Urteil statt Vorurteil. Heute:
Die „Protokolle der Weisen von Zion“
von Klaus-Peter Lehmann

Übersicht
Die sog. Protokolle der Weisen von Zion sind ein sich dokumentarisch gebendes infames Pamphlet über angeblich 24 Geheimsitzungen von Rabbinern. Diese würden durch hinterlistige, international vernetzte Manipulation Wirtschaft, Politik und Presse der Staatenwelt destabilisieren und die bedrohlich nahe jüdische Weltherrschaft vorbereiten. Der Text begründete den modernen Mythos von der jüdischen Weltverschwörung. Er ist reine Fiktion. Seine Entstehung Ende des 19. Jhdts. in Kreisen der Geheimpolizei des Zaren ist nicht vollständig aufgeklärt. Die nachweisliche Fälschung ist das am weitesten verbreitete Schriftstück des modernen, internationalen Antisemitismus.

Die Protokolle traten nach 1919 einen triumphalen Siegeszug an, vor allem in den Nationen, die im Ersten Weltkrieg unterlagen. Sie vereinten alle restaurativen und reaktionären Kräfte gegen einen gemeinsamen Feind, der angeblich den Umsturz der alten Verhältnisse betrieben hatte: ‘den Juden’. Auch den Nationalsozialisten galten sie als Beleg für eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung. In Deutschland steht ihre Verbreitung als Volksverhetzung unter Strafe. Heute finden sie neben Hitlers ‘Mein Kampf’ vor allem in islamischen Ländern ungehinderten Zuspruch.

Die historische Bedeutung der Protokolle liegt darin, das vielfältige Erbe des Antisemitismus auf seinen Kern zu reduzieren, auf den Wahn von einer jüdischen Weltverschwörung, die alle Kultur und Religion zerstören will. Simple Diktion und schemenhafter Inhalt zielen auf ein Massenpublikum, um dieses in einer paranoischen Weltanschauung gefangen zu nehmen und gegen ‘den Juden’ als Feind zu mobilisieren.

Welchen Inhalt haben die Protokolle?
Die Protokolle behaupten, die Juden würden überall Revolutionen und Wirtschaftskrisen anzetteln. Durch den Besitz des Goldes, die Verbindung mit Millionären und ein weltweites Netz von Freimaurerlogen würde es ihnen zunehmend gelingen, die Presse in die Hand zu bekommen und die öffentliche Meinung zu lenken. Meinungsstreit, Parteiengezänk, Demokratie und freie Wahlen begünstigten weltanschauliche Zersetzung und politischen Terror. Drei Namen stünden für den geistigen Zerfall: Nietzsche, Darwin und Marx. Mit ihren Waffen, dem Atheismus, dem wissenschaftlichen Denken, dem Fortschritt und dem Sozialismus, würden die Juden gegen die im Gottesgnadentum begründete Adelsherrschaft und ihre religiöse Stütze, die Kirche, Krieg führen. Ihre weltlichen Gedanken stürzten die Menschen unmittelbar ins Chaos der Gesetzlosigkeit. Ohne Hierarchie und gesellschaftliche Unterordnung käme es zu internationaler Verwirrung. Diese  würde den Boden für die Herrschaft des „Gewaltkönigs vom Blute Zion“ bereiten.

Wo kommen die Protokolle her?
Es gibt zwei literarische Quellen der Protokolle, den Roman ‘Biarritz’, erschienen Berlin 1868, von Hermann Goedsche, einem preußischen Postbeamten und Redakteur, und die Schrift ‘Dialog in der Hölle zwischen Macchiavelli und Montesquieu’ des französischen Advokaten Maurice Joly. Diese ist eine Satire auf Napoleon III. und ursprünglich ohne antisemitischen Bezug. Dennoch gehen etwa 40% des Textes auf diese Vorlage zurück. Die Vermischung mit dem Roman, seiner Schilderung einer geheimen Versammlung der 12 Stämme Israels ‘auf dem Judenkirchhof in Prag’, auf der die Pläne zur Errichtung der jüdischen Weltherrschaft besprochen werden, ergibt das antisemitische Pamphlet.

