir noch gehen müssen, mit der ganzen Tora, dem ganzen jüdischen Gesetz. Wir sind gewohnt, diese zehn Gebote als die Gebote Gottes zu sehen, besonders im Katechismus scheint es, als wäre das alles, was Gott geboten hat. Aber die biblische Erzählung geht ja weiter, der Dekalog ist nur der Anfang von Gottes Reden und Gebieten. Zwar spielt er eine besondere Rolle, er wird etwa auf die sogenannten steinernen Tafeln geschrieben. Aber Gott redet weiter. Der Dekalog steht in der Bibel niemals allein. Er ist der Anfang der Gebote Gottes, und Anfänge sind manchmal besonders wichtig. Aber für sich genommen können Anfänge auch missverständlich und manchmal unverständlich sein. Gerade die neutestamentlichen Texte, die die Menschen aus den anderen Völkern auf die Gebote hinweisen, reden nie allein vom Dekalog. Es geht niemals nur um ihn, es geht immer um das ganze Gesetz, besser die ganze Tora. Denkt nicht, sagt Jesus, ich sei gekommen, die Tora und die prophetischen Schriften außer Kraft zu setzen!

Mit dem Dekalog auch die ganze Tora? Das ist sicher nach wie vor für viele fremd und vielleicht auch beängstigend. Es bringt aber, und damit möchte ich schließen, eine große Freiheit und einen großen Reichtum.

Wir bleiben gewissermaßen in einer Zuhörerrolle, wir hören den Willen Gott, aber als Wort an Israel. Alles hängt daran, dass wir selbst eine Erfahrung von Freiheit und Befreiung in der Begegnung mit Gott machen. Wenn wir durch Jesus Gott als Macht der Freiheit erfahren, werden uns diese Regeln der Freiheit ansprechen und immer wieder helfen, Freiheit und Gerechtigkeit zu leben und zu gestalten. Aber wir sind nicht Israel und wir werden nicht zu Israel. Paulus hat das am Thema der Beschneidung der Männer durchgekämpft. Das Staunen über die Gerechtigkeit der Tora macht die Gerechtigkeit auch zum Maßstab für ihre Rezeption außerhalb Israels (bes. Röm 8,4). Und diese Konstellation hilft dann auch bei dem wachsenden historischen Abstand, einen angemessenen Umgang zu finden. Schon beim Dekalog stellen sich solche Fragen, manches ist ja offenkundig nur für Männer formuliert. Bei anderen Themen wird das zentral, ich denke beim dritten Beispiel heute Nachmittag wird sich das deutlich zeigen.

Das Verständnis des Dekalogs und seiner einzelnen Gebote ändert sich, wenn man ihn als Einleitung in die Tora liest und ihm nicht auflastet, das Ganze der Gebote Gottes zu sein. Ich nenne jetzt nur ein einziges Beispiel dafür. Das letzte Gebot, bei Luther sind gar zwei daraus geworden, lautet bekanntlich: Nicht begehren, nicht aussein auf, nicht gieren nach. Luther sagt, es gehe darum, dass wir, was andere haben, „nicht mit einem Schein des Rechts an uns bringen“. Dass es dabei um ein Thema von großer Bedeutung und Aktualität geht, ist heute unübersehbar, wenn man an die Rolle von Gier in unserem Wirtschafts- und Finanzsystem denkt, ein Thema, das uns in den letzten Monaten wahrlich intensiv vor Augen getreten ist. Was in diesem Gebot gemeint ist, erschließt sich, wenn man dabei die Wirtschafts- und Sozialgesetze der Tora vor Augen hat, Gesetze, die diese Gier der Reicheren und Mächtigeren rechtlich eindämmen und kontrollieren wollen. Am bekanntesten davon ist wohl das biblische Zinsverbot, für dessen Geltung Luther sein Leben lang gekämpft hat. Wer Zinsen nimmt und dafür nicht Vergebung erlangt, muss in die Hölle, sagt Luther. Nun werden wir dieses Zinsverbot nicht wieder einführen können, solange wir im Kapitalismus leben. Aber wir sollten auch nicht dahinter zurückfallen, sondern das letzte Gebot so verstehen und nachdrücklich so vertreten, dass Besitz, Leben und Freiheit der Menschen vor der Gier nach immer mehr geschützt werden.

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