Bibelarbeit über Lk
10,25-37
Klaus Wengst
I. Der Beginn eines
Lehrgesprächs
1. Die Ausgangsfrage des
Textes der heutigen Bibelarbeit ist nicht gerade eine solche, die in unserer
protestantischen Tradition geläufig wäre. Sie ruft eher eine Abwehrhaltung hervor.
„Mit welchem Tun bekomme ich Anteil am unvergänglichen Leben?“ Oder in der
Fassung der Lutherbibel: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“
Gegenüber dieser Frage kann traditionell protestantisch der Verdacht aufkommen,
sie sei typisch jüdisch. Dort meine man ja, für sein „Heil“ selbst sorgen zu
müssen und zu können – durch „Werke des Gesetzes“. Aber Jesus stößt sich nicht
an dieser Frage. Er nimmt sie ernst. Und so sollten wir es auch tun.
Es sei zunächst einen
Augenblick über die Formulierung dieser Frage nachgedacht. Da wird nach einem
notwendigen Tun gefragt und als Ziel ist ein Erben im Blick. Aber was ich erbe,
dafür muss ich normalerweise nicht erst etwas tun. Erbberechtigt bin ich doch,
wenn ich es denn bin, einfach so. Aber ich kann das Erbe, ich kann die
Erbberechtigung durch mein Verhalten verwirken. So steht in Mischna Sanhedrin
10,1 als Grundsatz voran: „Ganz Israel, alle haben sie Anteil an der kommenden
Welt.“ Anschließend werden jedoch einige aufgezählt, die keinen Anteil an der
kommenden Welt haben, an erster Stelle die Leugner der Totenauferstehung. Das
ist nicht als dogmatische Feststellung zu verstehen, sondern als dringliche
Mahnung, doch ja nicht solche zu sein und es also aufs Spiel zu setzen, was als
Grundsatz gilt: „Ganz Israel, alle haben sie Anteil an der kommenden Welt.“
Bei der hebräischen Wendung
vom Erben des Lebens der kommenden Welt liegt ein unauflösliches Ineinander von
Aktiv und Passiv vor, vom Handeln Gottes und vom Handeln des Menschen. In
unserer evangelischen Tradition denken wir zu leicht in Alternativen: Gott tut
es, nicht der Mensch; und dann qualifizieren wir den jüdischen Weg als
Werkgerechtigkeit ab. Den Zusammenhang vom Tun Gottes und vom Tun des Menschen,
das Ineinander, finde ich besonders schön zum Ausdruck gebracht in einem
Midrasch zu Psalm 40. In Ps 40,6 heißt es: „Zahlreich sind Deine Wunder und
Pläne, die Du, Ewiger, mein Gott, an uns getan hast.“ Die Wendung „an uns“ wird
so ausgelegt: „An uns“ bedeutet „um unsertwillen, damit wir in dieser Welt
bestehen und das Leben der kommenden Welt erben“[1].
Nicht also erst das, dass Israel das Leben der kommenden Welt erbt, tut Gott
für es, sondern er tut auch das schon für Israel, dass es das Leben in dieser
Welt besteht. Aber er tut es nicht an Israels eigenem Tun vorbei, sondern in
und mit ihm.
Vom ewigen Leben bzw. vom
Leben der kommenden Welt wird biblisch-jüdisch nicht etwa deshalb geredet, weil
das irdische Leben ins Unendliche verlängert werden sollte. Es soll gerade
nicht „immer so weiter“ gehen. Der Tod setzt dem Leben ein Ende. Der Tod soll
aber nicht insofern letzte Fakten setzen, dass es durch ihn belanglos wird, was
jemand getan oder unterlassen hat. Es soll und darf auch durch den Tod nicht
gleichgültig werden, wie jemand gelebt hat. Ewiges Leben ist das Aufgehobensein
des einmalig Vergangenen bei Gott. Ewiges Leben ist die Verneinung dessen, dass
durch die vergehende Zeit und den schließlich eintretenden Tod das im Gehorsam
gegen Gottes Gebote Getane und das Gottes Gebote verletzende Tun gleich-gültig
seien. Sie sind es nicht. Ewiges Leben ist daher qualifiziertes Leben, das
schon dem Tun hier und jetzt seine Ausrichtung gibt. Deshalb betont der
Bibelarbeitstext so sehr das Tun. Die Frage nach dem rechten Tun steht
an seinem Beginn. Nach der Anführung des Gebots der Gottes- und Nächstenliebe
sagt Jesus: „Tu das! So wirst du leben.“ Die Erzählung vom Samariter,
der dem von Räubern Ausgeraubten und halbtot Geschlagenen geholfen hat, wird in
der Wendung zusammengefasst: „Der ihm durch sein Tun Barmherzigkeit
erwiesen hat.“ Und daraufhin sagt Jesus noch einmal am Schluss: „Tu du
Entsprechendes!“
2. Die Ausgangsfrage, mit
welchem Tun man ewiges Leben gewinne, wird an Jesus von einem Toragelehrten
gerichtet. Am Beginn heißt es: „Und seht! Ein Toragelehrter erhob sich.“ Die
Wendung ganz am Anfang hat die Funktion, die Aufmerksamkeit der Lesenden und
Hörenden zu schärfen. Man könnte sie im Deutschen auch wiedergeben mit: „Passt
auf!“ Lukas setzt sie, wenn in einer schon laufenden Szene eine Person neu ins
Blickfeld gerückt wird. Der Toragelehrte wird als bereits anwesend
vorausgesetzt und nun tritt er auf. Er hat mitbekommen, was nach dem Bericht
des Lukas unmittelbar vorher geschah. Dort hatte Jesus seine Schüler glücklich
gepriesen: „Glücklich die Augen, die sehen, was ihr seht! Ja, ich sage euch:
Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, aber sahen es nicht,
und wollten hören, was ihr hört, aber hörten es nicht.“ Wen und was sie sehen
und hören, ist Jesus und das, was er sagt und tut. Mit dieser Seligpreisung
seiner Schüler stellt also Jesus zugleich die eigene Person kräftig heraus. Das
veranlasst den Toragelehrten zu seiner Frage, die er in bestimmter Absicht
stellt. Das griechische Wort, das diese Absicht charakterisiert, kann im
Deutschen wiedergegeben werden mit: „auf die Probe stellen“, „herausfordern“,
„testen“. Jesus hatte gerade implizit sehr hoch von sich selbst geredet. Da
will er testen, ob da wirklich etwas hinter steckt. Dabei redet er ihn als
Kollegen an: „Lehrer“. Man muss ihm also keine böse Absicht unterstellen. Und
so verläuft das weitere Gespräch ja auch sehr kollegial, eine innerjüdische
Verständigung unter Fachleuten.
