Christi Opfertod und der christlich – jüdische Dialog
von Helmut Foth

Die Stellungnahme des leitenden geistlichen Amtes der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom März 2008 (dokumentiert im Pfälzischen Pfarrerblatt 11/2008) will am Verständnis des Kreuzestodes Jesu als Sühnopfer unter allen Umständen festhalten.
Die theologische Bearbeitung des Sachverhalts, dass Jesus Opfer lebenszerstörerischer Gewalt geworden ist und dieses Geschehen zugleich als Gottes Heilstat für uns verstanden werden muss, muss diesen Tod im Zusammenhang des theologischen Begriffs der Sünde und ihrer Sühne reflektieren. Ohne die Opfermetaphorik in diesen Zusammenhang einzubeziehen,
verliert der Kreuzestod Jesu seine besondere Bedeutung und wird ununterscheidbar vom
Sterben aller Weisheitslehrer oder der Propheten, die mit ihrem Leben die Wahrheit ihrer Lehre oder ihrer Botschaft bekräftigen.“ (Abschnitt 13)
Niemand muss die Heilsbedeutung des Todes Jesu mit Hilfe der Metaphorik des Sühnopfers auslegen. Aber man kann sie auch in der Moderne als theologische Zentralidee verwenden, weil sie in ganz besonderer Weise dem christlichen Wirklichkeitsverständnis und dem Gottesbild entspricht, das von dem Gott herkommt, der im Leben begegnet und dessen Willen mit Hilfe der biblischen Überlieferung gedeutet werden kann.

Ich bestreite vehement, dass die Deutung des Todes Jesu mit Hilfe der Sühnopfermetaphorik als evangelisch – theologische Zentralidee taugt, einmal aus bibeltheologischen Gründen und dann auch im Hinblick auf den christlich – jüdischen Dialog.

Gibt es für Paulus das Sühnopfer Christi wirklich?

