Israel – ein Zeichen der Treue Gottes? Teil 1
von Peter Hirschberg

Die Tatsache, dass sich das jüdische Volk nach 2000 Jahren überwiegender Diasporaexistenz neu im Land seiner Väter sammelt und es ihm gelingt, dort einen Staat zu gründen, ist so erstaunlich, dass selbst ein im Prinzip nüchterner Denker wie Abraham Heschel ausrufen kann: „So etwas ist noch nie dagewesen! Ein Volk, das verachtet und verfolgt und über die ganze Erde zerstreut war, besitzt die Kühnheit zu träumen, dass es seine Eigenständigkeit zurückgewinnt, frei ist im Heiligen Land.“347 Und dieses Volk träumt eben nicht nur, es kann den Traum sogar realisieren, bis dahin, dass es dem jungen Staat Israel nun schon seit sechzig Jahren gelingt, in einer überwiegend feindlichen Umwelt zu überleben. Hält man sich des Weiteren vor Augen, dass dies alles während des Jahrhunderts geschah, wo Nazideutschland mit mörderischer Brutalität und Kaltblütigkeit die Endlösung der Judenfrage anstrebte und sechs Millionen Juden umbrachte, dann kann sich einem schon die Frage aufdrängen, ob dies alles nur Zufall ist. Hier die allergrößte Katastrophe in der jüdischen Geschichte, dort das allergrößte Wunder: Tod und Auferstehung! Sind diese Ereignisse – im Negativen wie im Positiven – nicht so unglaublich, dass sie förmlich nach einer geschichtstheologischen Deutung schreien? Heschel versucht vorsichtig einen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen herzustellen, indem er bekennt: „Israel hilft uns, die Qual von Auschwitz zu ertragen, ohne gänzlich zu verzweifeln, hilft uns, einen Strahl von Gottes Glanz im Dschungel der Geschichte zu spüren.“348 Nun ist diese Deutung gegenüber Interpretationen, die die Sammlung Israels im Land seiner Väter gleich mit messianischen Konturen versehen, noch äußerst zurückhaltend, und dennoch wagt Heschel hier eine geschichtstheologische Aussage. Nicht in dem Sinn, dass er alles einer geschichtstheologischen Systematik unterwirft, aber doch so, dass er es wie die Propheten wagt, einen konkreten geschichtlichen Ausschnitt von Gott her zu deuten. Es stellt sich uns damit die Frage, ob es legitim ist, solche geschichtstheologischen Interpretationen vorzunehmen, und im konkreten Fall, ob es legitim ist, die zionistische Einwanderung und das Entstehen des Staates Israel in besonderer Weise auf Gottes Handeln zurückzuführen.

Im Christentum sind es vor allem christlich-zionistische Kreise, die eine geschichtstheologische Deutung mit stark messianischen Konturen favorisieren, während die akademisch orientierte Theologie hier äußerst skeptisch ist. Sie ist – vor allem aufgrund der Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus – ein gebranntes Kind. Denn wenn man eins gelernt hat, dann dies: Man muss auf der Hut sein, wenn eine irdische Wirklichkeit – sei es ein Mensch, ein Volk oder ein Land – verabsolutiert wird. Nicht umsonst heißt es im Bekenntnis von Barmen: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“349 Deshalb ist die Behauptung der Rheinischen Synodalerklärung, dass der Staat Israel ein „Zeichen der Treue Gottes“ darstelle, schon das Äußerste, was man an geschichtstheologischen Aussagen wagt, und selbst dieser Satz geht vielen schon zu weit.

Freilich, auch die Verweigerung jeder geschichtstheologischen Deutung überhaupt ist ein Problem. Juden und Christen glauben nun einmal an einen Gott, der in der Geschichte wirkt. Kann man biblischen Glauben noch ernst nehmen, wenn man diese Dimension völlig leugnet? Ja, noch mehr: Fördert man nicht bewusst oder unbewusst atheistische und letztlich menschenfeindliche Tendenzen, wenn man Gott völlig aus der Geschichte eliminiert? Der Gott, der die Welt wie ein großer Uhrmacher erschaffen hat, um sich dann völlig aus ihr zurückzuziehen, ist jedenfalls nicht der Gott der Bibel, sondern der Gott deistischer Philosophie. Nun kann man einwenden: Geleugnet wird ja nicht, dass Gott die Geschichte in seiner Hand hat, in ihr wirkt und sie letztlich dem alles entscheidenden Ziel zuführt, geleugnet wird nur, dass der Mensch, auch der religiöse Mensch, von seinem begrenzten Standpunkt aus diesen Plan Gottes in der Geschichte verifizieren kann. Nicht die Geschichtsmächtigkeit Gottes wird verneint, sondern nur die menschliche Hybris, die sich Gottes bemächtigen will und sich in spekulative Randzonen vorwagt, die dem Menschen aus gutem Grund besser versagt bleiben. Aber auch dieses Argument hat seine Grenzen. Denn letztlich versucht sich jeder glaubende Mensch am laufenden Band als Geschichtstheologe. Wenn er seine eigene Lebensgeschichte im Licht Gottes zu deuten versucht, betreibt er in einem kleinen Rahmen Geschichtstheologie. Wenn ein Pfarrer oder Priester am Sonntag auf die Kanzel steigt, um kleine und große Ereignisse im Licht der biblischen Botschaft zu deuten, tut er das Gleiche. Das heißt nicht, dass er damit immer erfolgreich ist, aber das heißt, dass er nicht anders kann, sofern er an den geschichtlichen Gott der Bibel glaubt. Natürlich, um dies noch einmal klarzustellen: Es geht dabei nicht darum, die persönliche oder globale Gesamtgeschichte in eine strenge, vom Menschen einsehbare Systematik zu pressen. Es geht um Prophetie, um das Erkennen des Kairos im Zusammenhang der göttlichen Heilsgeschichte. Vielleicht ist deshalb die Frage gar nicht, ob ja oder nein, vielleicht ist die Frage einfach, was eine seriöse Geschichtstheologie von einer unseriösen unterscheidet. Dieser Frage muss ich mich deshalb zuerst zuwenden, bevor ich die gewonnenen Einsichten dann auf die hier zu Debatte stehende Frage beziehe.

