Briefe an David
von Friedrich Gölz

Sechster Brief
Zum jüdischen Purimfest

8. März 2004
Stell Dir vor, David: Gestern hat Trude aus Haifa angerufen. Diesmal eigentlich Deinetwegen. Sie wollte wissen, ob es wirklich wahr ist, dass Du Dich weigerst, Soldat zu werden. Warum solch eine Verweigerung für eine israelische Mutter und Großmutter schlicht unbegreiflich ist, das versteht man, wenn man die gefährdete und immer schon bedrohte Lage des jüdischen Staates bedenkt. Und Trude ist einfach stolz auf die militärischen Karrieren ihrer Nachkommen. So versuchte ich, ihr zu erklären, warum weder wir Großeltern noch unsere Enkel in dieser Richtung Ehrgeiz entwickelt haben, warum ich auf euer entschiedenes Nein (und auf euer Ja zum zivilen Dienst) stolz bin.

In Israel telefoniert man ja gerne, vor allem vor Festzeiten. Man wünscht seinen Bekannten gute Feiertage. Und heute feiert man dort und auch bei den in aller Welt zerstreuten Juden das Purimfest. Hast Du davon schon gehört? Es ist eines der seltenen ganz fröhlichen jüdischen Feste. Du kannst es ja einmal im Internet aufschlagen. Manche sagen, Purim sei unserem Fasching verwandt. Nicht nur was den Termin, sondern auch was die an diesem Tag geradezu befohlene ausgelassene Fröhlichkeit der Feiernden angeht. Die Kinder verkleiden sich. Und die Gottesdienste in den Synagogen sind lauter und turbulenter, als Du Dir’s vorstellen kannst. Aber an Purim wird nicht wie in der Fasnacht der Winter vertrieben, sondern die Angst.

In Deiner Bibel kannst Du das kleine Buch Esther finden. Es erzählt davon, wie die Juden einmal vor einer schrecklichen Verfolgung bewahrt wurden. Geradezu um einen antiken Krimi handelt es sich da. Genauer: um eine der vielen biblischen Rettungsgeschichten. Nur ist es hier nicht ein göttliches Wunder, durch das die tödlich Gefährdeten gerettet werden, sondern der tapfere Einsatz einer mutigen Frau. Denn schon im alten Persien gab es dieser Geschichte zufolge einen schlimmen Judenhasser. Der war darauf aus, möglichst alle dort lebenden Juden umzubringen. Und der schönen Königin Esther gelingt es mit Gottes Hilfe, diesen Judenmord zu verhindern ...

Am Vorabend des Purimfestes und auch wieder an seinem Vormittag wird im jüdischen Gottesdienst dieses ganze biblische Sechs-Kapitel-Buch laut vorgelesen. Und nie sind so viele Kinder in der Synagoge wie an diesen Tagen. In bunter Verkleidung und mit allerlei Instrumenten (Trompeten, Trommeln, Rasseln) kommen sie, um Krach zu machen. Denn nach alter Sitte dürfen in diesem Gottesdienst alle, vor allem die anwesenden Kinder den Vorleser des Bibeltextes lärmend unterbrechen, sobald der Name jenes Erzbösewichts und Judenfeindes, er hieß Haman, genannt wird. Und manchmal kommt sein Name in einem Vers dreimal vor! An diesem einen Tag sollen Lärm und Freude vorherrschen. Nicht nur, aber vor allem im Gottesdienst. Darum haben die alten Rabbiner auch extra bestimmt, dass an diesem Tag reichlicher Alkoholgenuss nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten sei. Außerdem soll man die Kinder beschenken und zum Festmahl Bedürftige ins Haus einladen. Damit wirklich alle sich mitfreuen können.

Kannst du Dir schon denken, wie unser Freund David Friedländer über diesen alten jüdischen Festtag dachte? Das Urteil, das er im Sendschreiben der Hausväter über die herkömmlichen „jüdischen Ceremonien“ fällt, legt nahe, dass er auch kein Freund von Purim gewesen ist. Eine Gruppe von progressiven Juden hat damals sogar den Vorschlag gemacht, das Purimfest einfach ganz abzuschaffen. Denn solche Zeiten, in denen böse Herrscher den Juden nach dem Leben trachteten, seien doch längst vorbei. Also solle man doch nicht immer wieder die alten Geschichten aufwärmen. Außerdem sei die poltrige und ausgelassene Art, in der Juden diesen Tag zu begehen pflegten, doch eigentlich ziemlich albern und peinlich.