3. Die Frage des
Toragelehrten, mit welchem Tun er Anteil am unvergänglichen Leben bekomme, wird
von Jesus mit einer doppelten Gegenfrage beantwortet: „In der Tora – was steht
da geschrieben? Wie liest du sie?“ Es lohnt sich, hier genau auf jede
Einzelheit zu achten. Zunächst fällt auf, dass die erste Frage nicht glatt
formuliert ist, sondern dass die Wendung „in der Tora“ betont vorangestellt
wird. In allen gängigen Bibelübersetzungen wird das glatt gebügelt und so
übersetzt: „Was steht im Gesetz geschrieben?“ Ich halte schon die Übersetzung
mit „Gesetz“ für problematisch, wenn das entsprechende griechische Wort die
fünf Bücher Mose oder auch die jüdische Bibel im Ganzen meint. Das
entsprechende hebräische Wort ist torah; und das ist viel mehr als nur
„Gesetz“. torah meint im Wortsinn Gottes gute Weisung zum Leben. Protestanten
fällt zudem bei „Gesetz“ die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ein; und
dann gerät bei der Übersetzung mit „Gesetz“ völlig aus dem Blick, dass die Tora
auch voll von Evangelium ist. Deshalb gibt die Kirchentagsübersetzung das
betreffende griechische Wort mit dem hebräischen Wort „Tora“ wieder. Das wird
also in der Gegenfrage Jesu betont vorangestellt: „in der Tora“. Das ist die
Basis – nicht nur des Toragelehrten, sondern selbstverständlich auch die Jesu.
Noch einmal zur Verdeutlichung: Hier liegt ein innerjüdisches Gespräch vor –
und nicht ein interreligiöses. Die Tora ist die Basis, auf der die Frage nach
Tun und Leben sinnvoll und hinreichend beantwortet werden kann.
Und so fragt Jesus zunächst,
was in ihr geschrieben steht. Da er selbstverständlich nicht will, dass sein Gegenüber
nun anfängt, die Tora von 1. Mose 1,1 an zu zitieren, fügt er sofort eine
weitere Frage hinzu: „Wie liest du sie?“ Eine Reihe von Bibelübersetzungen
verdunkelt hier, indem ganz analog zur ersten Frage formuliert wird: „Was
liest du?“ Man kann leicht darüber hinweg lesen. Aber es geht dabei nicht um
eine Kleinigkeit[2].
Jesus fragt hinsichtlich
dessen, was geschrieben steht, wie es gelesen wird. Wie kommt man
darauf, dennoch mit „was“ zu übersetzen? Diese Übersetzer haben doch auch
gemerkt, dass im Text zwei unterschiedliche Fragepronomina stehen.
Wahrscheinlich haben sie sich zu dem Verständnis als einer gleichsinnigen
Doppelfrage – was steht geschrieben, was liest du? – dadurch verleiten lassen,
dass der Toragelehrte ja anschließend zitiert und nicht eine selbst formulierte
Auslegung gibt, dass er also anführt, was geschrieben steht und was
er liest. Was sie jedoch nicht bemerkt haben, ist, dass hier durch
Ineinanderfügen zweier Zitate Schrift mit Schrift ausgelegt wird, dass dieses
Zitieren zugleich ein Auslegen, also eine Antwort auf die Frage nach der Art
und Weise des Lesens ist. Mit dem „Wie“ nach dem „Was“ fragt Jesus nach der
sammelnden Mitte der Lektüre der Tora, nach der wegweisenden Perspektive durch
ihre vielen Einzelgebote.
In den beiden anderen
synoptischen Evangelien wird an den Parallelstellen ausdrücklich nach dem
„ersten“ bzw. „großen“ Gebot in der Tora gefragt. Hier bei Lukas geschieht das
implizit in der Frage nach dem Wie der Lektüre. Sie macht deutlich: Heilige
Schrift ist nur als ausgelegte rezipierbar. Deshalb ist auf die Auslegung
sorgfältig zu achten.
4. In seiner Antwort stellt
der Toragelehrte das Gebot der Gottesliebe aus 5. Mose 6,5 und das Gebot der
Nächstenliebe aus 3. Mose 19,18 zusammen: „Du sollst den Ewigen, deinen Gott,
lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner
ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken und deinen Nächsten, deine Nächste
wie dich selbst.“ Bei Lukas ist es der Toragelehrte, nicht Jesus, der diese
Zusammenstellung vornimmt. Sie gilt ihm also nicht als etwas exorbitant Neues,
das erst Jesus gebracht hätte, sondern als etwas jüdisch schon Gegebenes[3].