Man nimmt an, dass die Entstehung der Protokolle mit der antisemitischen Politik des Zaren um die Wende zum 20. Jhdt. zu tun haben. Dafür spricht ihr erstmaliges Erscheinen in Russland 1903, um die Zeit des Kischinew-Pogroms, sowie manche Ausdrucksweise.  (1)  Die später weltweit verbreitete Version stammt von dem orthodoxen Priester Sergej Nilus aus den Jahren 1905 und 1911. Er fügte seinem Buch ‘Das Große im Kleinen. Der nahende Antichrist und die Herrschaft des Satans auf Erden’ die Protokolle bei. So verband er den Mythos von der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung mit dem Motiv des Antichristen. Nilus’ Antisemitismus hatte paranoischen Charakter. Überall sah er die Juden am Werk. 1911 sandte er Briefe an die Patriarchen des Orients und den Papst mit dem Aufruf, das Christentum gegen den jüdischen Antichristen zu schützen. Gegen Nilus, der behauptete, die Protokolle seien 1902/03 aufgezeichnet worden, setzte sich nach der Balfour-Erklärung von 1917  (2)  die Legende durch, Theodor Herzl habe sie auf dem 1. Zionistischen Kongress in Basel 1897 vorgetragen.

Die Verbreitung der Protokolle nach dem Ersten Weltkrieg
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges begann der ideologische Triumphzug der Protokolle. Der Weltkrieg hatte vier über tausend Jahre alte Reiche zerstört: Österreich-Ungarn, das deutsche, das russische und das osmanische Reich. Die Wahnidee der Protokolle vereinte die verschiedenen restaurativen Kräfte, Monarchisten, Freikorps und  Nationalisten, gegen einen Feind, ‘den Juden’. Der stünde angeblich hinter Republik, Sowjetmacht, Sozialismus, Kapitalismus und Liberalismus und habe die alte Adelsherrschaft beseitigt. Die russische Revolution stand für den drohenden Erfolg des angeblichen jüdischen Welteroberungsplans. In der Sicht der restaurativen Kräfte hatten Demokraten und Sozialisten die Kriegsfront des Reiches geschwächt und durch einen ‘Dolchstoß’ in den Rücken zu Fall gebracht. In den Morden an der jüdischen Kommunistin Rosa Luxemburg (1919) und an dem Außenminister Walther Rathenau (1922), reicher jüdischer Industrieller, Freimaurer und Demokrat, kam der aus den Protokollen sich speisende Wahn von der Weltverschwörung des jüdischen Bolschewismus zu seinem ersten verbrecherischen Ausbruch.  (3) 

Die Protokolle verbreiteten sich nach 1919 mit rasanter Geschwindigkeit. Bis zum zweiten Weltkrieg erschienen Übersetzungen in mehr als 20 europäischen Sprachen, sowie auf Arabisch und Japanisch. Die deutsche Ausgabe erreichte 1920 sechs Auflagen, 1933 bereits 33. Verleger war der ‘Verband gegen Überhebung des Judentums’. Auch Alfred Rosenbergs Kommentar hatte von 1923-1933 vier Auflagen. 1929 erwarb die NSDAP die Rechte an den Protokollen. Ihre Ausgabe erschien 1938 in der 22. Auflage.

Wurden die Protokolle jemals widerlegt?
Seit dem Erscheinen der Protokolle formierte sich eine Front, um ihre infamen Behauptungen zu widerlegen. Die Israelitische Kultusgemeinde Bern und der Schweizerische Israelitische Gemeindeverbund erstatteten Strafanzeige. Das Urteil vom 14.5.1935 stufte das Pamphlet als Plagiat und verleumderische Fälschung ein. Es handele sich um Schundliteratur, die als Hetzschrift verboten gehöre. Eine Revision des Urteils aus formalen Gründen 1937 ermöglichte weiterhin ihre freie Zirkulation. Die ungehinderte Verbreitung einer erwiesenen Lügenschrift deutet auf das Problem. Es geht nicht darum, ob die Protokolle wahr sind, sondern darum, dass der Antisemit der Wahrheit zum Trotz glaubt, dass sie wahr sind.

Welche Bedeutung hatten die Protokolle in der NS-Zeit?
In der Hetzpropaganda der NSDAP hatten die Protokolle einen festen Platz. Für die HJ waren sie Pflichtlektüre. Das antisemitische Blatt ‘Der Stürmer’ hämmerte seinen Lesern regelmäßig die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung ein. Im November 1939 befahl Hitler, die Protokolle im Ausland zu verteilen, um die Juden als Anstifter des Krieges zu brandmarken. Er sagte in seinem politischen Testament: „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“

Auch wenn die Verfasser der Protokolle nicht an einen Völkermord, wie ihn die Nationalsozialisten ausführten, gedacht haben, muss man bei ihrer Weltsicht doch von Erlösungsantisemitismus sprechen. Da ihrer Ansicht nach alle Übel der Welt von den Juden kommen, muss ihnen die Beseitigung des jüdischen Einflusses auf die Gesellschaft als Erlösung erscheinen.