Kann man den Sinn von Geschichte erkennen

Den Sinn von Geschichte erkennen wir meist erst im Nachhinein. Wie wahr dieser Satz ist, haben wir alle sicher schon erfahren. Manches, das uns im ersten Augenblick als große Katastrophe erscheint, erweist sich später als etwas, das uns in entscheidender Weise vorangebracht hat. Anderes wiederum halten wir zuerst für das größte Glück, und erst im Laufe der Zeit stellt sich heraus, dass der Schein getrogen hat. Da wir als Menschen immer in einer konkreten geschichtlichen Situation gefangen sind, ist all unser Begreifen aufgrund seiner Zeit-und Ortsgebundenheit notgedrungen fragmentarisch. Die Prozesse und Entwicklungen, in denen wir stehen, sind nie wirklich abgeschlossen. Sie entziehen sich einer letzten Deutbarkeit. Erst in dem Augenblick, wo wir auf die Totalität unseres Lebens zurückblicken können, sind sie abgeschlossen – dann aber sind wir tot! Ein wirkliches Resümee, das das ganze Sinn-und Unsinnspotential unseres Lebens zusammenfassen könnte, ist schon allein aus diesem Grund während unseres Lebens nicht möglich. Über kleine Lichtblicke, die uns unser Schicksal erhellen, kommen wir meist nicht hinaus. Wenn uns aber schon in unserem eigenen kleinen Leben der Überblick fehlt, wie soll er uns dann erst im großen geschichtlichen Prozess gelingen, dort, wo unendlich viele Faktoren zusammenwirken und überhaupt nicht abzusehen ist, wann und wie das große Spiel sein Ende finden wird.

Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Da ist ein Wanderer, der sich hoffnungslos verlaufen hat. Erst nach vielen Irrwegen und Umwegen findet er auf den richtigen Weg zurück. Es ist ihm unerklärlich, wie er sich so verlaufen konnte. Ebenso unerklärlich ist ihm, wie er schließlich doch wieder auf den richtigen Weg zurückgefunden hat. Erst am Ende seiner Wanderung kommt das große Aha-Erlebnis. Sein Weg hat ihn auf einen hohen Berg geführt, und von diesem aus kann er jetzt die ganze zurückgelegte Wegstrecke überblicken. Jetzt geht ihm auf, warum der eine Weg nicht weiter ging, der andere aber doch, und er schließlich wieder auf dem richtigen Weg gelandet ist. Die Vogelflugperspektive ermöglicht, dass er all die Täler, Berge und Hindernisse sieht, die ihm vorher verborgen waren und eine klare Orientierung so schwierig machten. Wir leben unser Leben nach vorne, aber wir begreifen es nach hinten!

Doch so schwierig es auch ist, den Sinn von Geschichte zu erkennen, an einem Punkt sind sich die meisten biblischen Autoren einig: Sie glauben, dass es einen solchen Sinn gibt. Gott hat dieser Welt eine Bestimmung gegeben, ein Ziel. Ein Ziel, das dort erkennbar wird, wo Gott uns seine Verheißungen zuspricht. Denn so unterschiedlich diese im Einzelnen auch sein mögen, als Verheißungsgeschichte betrachtet weisen sie alle in dieselbe Richtung350: auf einen Zustand allumfassender Harmonie, wo der Mensch im Einklang mit Gott, sich selbst, seinen Mitmenschen und der Schöpfung die Erfüllung seiner tiefsten Sehnsüchte findet. So wie ein Kapitän auf See durch sein Fernglas das Land erblickt, das mit bloßem Auge noch nicht einmal zu erahnen ist, so lässt Gott uns in Form der Verheißung seine Vollendung schauen. Auf diese Weise können wir das Ziel in den Blick nehmen und vom Ziel her Orientierung auf unserem Weg gewinnen. So ist der Beginn aller Wege Gottes mit uns Menschen die Verheißung. Und diese Verheißung wird auf der historischen Ebene das erste Mal dort laut, wo Gott Abraham, den Urvater des späteren Israel, aus seinem Vaterhaus herausruft und ihn zum Aufbruch in ein neues Land ermutigt (Gen 12,1–4). Nun wird sie nicht mehr verstummen, bis alle Wege Gottes im neuen Jerusalem und der neuen Schöpfung zu ihrem Ziel gekommen sind (Offb 21f ). Die biblische Geschichte ist somit durch und durch teleologisch. Sie weist den Menschen immer wieder über sich und seine Situation hinaus, hin auf ein Ziel, das es erst noch zu erreichen gilt. Immer wieder neu aufbrechen, immer wieder neu den Status quo in Frage stellen, immer wieder neu den Glauben wagen, das ist das anstrengende, aber auch abenteuerliche und visionäre Charakteristikum biblischer Geschichte. Es scheint, dass der Gott Israels und der Gott Jesus Christi nicht eher zufrieden ist, bis auf der Erde der Himmel ausgebrochen ist, bis das Göttliche alles so durchdrungen, verwandelt und geheiligt hat, dass es auch noch aus dem letzten Staubkörnchen herausstrahlt. Die Schöpfung ist ein ständiger Prozess des von Gott initiierten, begleiteten und geführten Werdens, der erst im Reich Gottes seine Vollendung findet.

Da Gott dieses alles umfassende Ziel nicht alleine erreichen will, sondern in Kooperation und Kommunikation mit seinen Geschöpfen, beruft er sich immer wieder Menschen, die für dieses Ziel einstehen, die dieses Ziel verkörpern, und die andere einladen, den bereits eingeschlagenen Weg mitzugehen. Diesen Menschen legt Gott seine Verheißung ins Herz, aber eben nicht so, dass er sie ihnen in einer schon ganz und gar fertigen Form übergäbe. Nein, er gibt ihnen eine Verheißung, die selbst – zumindest aus menschlicher Perspektive – noch im Werden ist. Nehmen wir als Beispiel die eben zitierte Verheißung, die der Nomade Abraham nach biblischem Zeugnis erhalten hat, also die Verheißung, Stammvater eines großen Volkes zu werden, das einmal im verheißenen Land wohnen wird. Diese Verheißung ist nach allen Erkenntnissen historisch-kritischer Forschung in dieser Form nicht an den historischen Abraham ergangen.351 Sie ist in der heutigen, Schrift gewordenen Gestalt ein Reflex späterer theologischer Überlegung. Aber dieser Reflex enthält eine tiefe Wahrheit. Um diese zu verstehen, müssen wir uns jedoch genauer bewusst machen, wie die historisch-literarische Genese ablief.