Der Toragelehrte nimmt
zunächst eine bis heute im Judentum ganz zentrale Stelle auf, einen Satz aus
dem sch’ma jisrael, das täglich zweimal, morgens und abends, zu
rezitieren ist. Dass er hier nicht plappernd etwas aufsagt, wie ein Konfirmand
ein Hauptstück aus dem Katechismus – das unterstellen ihm einige Ausleger[4] –,
sondern dass er sehr überlegt zitiert, wird noch deutlich werden. Gott aus
ganzem Herzen, mit ganzem Leben und ganzem Vermögen zu lieben, das stellt er
mit 5. Mose 6,5 als erstes heraus. Aber wie liebt man Gott? In einer in diesem
Jahr erschienenen Auslegung des Textes wird darauf geantwortet: „Indem man …
sich von Gott geliebt weiß“ und von daher weiter gemeint: „So wie wir
geschaffen sind, … sind wir recht.“ Das gilt dann als ein „umfassendes
Gottesgefühl“, von dem wir „die ‚Kräfte‘“ erhielten, „unsere Nächsten und uns
selbst zu lieben“[5]. Mit dem biblischen Verständnis
der Liebe zu Gott hat dieses „Gottesgefühl“ absolut nichts zu tun. Nach
biblischem Verständnis wird Gott so geliebt, dass man tut, was er gebietet.
Ganz analog sagt Jesus in Joh 14,15: „Wenn ihr mich liebt, sollt ihr meine
Gebote halten.“ Und ein paar Verse weiter: „Die meine Gebote haben und sie
halten, die sind’s, die mich lieben“ (Joh 14,21). Es ist daher mehr als
seltsam, wenn es in einem neuen Kommentar zum Lukasevangelium heißt: „Die Frage
nach der Liebe zu Gott“ werde im weiteren Text „nebensächlich, da sie kein Tun
impliziert“[6]. Das
Gegenteil ist richtig. Noch einmal: Gott wird so geliebt, dass getan wird, was
er will. Das verweist wieder auf die Tora, in der Gott seinen Willen bekundet.
Aber nun besteht das Weiterführende in der Antwort des Toragelehrten darin,
dass er das Gebot der Gottesliebe aus 5. Mose 6,5 geradezu nahtlos mit dem
Gebot der Nächstenliebe aus 3. Mose 19,18 verbindet. Er bringt die beiden
Zitate nicht je für sich voneinander abgesetzt, sondern macht einen einzigen
Satz aus ihnen. In dem schon genannten Kommentar zum Lukasevangelium heißt es
dazu: „Möglicherweise weiß Lk nicht mehr, daß die Gebote in verschiedenen
Büchern des Pentateuch stehen“[7].
Dieses Urteil unterschätzt den Evangelisten total. Nein, es ist der Kommentator,
der nicht merkt, dass gerade in dieser engen Verbindung die interpretatorische
Leistung besteht. Sie ist die Antwort auf die Frage, wie der
Toragelehrte die Tora liest. Er liest sie so, dass das Nächstenliebegebot die
entscheidende Dimension angibt, in der die Einzelgebote zu tun sind. Das
Nächstenliebegebot ist die sammelnde Mitte.
Dass aber nicht lediglich nur
das Gebot der Nächstenliebe gebracht wird, sondern dass ihm das Gebot der
Gottesliebe vorangestellt ist, unterstreicht seinen unbedingt verpflichtenden
Charakter. Möglicherweise ist auch eine Verbindung zwischen beiden Geboten im
Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gesehen. Das ist ausdrücklich
der Fall in einer rabbinischen Diskussion, in der nach einer „großen
Zusammenfassung“, nach einer „Hauptregel in der Tora“ gefragt wird. Da heißt
es: „Ben Assaj sagt: ‚Das ist das Buch der Generationen des Menschen (1.
Mose 5,1) ist eine Hauptregel in der Tora.‘ Rabbi Akiva sagt: ‚Du sollst
deinen Nächsten lieben dir gleich (3. Mose 19,18) ist eine größere
Hauptregel als jene, damit du nicht sagst: Weil ich verachtet werde, soll auch
mein Mitmensch verachtet werden.‘ Da sagte Rabbi Tanchuma: ‚Wenn du
so handelst, dann wisse, wen du verachtest: Im Ebenbild Gottes hat er ihn
gemacht‘“[8]. Das ist der Schluss des
Verses 1. Mose 5,1. D.h. diese von ben Assaj angeführte Stelle ist gegenüber 3.
Mose 19,18 doch die umfassendere Hauptregel, weil sie klar stellt, dass aus dem
Gebot der Nächstenliebe niemand ausgeschlossen ist, wer Menschenantlitz trägt.
Und auch hier ist es Gott, der dessen unbedingt verpflichtenden Charakter
sicherstellt. Dass kein Mensch aus dem Gebot der Nächstenliebe ausgeschlossen
ist, zeigt auch der Fortgang des Bibelarbeitstextes.
5.
Der Antwort, die der Toragelehrte auf die Gegenfrage Jesu gegeben hat, stimmt
dieser voll und ganz zu: „Du hast richtig geantwortet.“ Ein Kommentator
formuliert treffend: „Alles ist gesagt, aber es bleibt noch alles zu tun“[9]. Und
so fährt Jesus fort: „Tu das! Und du wirst leben.“ Mit dieser Formulierung spielt
er auf 3. Mose 18,5 an: „Ihr sollt meine Vorschriften und meine
Rechtsbestimmungen halten. Der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben. Ich
bin der Ewige.“ Gott steht dafür ein, dass das Tun des von ihm Gebotenen
Lebensgewinn bringt. Es leitet fehl, wenn betont wird, der Toragelehrte habe
nach dem ewigen Leben gefragt, Jesus aber verweise in dieser
Aufforderung zum Tun „auf das hiesige Leben“[10]. Das
reißt auseinander, was biblisch zusammengehört. Das dem Gebot Gottes folgende
Leben ist qualifiziertes Leben; und diesem Leben ist verheißen, dass es nicht
vergeblich gelebt wird, sondern aufgehoben ist in Gott. Entsprechend sagt
Paulus ganz am Schluss des langen Auferstehungskapitels 1Kor 15: „Ihr wisst,
dass eure Mühe unter der Herrschaft Jesu nicht vergeblich ist.“
6.