Wo haben sich die Protokolle nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet?
Nach Auschwitz begann in den westlichen Demokratien, in der Katholischen Kirche und in den evangelischen Kirchen einen Prozess des Umdenkens. Er führte dazu, dass hier viele Formen des überkommenen Antisemitismus zurückgingen, weil ihnen die öffentliche Legitimation entzogen war. Anders in Osteuropa und den islamischen Ländern, wo die Ideen der Protokolle heute massenhaften Zuspruch finden.

Der Triumphzug der Protokolle im Nahen Osten begann 1938, als auf einer ‘Islamischen Parlamentarierkonferenz zugunsten Palästinas’ der Muslimbrüder  (4)  neben Hitlers ‘Mein Kampf’ arabische Versionen der Protokolle verteilt wurden. Bis 1970 gab es neun Ausgaben, heute sind es ca. 60. Sie sind weithin frei zugänglich und kursieren im Internet. In der Türkei kann man ‘Mein Kampf’ und die Protokolle in Kaufhäusern erwerben. Ihr Gedankengut wird über die arabischen Medien regelmäßig verbreitet. 2002 sendete das ägyptische Fernsehen eine 41teilige Serie namens ‘Reiter und Pferd’, die auf den Protokollen beruhte. Ihre Ausstrahlung wurde in 20 arabischen Ländern wiederholt. Eine andere 30teilige von der Hisbollah finanzierte Serie stellte die „wahre“ Geschichte des Staates Israel als Teil der jüdischen Weltverschwörung dar. Auch ein Ritualmord an einem christlichen Kind wurde in Szene gesetzt. Der Vorsteher der al-Azhar-Universität in Kairo, oberste Autorität des sunnitischen Islam, sieht in den Protokollen eine authentische Quelle der jüdischen Geschichte, die beweist, dass die Juden eine Gefahr für das Land sind: „Wenn sie eindringen, werden sie es zerstören und verderben.“ Seit 1948 spielen die Protokolle eine Rolle in der Politik der islamischen Länder gegen Israel. Die Hamas, die den Staat Israel negiert, beruft sich in Art. 32 ihrer Charta auf die Protokolle.

Heute beziehen sich im Westen neben nazistischen Gruppen esoterische Kreise auf die Protokolle. Mitte der 1990er Jahre tauchten sie auch in Russland wieder auf. Alte Kommunisten behaupten, die Juden hätten die mächtige Sowjetunion untergraben. Russische Nationalisten beschuldigen sie, den Bolschewismus herbeigeführt zu haben, schließlich sei ein Großelternteil Lenins getaufter Jude gewesen. Kreise der orthodoxen Kirche Russlands unterstützen den nationalistischen Antisemitismus. Sergej Nilus findet hier teils kultische Verehrung. Alle treffen sich in der Meinung, die Juden hätten Mütterchen Russland schon immer schaden wollen.

Anmerkungen:

    • Antijüdisches Pogrom im April 1903 in Bessarabien, dem 49 Personen zum Opfer fielen. Die Protokolle sprechen von der „Selbstherrschaft des russischen Zaren,... die auf geheimnisvollen Kräften,... dem Auserwählen durch Gott“ beruhe.
    • Am 2.11.1917 im Namen der englischen Regierung von Lord Balfour verfügte Erklärung, in der dem jüdischen Volk Hilfe bei der „Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina“ zugesichert wird.
    • Dasselbe gilt für die Morde an K. Liebknecht, K. Eisner, H. Haase, G. Landauer, E. Leviné, die alle jüdische Sozialisten waren, aber auch für den katholischen, liberalen Juden M. Erzberger.
    • Die 1928 gegründete ‘Gesellschaft für Muslimbrüder’ ist die historische Keimzelle des weltweiten Islamismus. Von Anfang an kämpften sie gegen ‘westliche Dekadenz’, ‘jüdische Sittenlosigkeit’ und für einen Staat auf der Basis von Scharia und Kalifat. Sie proklamieren den Djihad (Heiliger Krieg) als Märtyrertod für die Sache Allahs. Auf sie geht die antijüdische Einstellung weiter Teile der islamischen Welt und der islamistisch gefärbte Kampf gegen einen jüdischen Staat zurück. In Ägypten verfügen sie über derart viele Anhänger, dass der Regierung ein Verbot unmöglich erscheint.

     

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