Die Stellungnahme behauptet in Abschnitt 5 und 6, dass exegetisch nicht entschieden werden könne, wie der Tod Jesu heute sachgemäß zu verstehen sei und begibt sich besonders im Hinblick auf die Interpretation des „Opfertodes Jesu“ völlig in die Hände systematisch – theologischer Überlegungen. Dieser Verzicht auf exegetische Erhellung sollte besonders bei uns in der Pfalz wehtun, wo wir als großartige und aufklärerische Bekenntnisfestlegung in der Vereinigungsurkunde von 1821 formuliert finden: „ … erkennt jedoch keinen anderen Glaubensgrund noch eine andere Lehrnorm als allein die Heilige Schrift“.
Die klassische Bibelstelle, die vermeintlich vom Sühneopfer Jesu spricht, ist Röm 3, 25:
„Den (Jesus Christus) hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit.“ (revidierter Luthertext von 1984).
Ist Christus hier das von Gott für den Glauben hingestellte Sühnopfer?
Wir wissen, dass Paulus in seinen Briefen die Fülle Gottes in bildhaften Aussagen über das Heilswirken Jesu zur Sprache bringt. Einige dieser Bilder und Denkmodelle haben literarische Parallelen in frühjüdischen Schriften seiner Zeit z.B. die Übertragung der Vorstellung von der Weisheit Gottes auf Jesus Christus in 1. Kor 1, 24.
Dabei bleibt für Paulus trotz aller Hinwendung zur christologisch betonten Deutung der heiligen Schriften der Väter Christus immer Gott untergeordnet, wird niemals als Gott selbst verstanden. Und von einer prinzipiellen Enteignung Israels ist er – im Gegensatz zu den nachfolgenden Theologengenerationen – weit entfernt: „Sie sind Israeliten, ihrer (sind) die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesschlüsse, das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen“ (Röm 9, 4)
Israels Gotteskindschaft und seine Gottesdienste bleiben gültig. Von Paulus wissen wir, dass er beim letzten Jerusalemaufenthalt (einige Jahre nach dem Römerbrief) Tempelgelübde finanziell unterstützt und priesterliche Opfer- und Reinigungspraktiken akzeptiert (Apg 21,26).
Aber, und dies ist sein lebenslang treibendes Motiv, in die Verheißungen Gottes sind auch Menschenkinder aus der Völkerschar einbezogen. Gottes Gnade endet nicht an den Grenzen des Volkes Israels. Der Völkermissionar Paulus ist geradezu ergriffen von der Idee der freien Gnadenwahl Gottes, die nun auch Nichtjuden gilt: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, des erbarme ich mich (Röm 9, 15).
Genau in diesem missionstheologischen Kontext steht Röm 3,25.
Zwei Stichworte bestimmen leitmotivisch dieses Kapitel: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben (V. 21), im folgenden Kapitel 4 aufgezeigt an den Glaubenszeugen Abraham und David, und dann folgt die provozierende Frage: „Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott?
„Ja freilich, auch der Heiden Gott“ (V. 29).
Möglich ist dies für die Heiden durch das Erlösungsereignis Jesu Christi geworden. Wie ist nun der zentrale, aber nicht leicht zu verstehende V. 25, der dieses Heilsgeschehen bildhaft darzustellen versucht, zu interpretieren?
Wollte Paulus, der die Heidenchristen von der Bürde der Beschneidung und Kaschrutvorschriften entbindet, um sie am Reich Gottes teilhaben zu lassen, ihnen als Heils- und Glaubensweg ausgerechnet das Nadelöhr einer hochkomplizierten priestertheologischen Sühneopferkasuistik anbieten?
Den hat Gott für den Glauben hingestellt in seinem Blut als Sühne“. (Lutherbibel 1984)
Im griechischen Text steht für Sühne hilasterion, dieser von der Septuaginta – das AT in griechischer Übersetzung, die Paulus gebräuchlich ist und aus der er zitiert - eingesetzte Begriff für das hebräische Kapporet. Es ist der kunstvoll gearbeitete, von zwei Cherubim mit ausgebreiteten Flügeln bedeckte vergoldete Deckel der Bundeslade, dem Kasten, in dem sich die beiden Dekalogstafeln befinden. „Und du sollst einen Gnadenthron machen von feinem Golde … und du sollst den Gnadenthron (kapporet) oben auf die Lade tun und in die Lade das Gesetz legen, das ich dir geben werde. (Ex 25, 17 + 21, Lutherbibel 1984). Die Bundeslade mit ihrem goldenen Deckel galt in der priesterlichen Theologie als Ort der Gegenwart bzw. Einwohnung Gottes (Schekkina) und der Gottesbegegnung: „Dort will ich dir begegnen, und vom Gnadenthron aus, der auf der Lade mit dem Gesetz ist, zwischen den beiden Cherubim will ich mit dir alles reden, was ich dir gebieten will für die Kinder Israels“. (Ex 25, 22, Lutherbibel 1984). Das Stiftszelt heißt daher ja auch wörtlich Begegnungszelt (Ohel Mo`ed). Die Vorstellung, dass sich Gott den Menschen zuneigt, ist mit der Schekkina – Theologie im Frühjudentum zur Zeit des Paulus und vor allem nach dem Jahr 70 hochaktuell. Kein anderer Begriff kommt der christlichen Vorstellung von der Inkarnation Gottes so nahe. Paulus konstruiert mit seinem Bild des Hilasterion – Christus eine Schnittmenge von hellenistisch – jüdischer und urchristlicher Glaubenssymbolik, die im gesamten NT einmalig ist, deren Fokus aber eben nicht auf dem Sühnopfergedanken liegt.