Hier könnte das Stück abgeschlossen sein. Aber es ist es nicht. Dem Lukas liegt
offenbar an weiterer Klärung; und so lässt er den Toragelehrten eine neue Frage
stellen. Die Einführung dieser Frage wird durchgängig so verstanden, dass sie den
Fragenden in ein negatives Licht stelle. Die übliche Übersetzung lautet: „Er
aber wollte sich (selbst) rechtfertigen.“ Die Wendung begegnet im
Lukasevangelium noch einmal in 16,15. Dort charakterisiert sie Leute, die vor
den Menschen gut dastehen wollen, während Gott doch die Herzen kennt. Aber das
passt hier nicht. Außerdem haben wir schon gesehen, dass der Toragelehrte nicht
die negative Gestalt ist, als die er früher gezeichnet wurde. Die katholische
Einheitsübersetzung versteht so: „Er wollte seine Frage rechtfertigen.“ Aber
seine Frage hat er ja längst schon selbst zutreffend beantwortet und dafür auch
die Zustimmung Jesu erhalten. Die Gute Nachricht hat diese Unmöglichkeiten
gespürt, aber sich in ihrer Wiedergabe völlig vom griechischen Text gelöst:
„Aber dem Gesetzeslehrer war das zu einfach.“ Diese Wiedergabe ist allerdings
ihrerseits „zu einfach“. Die Kirchentagsübersetzung schlägt deshalb vor: „Der
wollte seinerseits dem gerecht werden“, nämlich dem von ihm selbst als Summe
herausgestellten Gebot der Nächstenliebe durch entsprechendes Tun.
Das
passt dann auch zu der anschließend von ihm gestellten Frage, die eine echte
Frage ist: „Und wer ist mein Nächster, wer meine Nächste?“ Es geht ja nicht um
eine allgemeine – und dann auch unverbindlich bleibende – Menschenliebe, wie
das in der Tradition des liberalen Protestantismus gesehen wurde auf dem Boden
des deutschen Idealismus gemäß der Schillerschen Ode an die Freude: „Seid
umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Und das dann noch garniert
mit Beethovens Musik. Nein, es geht um den konkreten Nächsten, der überhaupt
nicht liebenswürdig ist, sodass man ihn umarmen und küssen möchte. Wer ist
dieser Nächste? In einem rabbinischen Midrasch geht es um die Auslegung von 2.
Mose 23,4: „Wenn du auf den herumirrenden Stier deines Feindes triffst oder auf
seinen Esel, sollst du ihn unbedingt zu ihm zurückbringen.“ Diskutiert wird
nun, wer der Feind sei, der damit ja als Nächster behandelt werden soll, dem
ein konkreter Akt von Liebe zu erweisen ist. Verschiedene Rabbinen machen
unterschiedliche Angaben: „‚Das ist ein götzendienerischer Nichtjude‘, Worte
des Rabbi Joschija. Und so finden wir, dass die Götzendiener überall Feinde
Israels genannt werden. Denn es ist gesagt: Wenn du hinausziehst ins Lager
gegen deine Feinde (5. Mose 23,10), wenn du hinausziehst zum Krieg gegen
deine Feinde (5. Mose 21,10). Rabbi Elieser sagt: ‚Über den Proselyten, der
zu seiner schlimmen Art zurückgekehrt ist, redet die Schrift.‘ Rabbi Jizchak
sagt: ‚Über einen abtrünnigen Israeliten redet die Schrift.‘ Rabbi Natan sagt:
‚Von einem eigentlichen Israeliten redet die Schrift.‘“ Nach der Fortsetzung
gilt von ihm, dass er zeitweilig zum Feind geworden ist[11]. Der
letzten Meinung entspricht die Einschränkung des Nächsten auf die Angehörigen
des eigenen Volkes. Für die anderen drei geht der Begriff des Nächsten sehr
viel weiter. Jesus beantwortet die Frage nach dem Nächsten, indem er eine
Geschichte erzählt.
II.
Die Erzählung
1.
„Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel Straßenräubern in
die Hände. Diese plünderten ihn aus, misshandelten ihn, machten sich davon und
ließen ihn halbtot liegen.“ Der Ausgeraubte, Geschlagene und halbtot liegen
Gelassene wird ausschließlich als „ein Mensch“ bezeichnet. Nichts sonst interessiert:
ob Mann oder Frau, ob reich oder arm, ob Jude oder Grieche, ob fromm oder
frevelhaft. Das ist alles völlig gleichgültig. Nur eins ist wichtig: „ein
Mensch“, der durch sein pures elendes Daliegen um Hilfe schreit. Er ist darauf
angewiesen, dass jemand vorbeikommt und ihm hilft.
2.
Davon wird die Geschichte erzählen. Aber was wäre das für eine Geschichte, wenn
gleich die erste Person, die kommt, helfend eingriffe? Die Geschichte wird von
drei Personen erzählen, die zur Stelle des Überfalls kommen. Sie kann nur dann
funktionieren, wenn die ersten beiden Personen das aus der Perspektive des
Überfallenen Erwartete nicht tun, der in Not geratene Mensch also weiter auf
Hilfe warten und hoffen muss. Wenn zwei Personen in einer solchen Geschichte
versagt haben, ist klar, dass die dritte auftretende Person richtig handeln
wird. In meiner Kindheit hat es mir die Lektüre von Märchen, in denen drei
Brüder auftreten, etwas eingetrübt, dass immer der jüngste Bruder der Gewinner
und Retter ist. Ich war und bin nämlich der älteste von drei Brüdern. Aber das
ist eine vorgegebene Erzählstruktur, der die Erwartungshaltung der Lesenden und
Hörenden entspricht. Besondere Akzente können damit gesetzt werden, wie im
Einzelnen das auftretende Personal aussieht.
3.