Am Anfang standen Abraham, Isaak und Jakob. Sie, die als Stammesführer den historischen Urstock Israels bildeten, bekamen von dem Gott, den sie verehrten, auf die Zukunft bezogene Verheißungen: die Verheißung von Land und von Nachkommen. Das ist sozusagen das erste Stadium der Verheißung, wenn man der mit aller Akribie durchgeführten historisch-kritischen Rekonstruktion glauben darf. Insofern waren auch diese Nomaden bereits auf ein Ziel ausgerichtet und vertrauten ihrem Gott, dass er ihren Familien Zukunft ermöglichen will und kann. Aber diese Zukunft war noch sehr überschaubar auf die kommende Zeit bezogen. Sicher rechneten sie nicht damit, zu den Vorfahren eines Volkes zu gehören, das dann später in einem Landstrich der Levante sesshaft werden wird und darin die Realisierung einer in Urzeiten ergangenen Verheißung sieht. Erst die späteren Theologen Israels haben im Rückblick in der Sesshaftwerdung dieser nomadischen Gruppen und dem zunehmenden Zusammenwachsen der Stämme im Zeichen des Jahweglaubens einen göttlichen Geschichtslenker am Werk gesehen, der implizit bereits in den nomadischen Gruppen der Vorfahren Israels am Wirken war. „Die Vätererzählungen der Gen selber sind durchgehend der Meinung, daß im Handeln Gottes an den Vätern selbstverständlich Jahwe am Werke sei, wenn auch so nach E und P, in einem eigentümlichen Zuvor unter der Verhüllung eines anderen Namens.“352 Im Klartext: Abraham hatte noch nicht gewusst, welch großen Zielen er dienen würde, wenn er sich wieder einmal aufmachte, seinem Gott vertraute, neues Weideland suchte und dabei sein Zelt in einem Gebiet aufschlug, in dem seine Nachfahren schließlich endgültig sesshaft wurden. Aber seine Nachfahren haben es „gewusst“. Die Verheißung enthielt einen Mehrwert, der sich erst allmählich als solcher entpuppt hat. Sie war wie ein Samenkorn, das erst allmählich aufging und sich in seiner wahren Schönheit und Größe entfaltete.

Doch dieser Prozess ging über das Stadium der endgültigen Sesshaftwerdung noch weit hinaus. Man wollte oder konnte nämlich auch dann noch nicht glauben, dass die Verheißung endgültig ans Ziel gekommen war und entwickelte deshalb in bestimmten frühjüdischen (z.b. AssMos 10,1–10) und christlichen Schriften den Gedanken, dass das wirklich verheißene Land im Grunde genommen überhaupt kein reales Land mehr ist, sondern ein transzendentes Land, eine Metapher für das letzte und endgültige Ankommen und Zuhausesein in der ewigen Glückseligkeit. So deutet der Autor des Hebräerbriefes das Schicksal Abrahams, indem er bekennt: „Durch den Glauben ist er ein Fremdling geworden in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.“ (Hebr 11,9f) Die Verheißung an Abraham war also eigentlich gar nicht auf die Landnahme der Israeliten bezogen, sondern auf die endgültige „Landnahme“ der Glaubenden im Reich Gottes.

Historisch betrachtet kann man natürlich sagen: Was wird dem armen Abraham hier nicht alles untergeschoben! Aus der Glaubenserkenntnis heraus jedoch ist dieser Gedanke durchaus sinnvoll: Gott offenbart erst allmählich, worum es in der Verheißung geht, weil er Menschen existentiell in seine Verheißung verstricken will, d.h. sie so mit ihr eins werden lassen will, dass die Verheißung zum menschlichen Herzenswunsch wird.353 Das geht aber nur durch Erfahrung. Bezogen auf unser Beispiel: Vielleicht bekommen unsere wandernden Nomaden endlich ihr Zuhause, ihr von Gott verheißenes Land. Dann leben sie in ihm, sind durchaus dankbar dafür, genießen es, merken aber mit der Zeit auch, dass das Land alleine noch keine glücklichen und Gott hingegebenen Menschen garantiert. Ja, das Land birgt sogar ein nicht geringes Gefährdungspotential in sich, weil es den Menschen dazu verleitet, es mitsamt seiner Fruchtbarkeit zu vergötzen. Es kann zu einer falschen Form von Sesshaftigkeit führen, einer sedentären Lebensweise, die den Status quo als allein selig machenden Zustand preist und übersieht, dass Glaube, der lebendig ist, immer wieder den Aufbruch aus alten und falschen Gewohnheiten nötig hat. Aufgrund all dieser Erfahrungen dämmert dem sich auf dem Glaubensweg befindenden Menschen allmählich, dass das „eigentliche“ Verheißungsgut noch einmal ganz andere Qualitäten haben muss, als es ein Stück Land je haben kann. So wächst der Mensch mit der Verheißung und die Verheißung mit dem Menschen, und doch ist es Gott, der alles wachsen lässt.

Dieser Veränderungs- und Kristallisationsprozess von Verheißung verdankt sich einem komplizierten Zusammenspiel von göttlichem Handeln und menschlichem Reagieren, das nie wirklich zu ergründen sein wird, aber das Ergebnis wird jedenfalls sichtbar in Verheißungen, die das Alte aufnehmen und es zugleich übersteigen, es transzendieren. Hier sind wir nun an einem wichtigen Punkt angelangt. Die Illustration dieses Prozesses am Beispiel der Landverheißung könnte nämlich den Eindruck erwecken, dass das immanente Ziel dieser Verheißungsentwicklung eine immer größere Spiritualisierung ist. Das wäre jedoch zu einseitig, in gewisser Weise sogar falsch. Die zunehmende Spiritualisierung, auch im Sinn einer inneren Durchdringung und Adaption, muss nicht zwangsläufig die ursprünglichen Gehalte überspringen bzw. negieren. Viel häufiger nimmt sie die ursprüngliche Verheißung auf, und zwar so, dass sie sie auf einer höheren Ebene integriert. Also nicht Aufhebung im rein negativen Sinn, sondern Erhebung auf ein höheres Niveau, Auf-hebung! Bezogen auf die Landverheißung: Tritt an die Stelle der Landverheißung eine reine Metapher oder Chiffre, so dass das jenseitige „Land“ keinerlei Bezug mehr zu dem hat, was als Land ursprünglich gemeint war, dann würde es sich um eine reine Negation handeln. Ist die neue Landverheißung aber so gemeint, dass auch das, was in der alten Landverheißung an konkretem Gehalt vorhanden war, mit aufgenommen wird und mit zum Ziel kommt, dann würde es sich um eine Synthese auf höherer Ebene handeln. Es mag ja sein, dass das Land als nur materielle Basis nicht genügt, um Menschen glücklich zu machen. Vielleicht brauchen und wollen sie mehr. Aber umgekehrt wäre wohl auch niemand glücklich, wenn er nur noch Transzendenz hätte. Schließlich ist der Mensch Mensch und soll das auch bleiben. Das Land als endgültiges Verheißungsziel muss also beides enthalten: das Moment der Transzendenz, die Einsicht, dass nichts Geschaffenes in sich selbst Erlösung findet, es sei denn, es findet sein Ziel in Gott, aber auch das Moment des Konkreten, das Wissen darum, dass Gott Schöpfung gewollt hat und eben kein rein spirituelles Geistreich.