Christus als göttlicher Begegnungsort mit der Menschheit

Die aktuelle und millionenfach gebrauchte Lutherübersetzung von 1984 nennt ein und denselben Gegenstand im Allerheiligsten der Stiftshütte bzw. des Tempels Gnadenthron und nur an der entscheidenden Stelle Röm 3,25 Sühne. Diese offensichtliche von dogmatischen Interessen geleitete übersetzerische Fehlleistung lenkt absichtlich den Leser in die gewollte Leserichtung Opfertheologie (Im Luthertest von 1964 heißt er in Röm 3,25 Sühnopfer). Diese Irreführung entlarvt sich selbst in Hebr 9,5: Das gleiche Kultobjekt Hilasterion wird dort Gnadenthron genannt (Im Luthertext 1956 Stätte der Versöhnung)
Übrigens: Die Lutherbibeln von 1534 bis 1912 nennen diesen heiligen Deckel konsequent und durchgängig Gnadenstuhl (nachgebildet wohl von θρόνος της χάριτος in Hebr 4,16). Sie lassen noch ahnen von dem ursprünglichen Ort des Begegnungs- und Gnadengeschehens, das durch Gott (!) von dieser Stelle ausgeht. In dem hebräischen Wort Kapporet steckt nämlich das Verb kpr, das zudecken, (die Schuld) bedecken meint.
In Lev 4 und vor allem in Lev 16 (das sogenannte Jom Kippur Kapitel) wird nun im Detail beschrieben, wie die durch unbeabsichtigte Fehlhandlungen kultisch unrein gewordenen Objekte und Personen wieder kultfähig gemacht werden. Der hebräische Terminus für diese „Entsühnung“ von Altar, Vorhang und „Gnadenstuhl“ durch das Blut geschächteter Opfertiere heißt chattat. Das Chattat – Ritual ist eine Zurüstung für die Gottesbegegnung: „ … denn ich erscheine in der Wolke über dem Gnadenthron“ (Lev 16,2, Luther 1984). Es tilgt keineswegs schwere Schuld oder mutwilliges Verbrechen.
Konkret: der „Gnadenstuhl“ musste alljährlich durch zartes Besprengen (Applikation) mit den Fingern des Hohenpriesters mit ein wenig Blut zweier geopferter Tiere gereinigt, wörtlich „versöhnt“ werden. Die genauen Bedeutungsinhalte dieser höchst komplexen Sühnerituale sind immer noch Gegenstand moderner exegetischer Forschung. Sühne durch Blutapplikationsriten bezeichnet nach neuesten Erkenntnissen die Wirkung von Opferritualen
auf gegenständliche und personale Objekte, die jedoch nicht durch den Tod des Opfertieres, sondern durch das im Blut innewohnende Leben bewirkt werden.
Nun die zweite Komponente des Paulusbildes: Gott hat Christus für den Glauben als gereinigte, entsühnte Begegnungsstätte (nicht Sühne oder Sühnestätte!) hingestellt. So ist auch ein Zugang für Nichtjuden – und dieser gedankliche Kontext muss immer mitbedacht bleiben – zu Gottes Gerechtigkeit und Gegenwart ermöglicht. Christus ist – in der Bildsprache des Paulus bleibend – weder Opfertier noch Sündenbock, sondern Gnadenstuhl im Begegnungszelt. Interessant ist, dass Paulus mit dieser zweifellos gewagten Bildsprache das Gesetz, die Weisungen Gottes mit Christus in Verbindung bringt. Jesus Christus, der Heiden gereinigter Gnadenstuhl ist traditionell auch die Bedeckung des Kastens mit den Gebotstafeln. Dieser Metaphorik konsequent folgend endet der Abschnitt auch mit den Worten: „Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei fern! Sondern wir richten das Gesetz auf“ (Röm 3, 31).
Die Reinigung des Allerheiligsten und seines Inventars ist Voraussetzung dafür, dass Gott erscheinen kann „in der Wolke über dem Gnadenthron“, ohne – und das ist von eminenter Bedeutung für das Verständnis dieses Jom Kippur – Kapitels und wird zweimal hervorgehoben – dass ein Menschenleben zuschaden kommt: „damit (Aaron) nicht sterbe“ (Lev 16,2). Und speziell der Gnadenthron muss entsühnt, gereinigt werden, „damit er (Aaron) nicht sterbe“ (Lev 16, 13).
Die Perikope Lev 16 heißt übrigens in der jüdischen Überlieferung bis zum heutigen Tag Achare mot (nachdem sie gestorben waren). Dies bezieht sich auf V 1, in dem an zwei Söhne Aaron erinnert wird, die durch rituelle Unvorsichtigkeit zu Tode kamen. Alle in Kapitel 16 geschilderten Vorsichtsmaßnahmen dienen dazu, Menschenleben zu retten. Eine geradezu blasphemische Vorstellung wäre es, dies mit einem Menschenopfer in Verbindung zu bringen. Die gesamte Ethik der Thora und der Propheten lehnen Menschenopfer in einer Radikalität ab, die in der antiken Welt einmalig ist. Schlüsseltext dafür ist bekanntlich die Erzählung von der „Bindung Isaaks“ (Gen 22), die fatalerweise in der christlichen Tradition die Opferung Isaaks genannt wurde.