Als die ersten beiden, die nicht helfen, werden ein Priester und ein Levit
genannt. Das hat bis in neuste Kommentare und Monographien zu einer
Interpretation verleitet, die die verweigerte Hilfeleistung in
gesetzlich-ritueller Strenge begründet sieht, in den für Priester und Leviten
geltenden besonderen Reinheitsvorschriften. Sie hätten „Sorge …, sich eventuell
an einem Toten kultisch-rituell zu verunreinigen. Das ist für einen
gewissenhaften Kultusbediensteten … Grund genug, sich in einem solchen Fall
selbst der Nächste zu sein. … Die Identifikation mit ihrem Dienstrecht hindert
sie daran, sich dem Hilfsbedürftigen zuzuwenden und sich seiner anzunehmen“[12]. Sie
müssten in einem Konflikt „das Gebot der Nächstenliebe mit dem Gebot der
kultischen Reinheit abwägen“[13]. Sie
seien „tot für die Gegenwart, zurückgehalten durch ihre Vergangenheit,
festgelegt durch rituelle Regeln“[14]. Das
ist jedoch alles schlicht Unsinn. Der Überfallene ist keine Leiche, an der man
sich kultisch verunreinigen könnte. Und selbst wenn Priester und Levit sich
kultische Totenunreinheit zuzögen, was sie für sieben Tage kultunfähig machte,
wäre das völlig belanglos. Sie befinden sich ja auf dem Weg von Jerusalem nach
Jericho, haben also ihren Tempeldienst gerade hinter sich und nicht vor sich;
ihre kultische Diensttauglichkeit wird für längere Zeit nicht gefragt sein. An
dieser Stelle ist Jülicher Recht zu geben, der vor 100 Jahren nüchtern
feststellte: „Für den Verlauf der Geschichte sind aber die Motive beim Priester
wie beim Leviten irrelevant; nur das Resultat, dass der Halbtote in seinem
Elend vorläufig liegen bleibt, ist von Bedeutung“[15].
Das
Verhalten von Priester und Levit wird genau parallel beschrieben: Sie kommen zu
der Stelle, an der der Ausgeraubte liegt, sehen ihn und gehen „auf der anderen
Seite vorbei“. So fern, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, liegt mir
dieses Verhalten nicht. Ich komme in der Fußgängerzone zu einer Stelle, an der
ein Bettler sitzt, sehe ihn und gehe „auf der anderen Seite vorbei“. Es gibt
gravierendere Fälle als diesen. Ich sehe das Problem, aber ich weiß nicht, wie
ich es lösen soll – und schlage einen Bogen um es. Ja, es gibt sie: die
Teilnahmslosigkeit im öffentlichen Raum. Einen Bogen zu schlagen, sich
herauszuhalten, liegt im Trend. Was nötig wäre, ist eine Kultur des
Mit-ansehen-Könnens, der Aufmerksamkeit und des Aufmerksammachens, eine Kultur
des Einschreitens.
4.
In der vorgestellten Welt der Erzählung – Jesus spricht im jüdischen Kontext –
mussten die Hörenden nach Priester und Levit als dritte Person, die nun nicht
versagt, sondern richtig handelt, einen sozusagen normalen Israeliten erwarten,
also sich selbst. Diese Reihenfolge – Priester, Levit, Israelit – findet sich
oft. Sie spielt bis heute eine Rolle bei der Toralesung. Jeder Wochenabschnitt
ist in sieben Unterabschnitte eingeteilt, die von verschiedenen Personen – wenn
genügend dazu vorhanden sind – gelesen werden. Als erster wird ein Priester
aufgerufen, als zweiter ein Levit und vom dritten Abschnitt an „normale“
Israeliten. Das war schon Brauch in der Antike. In der Mischna heißt es dazu:
„Ein Priester liest zuerst und nach ihm ein Levit und nach diesem ein Israelit“[16].
Nach
Priester und Levit wäre also in der Erzählung Jesu an der dritten Stelle ein
Israelit zu erwarten. Dieser Erwartung wird aber nicht entsprochen. An dieser
Stelle erscheint stattdessen ein Samariter. Das ist überraschend; darauf liegt
also ein besonderes Gewicht. Diese Überraschung muss eine bestimmte Funktion
haben. Aber welche? Man muss hier aufpassen, dass man die Unterschiede und auch
Animositäten zwischen Juden und Samaritern nicht auf einen absoluten Gegensatz
und auf totale Feindschaft hin übertreibt. Die besondere Entwicklung Samariens
gegenüber Judäa hat ihre Wurzeln in der imperialen assyrischen Politik des 8.
Jahrhunderts v.Chr., die in den zu Provinzen gemachten eroberten Gebieten die
Oberschichten durch Deportationen austauschte, so auch in Samarien als dem
Kernland des ehemaligen Nordreiches Israel. Zu einer akuten Trennung aber kam
es erst in der frühen nachexilischen Zeit, als führende Jerusalemer Kreise beim
Wiederaufbau des Tempels die Bewohner Samariens von der Mitarbeit ausschlossen
und sich von ihnen abgrenzten. Das führte unter Rückgriff auf biblische Stellen
im 4. Jahrhundert v.Chr. zum Bau eines eigenen Heiligtums der Samariter auf dem
Berg Garisim bei Sichem. Der wurde 128 v.Chr. von dem jüdischen König Johannes
Hyrkanos zerstört. Aber der Berg Garisim blieb heiliger Berg der Samariter und
ist es für ihre kleine noch existierende Gemeinde bis heute. Im Jahre 9 n.Chr.
verstreuten Samariter im gesamten Tempelbereich in Jerusalem menschliche
Knochen, nachdem zu Beginn des Pessachfestes gewohnheitsmäßig kurz nach
Mitternacht die Tempeltore geöffnet worden waren. Das zeigt, dass die
Voraussetzungen für ein sehr gespanntes Verhältnis zwischen Juden und
Samaritern gegeben waren. Dennoch bleibt festzuhalten: Es gibt eine gemeinsame
Traditionsgrundlage. Für die Samariter waren und sind die fünf Bücher Mose
heilige Schrift. Die meisten rabbinischen Lehrer der frühen Zeit betrachten die
Samariter halachisch, also in religionsgesetzlicher Hinsicht, als Juden. Aber –
wie das bei einem gespannten Verhältnis zwischen Nahestehenden so ist – es kam
auch immer wieder zum Ausbruch von Feindseligkeiten verbaler und manchmal auch
handgreiflicher Art. Dass jedoch der Samariter in der Erzählung Jesu, wie in
einem neuen Gleichnisbuch behauptet wird, auf dem Weg von Jerusalem nach
Jericho inkognito reisen musste, weil er dort um sein Leben zu fürchten hätte,
würde er erkannt[17], ist eine absolute
Übertreibung und mit nichts zu begründen.