Welche Rolle spielt Jesus nun in dieser Verheißungsgeschichte? Aus christlicher Perspektive ist Jesus die göttliche Verheißung in Person.354 Er verkündigt und verkörpert das universale Verheißungsziel Gottes, seine Königsherrschaft. Eine Königsherrschaft, die Gott so aufrichten will, dass der Mensch und die Schöpfung durch die göttliche Liebe letzte Heilung und Erlösung finden. All die verschiedenen Verheißungen, die im Alten Testament ausgesprochen werden, werden in Jesus gebündelt und auf den Punkt gebracht, ohne – und das ist entscheidend – ihre irdisch-konkrete Kontur zu verlieren. So ist Jesus an der universalen Ausweitung der Erlösung auf alle Menschen interessiert, aber eben nicht so, dass dadurch die Partikularität der Erwählung Israels aufgehoben wird. Vielmehr soll gerade das messianisch erneuerte Israel zum Licht für die nichtjüdischen Völker werden.355 Auf einer anderen Ebene ist zu beobachten, dass Jesus die spirituelle und die materielle Dimension als komplementäre Aspekte betrachtet.356

Doch nicht nur die Verheißung, auch der Kampf gegen die Verheißung erreicht in Jesus seinen Gipfelpunkt. Die Mächte, die ihn ans Kreuz bringen, verkörpern nichts anderes als den Widerstand, der sich schon immer gegen die Verheißungsgeschichte Gottes erhoben hat. Es ist der Widerstand der Sünde, die meint, das Paradies auch ohne Gott etablieren zu können. Es ist der Widerstand des Todes und der Vergänglichkeit, die alles bedrohen. Es ist der Widerstand der Sinnlosigkeit und Absurdität, die jeder Teleologie entgegenstehen. Wenn man das Sterben Jesu in den Evangelien mit Bildern beschrieben hat, mit denen man im alten Israel das Sterben der Gerechten schilderte, die für Gott eintraten und dabei am menschlichen Widerstand zugrunde gingen, dann wollte man damit genau das betonen: Die Auseinandersetzung hat nun ihren Höhepunkt erreicht. Doch wider alle Erwartung war dieser Tod nicht das endgültige Aus der göttlichen Verheißungsgeschichte. Gott hat Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt und dadurch die Verheißung, die dieser in seinem Leben verkörpert hat, bestätigt. Die Verheißung an Israel ist also immer noch gültig, obwohl einige Repräsentanten dieses Israel Jesus ans Kreuz gebracht haben. Auch der Universalismus Gottes, seine Liebe zu allen Menschen, bleiben gültig, obwohl Pontius Pilatus als oberster Repräsentant der damaligen Welt Jesus zum Tod verurteilt hat. Gott lässt sich nicht davon abbringen, sein universales Verheißungsziel zu erreichen: die umfassende, den ganzen Kosmos durchdringende Königsherrschaft Gottes. Schließlich ist der Auferstandene nicht nur ein wiederbelebter Toter, sondern der Erstling der neuen Schöpfung, derjenige, der uns vor Augen führt, was nach dem Willen Gottes am Ende mit der ganzen Schöpfung geschehen soll. Wollen wir also eine Ahnung davon bekommen, wie sich die Erlösung einst gestalten wird, dann muss der Auferstandene Richtschnur unseres Denkens und Vorstellens sein. Wenn wir „sehen“, wie er einerseits durch seine verwandelte Leibhaftigkeit als Jesus von Nazareth zu erkennen ist, andererseits aber wahrnehmen, dass diese Leibhaftigkeit von jeder irdischen Schwere, von jeder Orts-und Zeitgebundenheit befreit ist, dann ahnen wir vielleicht, was am Ende der Schöpfung steht: eine verwandelte, von allem Negativen befreite Seinsweise, die das Alte dennoch bleibend in sich birgt. Gerade so ist Jesus die letzte und umfassendste Verkörperung der göttlichen Verheißung.357

Bezogen auf unsere geschichtstheologische Fragestellung bedeutet dies, dass uns in der Verheißung, die in Jesus ihre letztgültige Gestalt gefunden hat, das von Gott intendierte Ende der Geschichte vor Augen gestellt wird.358 Aus der Perspektive der Vollendung können und sollen wir nun unsere Welt betrachten, um von daher zu erkennen, was in unserer persönlichen Lebensgeschichte und der allgemeinen Weltgeschichte der göttlichen Verheißung entspricht und was ihr widerspricht. Der eine Blick ist also auf die Verheißung gerichtet, der andere Blick auf die Wirklichkeit unseres Lebens und dieser Welt. Im Dialog der beiden Perspektiven und unter dem Beistand des Heiligen Geistes kann und soll sich auch noch heute das ereignen, was biblisch gesehen als Prophetie bezeichnet werden kann. In diesem Sinn sind alle Christen von Gott berufene Propheten und Prophetinnen.

Ich komme auf das Beispiel des verirrten Wanderers zurück. Biblisch gesehen ist es also nicht so, dass wir uns bereits am Ende der Geschichte befinden und vom hohen Berg her überblicken könnten, welche Wege nun zum Ziel führen und welche nicht. Wir befinden uns vielmehr selbst noch auf dem Weg. Dennoch können wir mit dem Fernglas schon das Ziel ins Visier nehmen. Zumindest in einem gewissen Maß können wir erahnen, was diesem Ziel entspricht und von dorther unserem Leben Gestalt geben: Wir können aus unserem Glauben heraus Haltungen einüben, Worte sagen und Handlungen vollziehen, von denen wir hoffen, dass sie der Verheißung entsprechen. Wir können, wie man im frommen Jargon gerne sagt, nach bestem Wissen und Gewissen das tun, von dem wir glauben, dass der Segen Gottes darauf ruht. Aber wir bleiben uns dabei der Tatsache bewusst, dass das Ganze aus einer übergeordneten Perspektive noch einmal ganz anders aussehen kann, so anders, dass das in unseren Augen Sinnlose plötzlich sinnvoll wird und das in unseren Augen Sinnvolle sich als der größte Unsinn erweist. Es könnte – um das Ganze auf die Spitze zu treiben – sogar sein, dass das Nicht-Erreichen eines Ziels, das sich uns vom Zeugnis der Bibel her aufgedrängt hat, sinnvoller ist als sein Erreichen, dass also der „Irrweg“ zum wahren Weg wird und der „wahre Weg“ zum Irrweg. Zum Beispiel dann, wenn wir durch unsere Fehlschläge etwas demütigere Menschen werden. Mit den Worten Dietrich Bonhoeffers: „Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. … Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“359 Diese Einsicht wiederum soll uns freilich nicht daran hindern, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln das Gute zu suchen. Sonst würden wir unser Leben mit theoretischen Spekulationen vergeuden und vor unserer Verantwortlichkeit fliehen. Auch dafür können wir ein Wort Bonhoeffers anführen: „Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, / nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, / nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.“360 So soll diese Einsicht nur eines: uns davor warnen, unsere geschichtstheologischen Einsichten zu verabsolutieren. Alle prophetische Theologie steht unter dem eschatologischen Vorbehalt. Prophetie gehört zu den vorletzten Dingen, muss kritisierbar bleiben, auch wenn sie den Anspruch hat, sub specie aeternitate zu reden.