Das Sühnopfer Christi ist keine frühchristliche Zentralidee

Es ist hiermit mehr als zu bezweifeln, dass der Jude Paulus, der im anschließenden Kapitel Röm 4 ausführlich auf die Glaubensstärke Abrahams und seine wunderhafte Vaterschaft zu sprechen kommt und ihn „unser aller Vater nennt“ (Röm 4, 16), sich das Heilsangebot für die Heidenwelt in einem wie immer gearteten menschlichen Sühneopfer vorstellt, und sei es nur metaphorisch. Das von ihm verwendete Bild „Christus als der von Gott hingestellte Gnadenthron“ schließt dies aus.
Man muss sich also nicht von einer spätantiken paulinischen Sühnopfer Christi Vorstellung verabschieden. Sie war nie vorhanden. Auch die von Paulus zitierten wohl sehr ursprünglichen „Abendsmahlsworte“ in 1. Kor 11, 23 -25 weisen keine Bezüge zu einem Sühne- oder Opfergedanken auf.
Wenn Paulus in seinen Briefen den Begriff Opfer verwendet, ist er fast ausschließlich in übertragener, spiritueller Bedeutung gemeint, z.B. in Röm 15, 16, wo sich Paulus im priesterlichen Sinne für das Evangelium einsetzt, um Gott die Heiden als ein angenehmes Opfer (wörtlich Geschenk) zu präsentieren. Und in Phil 4, 18 nennt er das Päckchen, das ihm seine Lieblingsgemeinde nach Ephesus ins Gefängnis schickt, ein Gott gefälliges, angenehmes Opfer, „einen lieblichen (Opfer-)geruch. Mitzwa, eine Gott wohlgefällige gute Tat ersetzt Opfer, haben kurze Zeit später die Rabbinen nach der Zerstörung des Tempels gelehrt. Und im paulinischen Geist lesen wir im Eph 5,2: „ … und wandelt in der Liebe, gleichwie Christus euch hat geliebt und sich selbst dargegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch“. Gerade diese fein ironisierende Formulierung und sprachlich spielerische Reminiszenz priesterlicher Terminologie bei Paulus verbietet, Jesu Lebenshingabe bis zum bitteren Ende als Sühnetod zu verstehen und entzieht m.E. jeder christlichen noch so tiefschürfenden Sühnopfertheologie den Boden.
Die frühchristliche Katakombenmalerei der ersten vier Jahrhunderte ist geprägt von einer erstaunlichen Lebensbejahung und Diesseitsfreude, obwohl sie mit Märtyrergrabstätten in engster räumlicher Beziehung steht. Ganz selten gibt es eine Kreuzdarstellung, der Sühnetod findet ikonographisch nirgendwo Ausdruck.
Ein einzigartiges frühes Bildbeispiel zu Röm 3,25 ist das Mosaik in der Apsiskuppel der frühromanischen Kirche Germigny-des-Prés, geschaffen um 806 in karolinischem Geist. Auf goldenem Grund stellt es die Bundeslade dar, auf der zwei Cherubim auf den goldenen Sühnedeckel, den Gandenstuhl schauen. Darüber schweben zwei Engel, zwischen denen die fürsorglich Hand Gottes aus dem Himmel ragt.
Alle großen Bekenntnisse der frühen Christenheit gehen nicht auf das Sühnopfer ein. Weder unser Apostolisches Glaubensbekenntnis noch das von den orthodoxen Griechen und Ostkirchen praktizierte Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel aus dem Jahr 391 formuliert irgendeine Sühnetodvorstellung. „Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden“ heißt es dort. In der Geschichte der großen Konzilien bis zum 5. Jahrhundert taucht bei allen auch heftigsten Streitereien und Verwerfungen über die richtige Gotteslehre und die Vater – Sohn – Geistbeziehung eine Opfertheologie nicht in den Blickpunkt. Thematisch spielt bei soteriologischen Diskussionen eine wie auch geartete Sühnopfertheologie keine große Rolle. Sie ist offensichtlich zum Verständnis des rechten Glaubens nicht relevant.