Das
Lukasevangelium selbst zeigt an einer anderen Stelle die Spannungen zwischen
Juden und Samaritern an. Nach dem Ende von Kap. 9 begibt sich Jesus von Galiläa
aus zum Pessachfest nach Jerusalem auf dem Weg durch Samarien. Er schickt Boten
vor sich her, die in einem samaritischen Dorf Quartier machen sollen. Man
wollte ihn aber dort nicht aufnehmen, weil er den Tempel in Jerusalem als Ziel
hatte. Daraufhin fragen Jakobus und Johannes Jesus, ob sie auf dieses Dorf
Feuer vom Himmel fallen lassen sollen. Der verwehrt es ihnen jedoch. Danach
heißt es lapidar: „Da gingen sie in ein anderes Dorf.“ Und das muss auf diesem
Weg ebenfalls ein samaritisches sein. Von Galiläa nach Jerusalem konnte man
auch durchs Jordantal oder durch die Küstenebene gelangen. Aber das waren
Umwege. Der kürzeste Weg führte durch Samarien; und der wurde auch
normalerweise genommen. Das hätte man nicht getan, wäre es dort aussichtslos
gewesen, Quartier zu erhalten, oder wäre dieser Weg gar lebensgefährlich
gewesen.
Nach
diesen Klarstellungen sei auf die Frage zurückgekommen, was es leistet, dass an
der dritten Stelle der Erzählung Jesu nicht der erwartete Israelit steht,
sondern eben überraschenderweise ein Samariter. Es verhindert, dass sich der im
Text angesprochene Toragelehrte, der ja ein Israelit ist, in aller
Selbstverständlichkeit selbst an diese dritte Stelle, an die „gute“ Stelle
setzt. Und es soll auch zu einem Stolperstein für die das Evangelium Lesenden
und Hörenden werden, in dieser Weise zu verfahren, also sich selbst gleich an
diese Stelle zu setzen. Es gilt zunächst einmal wahrzunehmen, dass sie von ganz
anderen eingenommen werden kann, von denen man es gar nicht erwartet. Aus der
Perspektive des halbtot Geschlagenen wird die Hilfe selbstverständlich
erwartet. Dass sie aber auch tatsächlich geleistet wird, ist – wie die
Erzählung zeigt – überhaupt nicht selbstverständlich. Der als dritte Person
auftretende und dann also positiv handelnde Samariter ist gleichsam so etwas wie
ein Platzhalter oder eine Leerstelle für den im Text angesprochenen Israeliten
und für die das Evangelium Lesenden und Hörenden. An dieser Stelle stehen sie
nicht schon von vornherein und seit eh und je. Diesen Platz gilt es vielmehr
immer wieder und wieder einzunehmen, den Platz der Menschlichkeit. Dass das
auch tatsächlich geschieht, dazu leitet in erster Linie die Tora an, die ja
auch der Samariter hat.
5.
Das Auftreten des Samariters wird zunächst genau analog dem von Priester und
Levit geschildert: Er kommt zu dem Ort, an dem der Verletzte liegt und sieht
ihn. Aber dann heißt es von ihm: „Es ging ihm durch und durch.“ So die
Kirchentagsübersetzung. Die Lutherbibel hat: „Es jammerte ihn.“ Etwas hölzern
die Elberfelder: „Er wurde innerlich bewegt.“ Die meisten Übersetzungen
sprechen vom „Mitleid“. Im griechischen Text steht ein Verb, das von dem Nomen splágchna
gebildet ist, dem hebräisch rachamím entspricht. Es bezeichnet die
„Eingeweide“, die ungeschützte Region des Bauches unterhalb der Rippen. Wenn
man das im Deutschen mit einem Organ verbinden will, ist es wohl weniger
gelungen, mit Fridolin Stier zu übersetzen: „Es ward ihm weh ums Herz“ – das
weckt andere Assoziationen –, sondern eher: „Es ging ihm an die Nieren.“ Der
Samariter wird also aus dem Bauch heraus initiativ. Er beginnt nicht mit
rationalem Abwägen, was dafür und was dagegen sprechen könnte, sondern der
Impuls aus dem Bauch sagt ihm: Da musst du hin! Und nicht auf die andere Seite
der Straße.
Aber
dann handelt er sehr rational, nämlich zweckmäßig. Er tut das Not-wendige:
Erstversorgung an Ort und Stelle, Unterbringung, weitere Versorgung. Und das
ist auch gut so. Er versorgt die Wunden – Öl gegen Schwellungen, Wein zur
Desinfektion – und verbindet sie, packt den Verletzten auf sein Lasttier,
bringt ihn zu einem Gasthaus und kümmert sich dort weiter um ihn. Er leidet
jedoch nicht an einem Helfersyndrom. Er hat Verantwortung übernommen; dazu
steht er. Aber er kann sie delegieren. Mit demselben Wort, mit dem zuletzt sein
Handeln charakterisiert worden war, dass er sich um den Verletzten kümmerte,
fordert er seinerseits am nächsten Tag den Wirt auf, sich um ihn zu kümmern,
gibt ihm dafür einen Vorschuss und verspricht weitere Bezahlung, falls größerer
Aufwand nötig sei. Diese Delegation gegen Entgelt – wenn man so will: eine
Professionalisierung und Ökonomisierung – gilt der Erzählung nicht als etwas
Anrüchiges, sondern als gute Möglichkeit. Zu diesem Punkt hatte schon Jülicher
angemerkt: Dass der Samariter „aus fortwährend sich steigernder Liebe alles
selber machte, nichts dem Wirt überliess, wissen wieder nur die Exegeten, die
für die Vornehmheit der jede Überspanntheit vermeidenden Geschichte kein
Sensorium haben“[18]. Jülicher hatte dann
weiter gemeint, dass „die Grundidee dieser Parabel der Kulturmenschheit in
Fleisch und Blut übergegangen“ sei[19]. Er
konnte sich gewiss nicht vorstellen, dass wenige Jahrzehnte später sich das
deutsche Volk in seiner großen Mehrheit aus dieser „Kulturmenschheit“
vorübergehend verabschieden würde.