Friedländer selbst hat sich 1790 in einem Artikel zu der Frage geäußert, ob Purim ein „unmoralisches Fest“ sei. Auch er fürchtet, dass dieses jährliche Datum Juden dazu verleiten könnte, die Christen für Todfeinde zu halten und zu hassen. Und vor allem: die lärmenden Purim-Bräuche gehörten, so meint auch er, zu den „Ceremonien“, die am besten abzuschaffen wären. Das einzig Gute an Purim sei, dass dieses Fest die Juden dazu bringe, noch mehr als sonst gastfreundlich zu sein und Spenden für die Armen zu geben. Aber der laute Purim-Lärm passe natürlich keineswegs zu der Forderung, dass sich Juden möglichst unauffällig verhalten und so weit wie möglich an den Lebensstil und die Glaubensweise ihrer Umwelt anpassen sollten.

Ich meine freilich, es sei leicht zu verstehen, warum gerade dieser jährliche Frühjahrs-Festtermin für die in der Welt verstreuten und so oft verfolgten Juden immer schon viel mehr bedeutete als bloß ein Kinderspektakel. Purim und die Esther-Geschichte waren den Juden ein Signal, ein Hoffnungszeichen dafür, dass auch aus tödlicher Bedrohung Rettung möglich ist. Ich hatte Trude K. zum Purimfest geschrieben und ihr dabei auch mitgeteilt, dass und warum ich Dir von ihr erzählt habe. Sie hat nichts dagegen. Im Gegenteil: sie sagt, dass sie Dich eigentlich gerne kennen lernen würde. Am liebsten hätte sie Dir einen langen Brief geschrieben, um Dir selbst näher zu erklären, was ich Dir in meinem „Zweiten Brief“ über sie berichtet habe. Aber leider schreibt sie gar keine Briefe mehr, sondern beantwortet die meinen seit einigen Jahren nur noch mit überraschenden Telefonanrufen. Das bedauere ich sehr. Denn Trudes frühere Briefe haben mich jedes Mal sowohl durch ihre schöne, gestochene Handschrift, wie auch durch ihren Inhalt und Stil fasziniert.

Am Ende unseres Telefongesprächs hat sie gestern seufzend wiederholt, was ich schon so oft von ihr hören musste und ihr immer verbieten möchte. »Ach siehst du«, sagte sie zu mir, »Ich weiß eben gar nicht, ob wir, mein Mann und ich, dir und unseren anderen christlichen Freunden etwas Gutes getan haben, als wir versuchten, euch das Judentum besser zu erklären. Die alten christlichen Vorurteile wollten wir abbauen helfen. Ob uns das gelungen ist? Manchmal denke ich nämlich, wir hätten zum Beispiel dir mit dieser Bekanntschaft eine ziemliche Belastung verschafft!« Das Letzte konnte ich nicht einfach bestreiten. Aber ich sagte ihr das, was ich ihr schon oft versichert hatte: dass mein Leben und mein Nachdenken, auch mein Glauben, durch diese Entdeckung des Judentums zwar nicht einfacher, aber reicher, mein Horizont viel weiter geworden ist. Dass mir dadurch manches zweifelhaft wurde, was anderen im gewohnten, christlich- kirchlich- theologischen Umfeld immer fraglos geblieben ist, das will ich um der Klarheit und Wahrheit willen gerne hinnehmen.

Als unser gestriges Telefongespräch schon beendet war, fiel mir eine meiner ersten Begegnungen mit dieser Freundin ein. Ich habe Dir ja schon erzählt, dass Herbert und Trude K. ziemlich bald nach dem Krieg noch einmal mit ihren Kindern für ein paar Jahre hierher nach Stuttgart kamen. Manche ihrer israelischen Freunde haben ihnen dies damals richtig übel genommen. Denn andere deutsche Juden haben sich ja nach dem Untergang Nazideutschlands strikt geweigert, jemals wieder nach Deutschland zurückzukehren, und sei es auch nur besuchsweise. Zu tief waren die Verletzungen. So hat Albert Einstein, dessen 125. Geburtstag in diesem März bevorsteht, alle Einladungen, das Land seiner Herkunft noch einmal zu besuchen, strikt ausgeschlagen: „Die Verbrechen der Deutschen sind wirklich das Abscheulichste, was die Geschichte der so genannten zivilisierten Nationen aufzuweisen hat“, schrieb er, als man ihn einlud, hier höchste Nachkriegs-Ehrungen anzunehmen. Sein „Reinlichkeitsbedürfnis“ hindere ihn, das Land noch einmal zu betreten, das ihm einst Heimat war und das sich so beschmutzt habe. Und er fügt an, eigentlich habe er auch gar nicht den Eindruck, dass die Deutschen wirklich bereuten, was sie dem jüdischen Volk angetan hatten!