Eine absolute Form der Geschichtstheologie kann es aber nicht nur deshalb nicht geben, weil wir uns zwar in der Bewertung von Ereignissen täuschen können, man aber gleichsam dennoch voraussetzen darf, dass es den einen, von Gott her klar festgelegten Weg gibt. Nein, nicht einmal diesen Weg gibt es. Vielmehr entsteht dieser Weg, der zum Ziel führt, erst im Gehen, im Zusammenwirken, und manchmal auch im Gegeneinanderwirken von Gott und Mensch. Auch wenn man das Ineinander von göttlicher Führung und menschlichem Willen dabei nie auflösen kann, wird man doch sagen können: Es gibt nach biblischem Zeugnis keinen ohne Wenn und Aber festgelegten göttlichen Endzeitfahrplan.361 Am eindrücklichsten bezeugt dies das Beispiel des Propheten Jona.362 Jona verkündet nach dem Scheitern all seiner Fluchtversuche der großen Stadt Ninive ihr baldiges Ende. Ninive soll untergehen, weil seine Gottlosigkeit gen Himmel schreit. Doch nun geschieht das Überraschende. Ninive tut in Sack und Asche Buße – und Gott erbarmt sich der Assyrer. Das gefällt Jona überhaupt nicht, wohl vor allem deshalb, weil Gott ihn auf diese Weise zum falschen Propheten stempelt. Denn wenn man es so genau wie Jona nimmt, dann kann man Gott durchaus den Vorwurf machen, dass er nicht zu seinem Wort stehe, das er dem Propheten aufgetragen hat. So startet Gott den Versuch, Jona für seine spontane und überraschende Barmherzigkeit zu gewinnen. Er tut es, indem er ihm einen Schatten spendenden Busch wachsen lässt, den er kurz darauf aber gleich verwelken lässt, indem er einem Wurm den göttlichen Auftrag erteilt, die Wurzeln dieses wunderbaren botanischen Meisterwerkes anzunagen. Jona, der diesen Busch heiß und innig geliebt hat, ist darauf ziemlich sauer. Die göttliche Hoffnung ist, dass die Trauer über den Verlust dieses wunderbaren Busches Jona letztlich doch noch dazu bringt, Gott zu verstehen. Denn, wie sagt Gott so schön: „Dich jammert die Staude, um die du dich nicht gemüht hast, hast sie auch nicht aufgezogen, die in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertundzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?“ (Jo 4,10f) Diese Geschichte zeigt in wunderbarer Weise, dass Gott auf uns Menschen eingeht, ja dass es das Prinzip der Schöpfung ist, dass Gott in Kooperation mit uns Menschen seine Ziele erreichen will. Deshalb kann menschliche Umkehr Gott dazu bringen, dass er geplantes Unheil zurücknimmt, und umgekehrt kann Ungehorsam Gott dazu zwingen, seinen Heilsplan anders zu realisieren, als er es ursprünglich geplant hat. Die Apokalyptik, die von einem feststehenden göttlichen Heilsplan ausgeht, wurde in dieser Form gerade nicht vom Neuen Testament adaptiert. Bestes Beispiel dafür ist das neutestamentliche Buch, das den Namen Apokalypse trägt: die Offenbarung bzw. eben Apokalypse des Johannes. Hier geht es klar um biblische Prophetie, um die Aufdeckung, die Enthüllung (apokalypsis = Enthüllung) menschlicher Entwicklungen im Licht der göttlichen Offenbarung, nicht aber um die Verkündigung eines feststehenden Endzeitfahrplans. „Der Seher will keine präzise Vorhersage der Endzeitereignisse geben, sondern im Sinne einer Wesensschau das innere Gefälle der durch Christus eschatologisch bestimmten Geschichte herausarbeiten. Er will keine von apokalyptischen Schemata abhängige und unselbstständige Christen – gerade die sind den Verführungen ausgesetzt –, sondern wache Menschen, die einen Blick für das Wesentliche bekommen.“363 Es geht um die Beurteilung von Prozessen und Entwicklungen, das Begreifen der Kräfte, die hinter den geschichtlichen Kulissen ihr Wesen bzw. Unwesen treiben, aber all das nur zu einem Zweck: um im Licht der Verheißung Orientierung zu gewinnen, um all die Kräfte zu fördern, die der Verheißung entsprechen und all jenen Widerstand zu leisten, die sich ihr in den Weg stellen.

Der Dialog von Verheißung und Wirklichkeit in der Kraft des Heiligen Geistes: der lukanische Weg zur Geschichtserkenntnis