Das Ende aller Opferideen im Judentum

Hätte Paulus zwanzig Jahre später nach der Zerstörung des Tempels und dem Ende der der rituellen Opferpraxis noch zu seinem Bild Christus als unser Hilasterion gestanden, es in einen Text für Heidenchristen eingebaut?
Darüber lässt sich nur spekulieren, ich würde sogar vermuten, dass er dies nicht getan hätte, denn wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass das mit dem Christentum fast zeitgleich entstehende pharisäisch - rabbinische Judentum Versöhnung auch ohne Tierschlachtung und Sühneopfer erfährt, eine geistig – religiöse Revolution ohne gleichen. Es gibt jüdische Glaubensidentität ohne rituelle Opferpraxis schon zur Zeit des Paulus. Lange vor dem Jahr 70 wird in der hellenistischen Judendiaspora – der 4/5 der damaligen Judenheit angehört – der Jerusalemer Priesterkult relativiert, der Synagogengottesdienst und seine Feste ohne Blutvergießen gefeiert. Schon beim berühmten Philo, dem Zeitgenossen des Paulus, finden sich Hinweise auf das Jom Kippur – Versöhnungsfest in der bedeutenden Judengemeinde von Alexandria. Die Realisierung dieses historischen Faktums fehlt mir bei den noch so gescheit schreibenden systematischen Theologen, die sozusagen die Hauptpointe der Christus  -Sühnetod Vorstellung oder Metapher darin erblicken, dass Jesus das letzte und Ende aller blutigen Opfer gewesen sei. „Mittels der Opferkategorie selbst (wird) ausgedrückt und gezeigt…, dass das Opfer als Vollzugsweise und als Denkform des Heils überholt ist“ (Ingolf U. Dalferth im Abschnitt 16).
Zum größten Anstoß für die pagane Umwelt des Neuen Testaments wird neben dem Monotheismus der sich bald nach dem Tod Jesu einstellende prinzipielle Verzicht des Christentums auf kultische Opferpraxis.“(Abschnitt 7).
Judentum in dieser Sicht wird hier leider noch immer unter der Folie Altes Testament wahrgenommen. Durch das Neue Testament und die frühen Christen sei, so der Tenor der Stellungnahme aus Hessen, die geistig – religiöse Wende vollzogen, alle anderen, damit auch „die Juden“, blieben pagan und bedauernswerte Tieropferanhänger. Dieses theologische Klischee setzt mit dem– nach dem Jahr 70 geschriebenen! – Hebräerbrief ein, der mit seiner christologischen Überhöhung die alttestamentlich Überlieferung abwertet und den Trennungsweg von Juden und Christen einleitet. Und es tobt sich in den antijüdischen Zerrbildern der Ecclesia – Synagoga Bildprogramme im Hochmittelalter bis zur Lutherzeit aus. Den Händen der Synagogenfigur am Südportal des Wormser Domes entgleitet ein Opfertier. Dass die Stellungnahme und auch der Dogmatikprofessor Ingolf Dalferth in ihrer Sühneopferargumentation ohne Zögern Röm 3,25 und Opfertheologie des Hebräerbriefes auf eine Argumentationslinie stellen, ist mehr als anfechtbar und zeigt m.E. mangelndes historisch - kritisches Bewusstsein. Der Hebräer-Brief identifiziert Jesus als den hohepriesterlichen Opferer und das Opfer, bestimmt Christus als das unüberbietbare, vollkommene Opfer und folgert daraus – ein für alle Mal – das Ende aller Opfer. Zwischen Paulus Ringen um die Einheit mit dem Volk Israel und der Überbietungstheologie des Hebräerbriefes liegen Welten.
Vom hochbetagten Rabban Jochanan ben Zakkai wird erzählt, dass er mit seinen Schülern die Ruinen des Tempels besucht habe. Einer von ihnen beklagte den Abbruch der Riten, die Sühne für die Sünden schufen. Der alte Gelehrte habe geantwortet: „Traure nicht, wir haben Sühnemittel, die dem Opfer gleichwertig sind: die guten Taten. Denn es heißt: „Ich liebe Barmherzigkeit, nicht das Opfer“ (Hosea 6,6). Das Gebet hat Vorrang vor dem Opfer, das Gebet als Ausdruck des Verlangens, sich Gott zu nähern. Dieses große religiöse Wagnis nimmt hier im Frühjudentum seinen Anfang mit der Einsicht, dass an die Stelle des von Gott erwählten Begegnungsortes irgendein anderer Ort treten dürfe, an dem Heiligkeit im Studium und Gebet erfahren werden könne.