Nicht leichten Herzens entschieden sich Trude und Herbert in den Fünfziger Jahren anders als Albert Einstein. Sie wollten, dass auch ihre Kinder erfuhren, woher ihre Eltern stammten. Außerdem brauchten solche jüdischen Menschen, die das Grauen der Konzentrationslager überlebt hatten und nun nach 1945 vereinzelt auch hier in Stuttgart anlandeten, einen Lehrer, der ihnen in der neuen Situation ein wenig zurecht half. Nicht nur sprachlich. Unter diesen Überlebenden stammten ja nicht wenige aus dem Osten Europas. Und alle waren durch das Erleiden der Verfolgungszeit gründlich aus dem Geleise geraten. Solchen der Todesgefahr Entronnenen, die nun auch hier aus den Verstecken und aus den Lagern auftauchten, musste man in vieler Hinsicht helfen und raten. Denn viele von ihnen hatten bisher über ihr Judesein kaum mehr erfahren als dies: dass Juden verachtet, angespuckt und geschlagen werden. Und dass sie froh sein müssen, wenn sie in der Verfolgung ihr nacktes Leben retten können. Und dass sie sich nun eben bemühen müssten, nur janicht aufzufallen ...

In der damals in Stuttgart erst wieder entstehenden, noch ganz kleinen jüdischen Gemeinde war Herbert ein strenger und ein geliebter Lehrer. Dass er dann später auch bereit war, interessierten Christen zu erklären, was es eigentlich heißt, Jude zu sein – das ist eine andere, womöglich eine noch viel erstaunlichere Geschichte.

Damals, also, am Anfang unserer Bekanntschaft, ging ich einmal mit Trude und ihrem Sohn, der wohl etwa in Deinem jetzigen Alter war, zur hiesigen Synagoge. Wenn man vom Stadtzentrum zu Fuß in die Hospitalstraße hinüber geht, kommt man an der Hospitalkirche vorbei und auch an dem großen Denkmal der Reformation, das dort vor der ziemlich zerstörten Kirchenmauer steht: Überlebensgroß in Sandstein gemeißelt sitzen dort Martin Luther und sein schwäbischer Schüler Johannes Brenz. Darüber ist der aus dem Grab auferstehende Jesus abgebildet. Und auf einer Tafel steht das Dir sicher bekannten Christus-Wort aus dem Johannesevangelium:

                Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben;
                Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.

Trude war schon öfter an dieser Stelle vorbeigekommen. Sie las die Inschrift, schaute mich an, dann ihren Sohn: »Jedesmal ärgere ich mich über diese Worte«, sagte sie dann langsam auf deutsch. Der Sohn las es. Er zuckte mit der Schulter und antwortete der Mutter mit einem kurzen hebräischen Satz. Trude machte ein ganz verdutztes Gesicht. Dann lachte sie kurz. Aber es war kein gutes Lachen. Erst später fragte ich sie, was ihr Sohn denn geantwortet habe. Etwas zögernd übersetzte sie es mir: »Ach Ima«, hat er gesagt, »reg dich nicht auf. Du weißt doch, was die hier in Deutschland schon für Sprüche an die Wand gepinselt haben!«

Weißt Du, diese Antwort war damals und bleibt für mich ein echter „Hammer“, wie Ihr Jungen Euch wohl ausdrücken würdet. Und ich hoffe, dass Du verstehst, warum mich dieses Erlebnis durch so viele Jahre begleitet und immer wieder beschäftigt hat. Dass der junge Israeli jenes vielleicht beliebteste Christuswort mit den antijüdischen Parolen des „Dritten Reiches“ parallel setzte! Dass er spürte, jene schrecklichen Hassparolen der Nazis könnten etwas zu tun haben mit dem rigorosen „Alleinvertretungsanspruch“, den man aus manchem Jesuswort allerdings heraushören kann. Dass die Entwürdigung der jüdischen Verwandten Jesu durch all die „christlichen“ Jahrhunderte hindurch, dass die Bestreitung ihrer Nähe zum „Vater“ und die Verfolgung schließlich bis in den Massenmord hinein eine Wurzel haben könnten, die bis in das Neue Testament zurück reicht! Dass jener so exklusiv klingende Anspruch Jesu, den Johannes seinem Meister in den Mund legte, etwas zu tun haben könnte mit der uralten christlichen (nein: unchristlichen!) Feindschaft gegen die Juden – das alles ist mir damals zum ersten Mal aufgegangen.

Lieber David, nun sind wir auf den schmerzenden Nerv unseres Themas gestoßen. Heute Abend überlege ich mir, wie denn all die Themen, die ich in meinen bisherigen Briefen anklingen ließ, miteinander verwoben sind. Einen Augenblick bin ich erschrocken und wollte fast Trudes Frage von gestern aufnehmen: Tu ich meinem Enkel etwas Gutes, wenn ich ihm das alles berichte, ihn vielleicht damit belaste? Ich kann nur hoffen, dass auch Du dadurch eine Erweiterung des Horizonts und eine Bereicherung Deines Denkens erfahren wirst. Und ich merke auch, dass das Schreiben dieser Briefe, so sehr es mir Freude macht, nicht alles sein kann. Irgendwann sollten wir schon auch einmal miteinander darüber reden.

Herzlich grüßt Dich Dein Großvater

aus: Friedrich Gölz: Briefe an David. Stuttgart (Klingenstein Verlag) 2008

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