Wenn man die Notwendigkeit prophetischer Theologie in den oben aufgezeigten Grenzen bejaht, stellt sich unweigerlich die Frage, wo und wie sich der Dialog zwischen Verheißung und erfahrener Wirklichkeit heute ereignen kann. Um an diesem Punkt weiterzukommen, schlage ich vor, bei Lukas in die Schule zu gehen. Er ist der neutestamentliche Theologe, der sich vielleicht am intensivsten mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt hat. Vor allem konfrontiert er uns nicht nur mit vollendeten Tatsachen, indem er uns seine theologische Geschichtsdeutung vor Augen führt, sondern demonstriert auch ganz konkret, wie die junge christliche Gemeinde ihren Weg durch die geschichtlichen Wirren findet, wie sie zu einem Leben findet, das der in Christus ergangenen Verheißung entspricht. So liefert Lukas Kriterien, die auch für heutige geschichtstheologische Deutungsversuche relevant sind.364 Besonders spannend ist dabei, dass er sich auch noch direkt mit dem Inhalt unserer Fragestellung auseinandersetzt: mit dem Verhältnis von Kirche und jüdischem Volk. Auch wenn wir seine Ergebnisse aufgrund des radikal veränderten historischen Kontexts nicht einfach übernehmen können, wird sein Entwurf die Entwicklung einer eigenen Konzeption in jedem Fall befruchten. Da wir auf die inhaltlichen Aspekte seiner Israeltheologie bereits im ersten Kapitel dieses Buches ausführlich eingegangen sind, sollen diese nur kurz in Erinnerung gerufen werden, bevor wir uns dann seinem „methodischen“ Entwurf widmen. Die geschichtliche Wirklichkeit zur Zeit des Lukas war so beschaffen, dass sich nur ein Teil des jüdischen Volkes für das Evangelium öffnete, während die Mehrheit es ablehnte und umgekehrt die Heiden in großer Zahl Christen wurden. All das passte überhaupt nicht zur „Dogmatik“ der jüdischen Urgemeinde, die aller Wahrscheinlichkeit nach davon ausging, dass im Sinne der Auffassung von der Völkerwallfahrt zuerst Juden das Heil erfahren müssen, bevor dieses dann in einer zweiten Phase zu den Heiden gelangen kann. Die für Juden-und Heidenchristen bedrängende Frage war, wie diese völlig unerwartete Entwicklung theologisch zu bewältigen ist. Soll man Israel endgültig abschreiben und sich nur noch den Heiden zuwenden? Soll man an der judenchristlichen „Dogmatik“ festhalten und die Heidenmission kategorisch ablehnen? Oder soll man einen Kompromiss wagen und sich Juden und Heiden in gleicher Weise zuwenden? Meine These ist, dass Lukas Antworten auf die zur Debatte stehenden Fragen findet, indem er genau das tut, was wir soeben gefordert haben: Er bringt die Verheißung und die Wirklichkeit miteinander ins Gespräch. Dabei ist für ihn klar: Die (in Christus konzentrierte) Verheißung gilt Israel und den Völkern (so z.B. in Lk 2,29–32). Aus dieser Perspektive betrachtet er die konkrete Wirklichkeit und macht dabei folgende Beobachtungen:

1) Die Heiden öffnen sich für das Evangelium. Die Ausgießung des Heiligen Geistes auf sie – verbunden mit entsprechenden wunderhaften Fügungen (z.B. Apg 10) – ist ein klares Indiz dafür, dass dieses Geschehen gottgewollt ist. Das, was sich vor aller Augen ereignet, muss also als beginnende Erfüllung der den Völkern geltenden Verheißung begriffen werden.

2) Auch das Verhalten Israels entspricht nach Lukas in nicht wenigen Zügen der Verheißung, da es tatsächlich zur Etablierung des eschatologischen Israel kam, die im Weiteren dann die Völkermission nach sich zog.

3) Es gibt aber auch wesentliche Aspekte der Israel betreffenden Verheißung, die nicht realisiert wurden: vor allem die nationale und messianische Erneuerung des jüdischen Volkes als Ganzem. Stattdessen lehnen große Teile des jüdischen Volkes das Evangelium ab. Nicht wenige Juden gehen sogar aktiv gegen christliche Missionare vor.

Aus diesen Beobachtungen folgert Lukas, dass die Heidenmission und die Etablierung heidenchristlicher Gemeinden von Gott gewollt ist. Sie ist Folge der eschatologischen Konstituierung Israels und des nun auch über die Heiden ausgegossenen Gottesgeistes. Die Wirklichkeit jüdischen Unglaubens als solche bestreitet er nicht, relativiert sie jedoch dadurch, dass er die Erfüllung der Israelverheißungen auf verschiedene Zeiten verteilt: Die für Israel noch ausstehenden Verheißungsinhalte sind immer noch gültig und werden am Ende der eschatologischen Phase, im Zusammenhang mit der Wiederkunft Christi, erfüllt werden. Jetzt ist primär die Zeit der Völker. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.365 Die Israel gegebenen Verheißungen wiegen für ihn so schwer, dass sie nicht einfach metaphorisiert oder spiritualisiert werden können.

Diese Lösung bot für Judenchristen die Möglichkeit, an ihrer Hoffnung für Israel festzuhalten, war gleichzeitig aber auch eine Herausforderung, weil man sich von gewohnten Vorstellungen verabschieden musste. Doch genau das zeichnete die junge judenchristliche Gemeinde in der lukanischen Perspektive (z.B. Apg 15) aus: Dass sie nicht starrköpfig an „ihrer“ Dogmatik festhielt, sondern bereit war, aufgrund des Zeugnisses der Schrift und konkreter Erfahrungen ernsthaft zu überlegen, ob die – im Prinzip gültige – Verheißung in der konkreten geschichtlichen Stunde eben nicht doch ganz anders interpretiert werden muss. Auch die heidenchristliche Existenz wird klar bejaht, allerdings so, dass sie dauerhaft an Israel zurückgebunden wird (z.B. Apg 15, 19–21: Aposteldekret). Fazit: Die Betrachtung der Gegenwart im Licht der Verheißung führt Lukas zu konkreten zeitlichen Prioritäten, aber die im Augenblick durch die Realität nicht abgegoltenen Aspekte der Verheißung werden deshalb nicht geleugnet. Die Geschichte und auch der Mensch in seiner Freiheit werden ernst genommen, aber nicht absolut gesetzt. Richtmaß bleibt in allem die göttliche Verheißung, von der her und auf die hin die Geschichte interpretiert wird.

Wenn wir uns nun der lukanischen „Methodik“ zuwenden, dann fällt als Erstes auf, dass nach Lukas glaubende Menschen die Verheißung nicht einfach aufgrund ihrer eigenen intellektuellen Urteilskraft auf die Wirklichkeit beziehen und so herausfinden, welche Einstellungen und Taten der Verheißung entsprechen. Der eigentliche Agitator der Heilsgeschichte ist Gott selbst, nicht der reflektierende Theologe, so sehr dieser auch am göttlichen Handeln aktiv beteiligt ist. Gott treibt durch Christus und den Heiligen Geist – in Kooperation mit den Menschen – die Realisierung der Verheißung in der Geschichte voran.366 Seriöse Geschichtsdeutung entsteht Lukas zufolge deshalb erst dort, wo die Glaubenden sich im Hören auf die Verheißung und im bewussten Wahrnehmen der Wirklichkeit gleichzeitig auf das Wirken des Heiligen Geistes einlassen, der der eigentliche Interpret und Akteur des Geschehens ist. Das geht so weit, dass Lukas in Apg 15, 28 bezogen auf das Aposteldekret formulieren kann: „Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen …“ Eine seriöse Geschichtsdeutung ereignet sich in lukanischer Sicht also im Grunde genommen in einem Trialog von Verheißung, Wirklichkeit und Heiligem Geist, wobei der konkrete Ort, an dem sich dieser Trialog ereignet, das Subjekt des Glaubenden ist, der auf unterschiedliche Weise und auf unterschiedlichen Ebenen an allen drei Dimensionen Anteil hat. Der Heilige Geist wiederum wirkt nach Lukas unter anderem so, dass er bestimmte charismatische Phänomene hervorbringt. Im Einzelnen verweist Lukas auf folgende Punkte:

1) In der Apostelgeschichte spielen Träume und Visionen eine große Rolle (Apg 2,17). Sie interpretieren die geschichtliche Wirklichkeit, setzen einzelne Christen oder die christliche Gemeinde auf die richtige Spur, sind sozusagen Mittel der göttlichen Hermeneutik (z.B. Apg 16,9).