Der Versöhnungstag

In der Liturgie des großen und ernsten Versöhnungsfestes, dem höchsten Feiertag im Judentum – sein biblischer Bezug ist der Nachtrag in Lev 16, 29 – 34: „ Auch soll euch dies eine ewige Ordnung sein …“ - gibt es keinerlei direkten Hinweis auf Sühne oder Opfer. Aber das Fasten, die Buße, die Bitte um Reinigung der Herzen und das stundenlange Gebet stehen im Zentrum. Nicht die Sehnsucht nach Opfer bestimmt die innere Verfassung, sondern das Verlangen nach Versöhnung und Heiligung.
Vor vielen Jahren habe ich einmal am Rande des Düsseldorfer Kirchentages die Jerusalemer Theologieprofessorin Chana Safrai (sie ist leider im letzten Jahr früh verstorben) gefragt, was sie empfindet, wenn bei der Jom Kippur Liturgie der „blutige“ Text Lev 16 vorgelesen wird. Sinngemäß dies war ihre Antwort: „Ach, wir sind müde vom stundenlangen Beten und Bekennen, die innere Konzentration, der Hunger, wir haben über 20 Stunden streng gefastet, diese Worte aus Urzeiten, wir hören sie aus einer fernen Welt, die nicht mehr unsre ist. Aber die Teschuwa ist uns wichtig. Darauf konzentrieren wir uns“.
Umkehr, Versöhnung und Heiligung, die Gnade Gottes empfangen und den Alltag heiligen, darum ging es Paulus (der „vernünftige Gottesdienst“ in Röm 12,1) und darum geht es am Jom Kippur. Interessant, dass wenige Kapitel nach Lev 16 das Heiligkeitsgesetz (Lev 19) steht mit einem Ethikkatalog, dem auch Paulus zugestimmt hätte. Darauf folgt das Sabbat- und Jobeljahr (Lev 25) mit seinen Schutzbestimmungen für die Natur und sozial Schwachen. Und das komplette Buch Jona wird in diesem Gottesdienst vorgetragen, die Geschichte über die Teschuwa (Buße), das Grundmotto des Versöhnungstages. Jedes Jahr klingt jetzt, am zentralsten jüdischen Feiertag, der einst durch seine exklusive und partikulare Nähe zum
allerheiligsten Kultort geprägt war, unmissverständlich ein menschheitsumspannender Universalismus an: Liebe und Gnade; Gotteserfahrung ist möglich ohne Kult- und Priester.
Und die Profetenlesung an diesem Tag steht in Jes. 57,14 – 58,14 mit seinen großartigen Passagen „Das ist aber ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast …Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ Kerngedanken der prophetischen Botschaft, mit denen sich Jesus so sehr identifizierte und für die (!) er zu leiden bereit war.