III.
Der Abschluss des Gesprächs
1.
Nach der Erzählung spricht Jesus den Toragelehrten als seinen Gesprächspartner
wieder direkt an und stellt ihm auf die Erzählung bezogen eine Frage, die
zugleich als Gegenfrage zur Frage des Toragelehrten, wer denn sein Nächster
sei, eine mögliche Antwort enthält: „Was meinst du: Wer von den dreien ist dem
der Nächste geworden, der den Räubern in die Hände gefallen war?“ Der
Toragelehrte wollte wissen: „Und wer ist mein Nächster, wer meine Nächste?“
Gegenüber dieser Frage kehrt die Gegenfrage Jesu die Perspektive um. Es wird
nicht nach einer Definition des Objekts für liebendes Handeln gesucht, sondern
es wird nach einem Subjekt gefragt, das sich in seinem Handeln als Nächster,
als Nächste erweisen möge. Nicht eine Definition des Nächsten hilft weiter,
sondern dass denen ganz nahe gekommen wird, die in Not sind. Durch diese
Umkehrung der Perspektive wird der Fragesteller dazu gebracht, es für möglich
zu halten, dass er selbst derjenige sein könnte, der den Räubern in die Hände
gefallen und auf rettende Hilfe angewiesen ist. Wenn ich in einer solchen
Situation bin, weiß ich sehr genau, was ich möchte und wie andere, die mir
begegnen, sich mir gegenüber verhalten sollten. In dieser Umkehrung der
Perspektive wird die Losung dieses Kirchentages zum Ruf der Opfer an den
Rändern so vieler Straßen: „Mensch, wo bist du?“ Nächste, wo seid ihr? Die
Ausgangsfrage ganz am Anfang des Bibelarbeitstextes war auf das eigene Ich
bezogen, das etwas „erben“, etwas erlangen wollte. Die Umkehrung der Perspektive
leistet es auch, dass das rechte Tun nicht verzweckt wird. Leben ergibt sich im
rechten Tun von selbst; so zu handeln, ist wirkliches Leben.
Sich
selbst in der Situation des anderen zu sehen, ist eine Dimension, die in der
hebräischen Fassung des Gebots der Nächstenliebe in 3. Mose 19,18 schon
enthalten ist. Denn die Übersetzung dieses Textes mit „Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst!“ ist keineswegs die einzig mögliche. Genauso gut möglich ist
die von Martin Buber gewählte: „Halte lieb deinen Genossen, dir gleich.“ Oder
auch: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!“ Der Nächste ist „dir
gleich“, nicht weniger Ebenbild Gottes, als du es bist. Dieses Verständnis
schließt es aus, aus dem Doppelgebot der Liebe „ein Dreifachgebot“ zu machen,
wie in einem neuen Gleichnisbuch geschehen. Da heißt es: „Zur Gottesliebe und
Nächstenliebe muss die Selbstliebe hinzukommen“[20]. Die
Selbstliebe ist vorausgesetzt; die muss nicht geboten werden. Wer es nötig hat,
sich auf den Selbstfindungs- oder Selbstverwirklichungstrip zu begeben, steht
zumindest in der Gefahr, „auf der anderen Seite“ an den Nächsten vorbeizugehen
und sie durch die Fixiertheit auf das eigene Selbst gar nicht mehr
wahrzunehmen.
2.
Jesus hatte also den Toragelehrten gefragt: „Wer von den dreien ist dem der
Nächste geworden, der den Räubern in die Hände gefallen war?“ Es ist klar, dass
es auf diese Frage nur eine Antwort geben kann. Dennoch ist es aufschlussreich,
wie der Toragelehrte sie formuliert. Er sagt nicht einfach nur formal „der
Dritte“ oder „der Samariter“. Nebenbei: Dass er nicht „der Samariter“
antwortet, wird ihm in neuen Lukaskommentaren übel ausgelegt. Dieses Wort nehme
er als Jude bewusst „nicht in den Mund“[21], seine
Antwort sei „ausweichend“[22].
Dass diese schon von Jülicher abgelehnte Deutung[23]
wieder aufgenommen wird, ist mehr als seltsam. Es ist im Gegenteil positiv
hervorzuheben, dass der Toragelehrte durch die inhaltliche Beschreibung des
Tuns des Samariters zugleich eine Begründung für die von Jesus erfragte Antwort
liefert: „Der ihm durch sein Tun Barmherzigkeit erwiesen hat.“ Er gebraucht
damit eine biblische Wendung, in der sowohl Gott als auch Menschen Subjekt sein
können und die im Deutschen sehr unterschiedlich wiedergegeben werden kann. So
stehen etwa in der Lutherbibel an den entsprechenden Stellen neben „Barmherzigkeit
tun“ oder „erweisen“ auch die Wendungen „Gnade erweisen“ oder „Freundschaft“
bzw. „sich freundlich erweisen“ oder auch einfach „alles Gute tun“. Mit der
Aussage, im Tun Barmherzigkeit zu erweisen, fasst der Toragelehrte die
Erzählung Jesu prägnant zusammen. Darauf käme es also an, dass das geschieht,
dass Barmherzigkeit erwiesen wird, dass es barmherzig zugeht. Wer
Barmherzigkeit erweist, ist gegenüber demjenigen, dem sie erwiesen wird, in der
stärkeren Position. Wirksame Barmherzigkeit hat eine Tendenz auf Ausgleich,
damit derjenige, der ist „wie du“, auch leben kann „wie du“.