2) Erstaunlich sind auch die vielen Zufälle, von denen Lukas in der Apostelgeschichte erzählt. Diese Zufälle sind für ihn ein Zeichen dafür, dass Gott am Werk ist oder zumindest am Werk sein kann. Sie sind für ihn göttliche Zu-fälle und erfüllen damit die hermeneutische Funktion eines eye opener. Das beste Beispiel dafür ist die Corneliusgeschichte (Apg 10). Der Zufall besteht in dieser Geschichte aus einer Korrelation von mehreren Wirklichkeitsebenen: Visionäre Ebene und Wirklichkeitsebene korrespondieren und führen wiederum dazu, dass zwei Menschen (Cornelius und Petrus) zusammenkommen, die nach göttlichem Willen in dieser Situation füreinander bestimmt sind. Kann es denn – so müsste man im Sinne des Lukas fragen – Zufall sein, dass gerade in dem Augenblick, wo Petrus noch völlig benommen von seinem eigenartigen Traum hin- und her schwankt, die Soldaten des heidnischen Cornelius vor der Tür stehen und, indem sie Petrus zu Cornelius führen, dafür sorgen, dass die Bedeutung des Traums klar wird? Natürlich nicht, es ist Zu-fall! So nimmt die Geschichte ihren Fortgang. Von solchen Zufällen wimmelt es in der Apostelgeschichte, und das ist sicher auch kein Zufall. Lukas sieht darin eine besondere Eigenart des Wirkens des Heiligen Geistes, wodurch Menschen die Augen für Gottes Wirken geöffnet werden sollen.

3) Es fällt auf, dass bei Lukas wichtige Entscheidungen immer gemeinsam getroffen werden (Apg 1,15–26) und auch der Heilige Geist bevorzugt in der Gemeinde wirkt (Apg 4,31). Die Gemeinde ist eben nicht nur der Ort, wo die Lehre der Apostel bewahrt und christliche Gemeinschaft gelebt wird (Apg 2,42–47), sondern auch der Ort, wo betende und auf Gott hörende Christen die Verheißung Gottes auf ihre konkrete Situation beziehen. Besonders wichtig ist, dass die Epoche machende Entscheidung für die Heidenmission, auf die der ganze erste Teil der Apostelgeschichte zuläuft, gemeinschaftlich zustande kommt. Die Apostel treffen keine autonome Entscheidung, sondern legen im Grunde genommen nur offen, was (durch den Heiligen Geist) bereits entschieden ist. Apg 15 ist letztlich eine ideale Beschreibung dessen, wie Lukas sich kirchliche Entscheidungsfindung vorstellt. Jeder berichtet seine Erfahrungen, diese Erfahrungen werden von der Verheißung bzw. der Schrift her beleuchtet, und in diesem geistlichen Prozess des Aufeinanderhörens und Ernstnehmens der Wirklichkeit schenkt der Heilige Geist Erkenntnis.

4) Ein nicht unwichtiger Punkt ist für Lukas auch der „Erfolg“. Ob ein Weg im Sinne Gottes ist, kann man auch daran erkennen, ob er sich auszahlt, sich als wahr erweist, ob er – sagen wir es ruhig einmal so pragmatisch – funktioniert. Gott öffnet Türen und Gott verschließt Türen. Es ist nun einmal ein Faktum, dass die Heiden sich zahlreich dem Evangelium zuwenden. Das kann man nicht einfach ausblenden. Genauso wenig wie die Beobachtung, dass die Öffnung der Juden für das Evangelium abnimmt. Alle diese Fakten verlangen eine Interpretation. Wie wichtig Lukas solcher Erfolg ist, zeigt sich übrigens auch daran, dass er dem Gamaliel, der zu den über die Jesusbewegung erzürnten Ratsmitgliedern spricht, folgende Sätze in den Mund legt: „Darum rate ich euch jetzt: Lasst von diesen Männern ab, und gebt sie frei; denn wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten, sonst werdet ihr noch als Kämpfer gegen Gott dastehen.“ (Apg 5, 38f) Zu diesem Rat des Gamaliel merkt Schrage kritisch an: „So problemlos ist der ambivalenten geschichtlichen Faktizität als Resultat und Erkenntnisquelle göttlichen Vorsehungs- und Geschichtshandelns nicht beizukommen Das würde eine eindeutige Erkennbarkeit der Vorsehung Gottes aus dem Weltprozess voraussetzen, dessen Gesetze an der Geschichte einfach ablesbar wären. Solche Eindeutigkeit aber gibt es nicht, auch wenn davon ausgegangen wird, dass Gott im rätselhaft bleibenden Weltgeschehen aktiv Beteiligter bleibt, nicht abwesend und fern, aber nicht unterschiedslos gegenwärtig, sondern verborgen.“367 Doch Schrage irrt in seiner Kritik. Denn Erfolg ist bei Lukas nicht einfach mit menschlichem Erfolg gleichzusetzen.368 Es geht um die Ausbreitung des Evangeliums. Und auch der Erfolg in diesem Bereich wird nicht einfach zum obersten Kriterium erhoben. Die Verheißung (z.B. bezogen auf Israel) bleibt auch dort gültig, wo die Wirklichkeit (noch) eine andere Sprache spricht. Das „Erfolgskriterium“ verdrängt nicht die Wahrheitsfrage. Der Erfolg ist nur ein Faktor unter vielen. Als solcher kann er freilich helfen, den Kairos zu erkennen. (Fortsetzung im nächsten Heft)

348 Heschel, Israel 73.
349 EG S. 1578, Ausgabe Bayern/Thüringen.
350 Aus hermeneutischer Perspektive mag man kritisch fragen, ob hier die Verheißungen nicht zu schnell als auf diesen Jesus Christus zulaufende Verheißungsgeschichte gedeutet werden. Dazu ist zu sagen: Natürlich wird hier das Alte Testament aus christlicher Perspektive gelesen, aber eben nicht so, dass die atl. Verheißungen in Jesus Christus eng geführt und damit ihres Eigenwerts beraubt werden. Vielmehr wird Jesus als Bestätigung und beginnende Erfüllung atl. Verheißungen begriffen, auch der Verheißungen, die in erster Linie Israel und seine Zukunft im Blick haben.351 Dazu s. Albertz, Religionsgeschichte I, 47–68: Albertz nimmt den Ansatz von A. Alt, der die Väterreligion als eigenen Religionstypus beschrieben hat, auf, erweitert ihn aber in religionssoziologischer Hinsicht auf sesshafte Gruppen. Für uns wichtig: Es geht um einen familiären Frömmigkeitstypus, der auf die Primärbedürfnisse einer Familie zielt: Nachkommenschaft und Weideland.
352 Zimmerli, Grundriß 21; zum Thema Verheißung insgesamt: 20–24.
353 Die etwas zu einfache evolutionäre Antwort wäre: Gott offenbart sich sukzessive, weil der religiös und kulturgeschichtlich noch etwas zurückgebliebene Abraham eine so spirituelle Verheißung noch gar nicht verstanden hätte. Nun will ich gar nicht bestreiten, dass es hier und da solche „evolutionären“ Entwicklungen gab, aber als Grundparadigma halte ich sie für wenig tauglich. Wegweisend erscheint mir vor allem Mauser, Gottesbild. Er zeigt am Beispiel von Jeremia und Hosea auf, wie der Prophet als Mensch immer existentieller in das Gotteszeugnis verstrickt wird. Der Prophet ist längst nicht mehr nur einer, der eine Botschaft übermittelt. Es ist vielmehr so, dass sich die Botschaft in seiner Person existentiell „inkarniert“.
354 Genau das ist es, was Paulus im Römer 15, 8f beschreibt: „Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Juden geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.“
355 Dazu Hirschberg, Jesus 102–107.
356 Hirschberg, Jesus 83–85.
357 Aber die Verheißung wird durch Jesus nicht nur bestätigt. Denn schließlich soll durch den Auferstandenen und seinen Geist die Königsherrschaft Gottes sukzessive und umfassend realisiert werden (1Kor 15,20–28). Der Prozess der Verwirklichung der Verheißungsgeschichte Gottes geht also weiter, und der erhöhte Christus ist derjenige, durch den Gott seine Verheißungen realisieren wird.
358 Dazu s. auch Pannenberg, W., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: Pannenberg, Offenbarung, 91–114, hier: 104–106. Die Vorwegereignung des Endes der Geschichte in Jesus Christus, wie sie Pannenberg versteht, muss m. E. Basis jeder biblischen Geschichtstheologie sein. Problematisch an seinem Ansatz ist allerdings die Behauptung, dass die Selbsterweise Gottes in der Geschichte – auch in Jesus Christus – jeder sehen kann und diese in einer problematischen Weise vom anerkennenden Glauben geschieden werden. Das führt zwangsläufig in die Nähe eines Gottesbeweises. Schade ist auch, dass das Auferstehungsereignis zu sehr als Erfüllung und zu wenig als Bestätigung der Israel gegebenen Verheißungen gesehen wird (107–109), und dadurch die für die Entwicklung einer christlichen Israeltheologie positiven Aspekte vernachlässigt werden.
359 Bonhoeffer, Widerstand 18f.
360 Bonhoeffer, Widerstand 184.
361 Zum ntl. Befund s. Schrage, Vorsehung, 196–207.241–252.
362 Dazu s. auch Ebach, U., Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmmung, in: Einwürfe 2/1985 29f.
363 Hirschberg, Israel 25f.
364 Schrage, Vorsehung 167f, formuliert bezogen auf die Frage, welche Rolle das konkrete Geführtwerden im NT hat: „Im Unterschied zur LXX und zum hellenistischen Judentum, wo odhgein breit bezeugt wird und etwa die Führung Gottes beim Exodus (Ex 12,17; Num 24,8 u.ö.), aber auch beim Weg des einzelnen umschreibt (y 23,3; 72,24 u.ö.), finden sich im Neuen Testament nur zwei theologisch relevante Belege: Joh 16,13, wonach der Geist in alle Wahrheit führt, und Offb 7,17, wonach das Lamm die, die aus der großen Trübsal kommen und ihre Kleider gewaschen haben, zu Wasserquellen des Lebens führen wird. Weder die göttliche Wahrheit noch die Wasserquellen werden aber als Ziele der Leitung Gottes innergeschichtlich konkretisiert und festgelegt. … Das Wirken des Geistes bleibt eindeutig soteriologisch qualifiziert und nicht als eine das Weltgeschehen durchwirkende und das persönliche Geschick gestaltende Macht vorgestellt.“ Natürlich steht das Wirken des Geistes, auch bei Lukas, stets in einem engeren oder weiteren soteriologischen Kontext, aber gerade so bestimmt es – und das nicht nur bei Lukas – den Lebensvollzug ganzheitlich. Immerhin urteilt auch Schrage, Vorsehung 174, bezogen auf Lukas: „Aber nur Lukas lässt den Geist vor allem an Wendepunkten der Geschichte eingreifen (Apg 8,29; 10,19.44; 11,12; 16,6 u.ö.), ja er kann sogar so weit gehen, das sog. Aposteldekret mit den Worten einzuleiten: ‚Der Heilige Geist und wir haben beschlossen‘ (Apg 15,28), eine doch erstaunliche Koordination und Inanspruchnahme des Geistes.“ Vielleicht begegnet diese Theologie in anderen Partien des NT auch deshalb nur selten, weil es eine ausführliche Geschichtsdarstellung nur in der Apg gibt.
365 Dazu s. auch S. 39–50.
366 Deshalb sollen die Jünger warten, bis Christus erhöht ist und dieser den Heiligen Geist gesandt hat. Christus muss als Herrscher eingesetzt sein, bevor er seine Herrschaft in der Geschichte realisieren kann. Deshalb die hohe Bedeutung der Himmelfahrtsgeschichte und die starke Betonung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Beides ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich Gottes Herrschen geschichtlich realisieren kann. Zur Wirksamkeit des Heiligen Geistes bei Lukas s. auch Schrage, Vorsehung 167.
367 Schrage, Vorsehung 155f.
368 Zu dieser Gleichsetzung tendiert Schrage, Vorsehung 156, Anm. 573.

aus: Peter Hirschberg, Die bleibende Provokation. Christliche Theologie im Angesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 2008
Wird in den nächsten Blickpunkten fortgesetzt

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