3.
Die Antwort des Toragelehrten wird von Jesus implizit als völlig zutreffend
bestätigt, wenn er ihn auffordert: „Geh und handle du entsprechend!“ Hier endet
der Text. Das aber heißt, dass sein Ende offen ist. Es wird nicht erzählt, wie
der Toragelehrte darauf reagiert. Dieses offene Ende zielt auf die Lesenden und
Hörenden des Evangeliums. Von ihnen hängt es ab, was mit der am Schluss stehenden
Aufforderung Jesu, entsprechend zu handeln, geschieht, ob und wie sie umgesetzt
wird. Der Text bietet kein Rezept; er mutet jedoch die Fähigkeit zu,
Entsprechungen zu erkennen. Er verhilft zur Sensibilisierung: hinsehen und
empfindsam sein, sich nicht abschotten und es schon gar nicht für
erstrebenswert halten, immer cool zu bleiben. In solcher Kälte wird der
Mensch dem Menschen zum Wolf. Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, ist
sprichwörtlich geworden. Diese Aussage geht zurück auf den römischen Dichter
Plautus aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert. In seiner Eselskomödie sagt
jemand: „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, nicht ein Mensch, wenn man sich
nicht kennt“[24]. Der das dort sagt, hat
Grund für das damit zum Ausdruck gebrachte Misstrauen. Er soll übers Ohr
gehauen werden und wird es dann auch. Man kann den Bibelarbeitstext als eine
Gegengeschichte zu diesem Diktum lesen, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Er
will Mut dazu machen, dass der Mensch dem Menschen zum Menschen werde, zum
Nächsten – auch und gerade, wenn man sich nicht kennt. In einer Auslegung, an
der ich viel zu kritisieren habe, fand ich auch einen Satz, der mir sehr gut
gefallen hat: „Jesus bejaht mit dieser Gleichniserzählung ausdrücklich den
‚Tropfen auf den heißen Stein‘“[25]. Dass
immer wieder der Mensch dem Menschen zum Menschen werde, ist niemals zu wenig,
auch wenn die einzelne Tat so unscheinbar sei „wie ein Tropfen auf einem heißen
Stein“. Hier ist die schon zitierte Gewissheit des Paulus am Schluss von 1Kor
15 in Erinnerung zu rufen, „dass eure Mühe unter der Herrschaft Jesu nicht
vergeblich ist“.
(Bibelarbeit auf dem Kirchentag
Bremen, Reformiertes Zentrum, 22.05.2009)
[1] Midrasch Tehillim 40,4 (Buber S. 129b).
[2] An beiden Stellen steht „was“ etwa in der Lutherbibel
von 1984, in der katholischen Einheitsübersetzung, in der neuen Zürcher Bibel
und in der Guten Nachricht. Besonders eigenartig ist die Entwicklung in den
Lutherbibeln: Von 1545, der letzten von Luther selbst verantworteten Ausgabe,
bis einschließlich der Revision von 1912 hieß es: „Wie steht im Gesetz
geschrieben? Wie liesest du?“ Die Revision von 1956 differenzierte entsprechend
dem griechischen Text zwischen „was“ und „wie“, während die von 1984 an beiden
Stellen „was“ setzte. Kein Wörterbuch bietet für das in der
Kirchentagsübersetzung mit „wie“ übersetzte griechische Wort die Bedeutung
„was“. Sie wird lediglich in der gängigen Grammatik des neutestamentlichen
Griechisch für einige wenige Stellen im Neuen Testament behauptet; dort sei
„wie“ = „was“. Aber an allen diesen Stellen ist die Übersetzung mit „wie“
möglich und auch sinnvoller.
[3] Sie findet sich an einer Reihe von Stellen im hellenistischen Judentum, besonders in der Schrift „Testamente der zwölf Patriarchen“ und bei Philon von Alexandria. Auch im rabbinischen Judentum ist sie sachlich gegeben, wie wir noch sehen werden.
[4] Adolf Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, Tübingen 21910 (Nachdruck Darmstadt 1976), II, S. 596; Manfred Köhnlein, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, Stuttgart 2009, S. 91.
[5] Köhnlein (s. Anm. 4), S. 92.
[6] Hans Klein, Das Lukasevangelium, Göttingen 2006, S. 391.
[7] Ebd.
[8] Midrasch Bereschit Rabba 24,7 (Theodor/Albeck S. 236f.).
[9] François Bovon, Das Evangelium nach Lukas 2 (Lk 9,51–14,35), Neukirchen-Vluyn 1996, S. 87.
[10] Köhnlein (s. Anm. 4), S. 93.
[11] Mechilta des Rabbi Jischmael, Mischpatim 20 (Horovitz/Rabin S. 324).
[12] Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, Teilband 1: Lk 1,1–10,42, Neukirchen-Vluyn 2004, S. 489; vgl. Köhnlein (s. Anm. 4), S. 80.
[13] Ruben Zimmermann, Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter). Lk 10,30–35, in: Ders. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, (S. 538–554) S. 548.
[14] Bovon (s. Anm. 9), S. 90.
[15] Jülicher (s. Anm. 4), S. 588.
[16] Mischna Gittin 5,8.
[17] So Köhnlein (s. Anm. 4), S. 86.
[18] Jülicher (s. Anm. 4), S. 591.
[19] A.a.O., S. 598.
[20] Köhnlein (s. Anm. 4), S. 91.
[21] Eckey (s. Anm. 12), S. 490.
[22] Klein (s. Anm. 6), S. 393.
[23] Jülicher (s. Anm. 4), S. 593.
[24] Plautus, Asinaria II 4, Zeile 495.
[25] Köhnlein (s. Anm. 4), S. 87.