Christliche Sühnetodtheologie und christliche Judenfeindschaft

Die Verteidiger der Sühnetod – Theologie oder – soteriologie unterschätzen das in ihr steckende aggressive Potential. Sie übersehen die immer wieder krankmachende Psychodynamik des Sühne- und Opfertodglaubens und auch seine gefährlichen antijüdischen Übertragungsmechanismen und Phobien. Die den Juden zugeschriebenen geheimen Blutspraktiken und der Vorwurf des Ritualmords und der Hostienschändung sind psychologisch gesehen klassische christliche Projektionen, historisch betrachtet der Nährboden einer mörderischen Judenfeindschaft gewesen. Die Karfreitagswoche war gerade im Russland des 19. Jahrhunderts Zeit antisemitischer Pogrome in regelmäßiger Wiederkehr. Die Verteidigung des Sühnekreuzes Jesu in der Kreuzfahrerzeit bringt im 12. und 13. Jahrhundert in die blühenden jüdischen Stadtgemeinden am Rhein Verfolgung und Tod. Die absolute Hochstilisierung des Messopfers im Vierten Laterankonzil 1215 geht einher mit den ersten reichsweiten und folgenschweren antijüdischen Diskriminierungsgesetzen. Unter der entsetzlichen Erschütterung durch die Pest im Jahr 1248 haben wenige Jahre danach die sich gerade wieder regenerierten Rheinlandgemeinden die Hauptschuld zu erleiden. Die großartige Straßburger Judenheit wird gänzlich ausgerottet. Die geschichtliche Parallelität von ikonographischer Präsenz aufgeladener Kruzifix- und Hostienverehrung und Judenverfolgung ist erwiesen. Gnadenstuhlbilder, auf denen der leidende, von Schmerz gezeichnete Gottvater seinen geopferten Sohn in Pietàmanier in Händen hält, sind eine ikonographische Erfindung des 11. Jahrhunderts. Sie standen in unmittelbarem Kontext zum Messopfer, dienten als Einladung zum Empfang des Eucharistiesakraments. Dieser Bildtypus feiert seine künstlerischen Höhepunkte nicht zufällig zwischen dem 12. und 15 Jahrhundert, in jener Epoche, die als beschämender „Höhepunkt“ christlicher Judenfeindschaft in die Geschichte eingegangen ist.
Christliche Bibelexegese und Bildsprache, gerade wenn es um das Blut und die Erlösungstat Christi ging, ist über Jahrhunderte auch zu einem mörderischen antijüdischen Instrument geworden. Die Blutspur, die das Christentum zu Verteidigung des Sühnekreuzes in der Geschichte hinter sich ließ, bleibt bis heute erschütternd.
Das berühmte und oft feierlich vertonte Kol Nidre („Alle meine Gelübde bzw. Eide“) am Vorabend des Versöhnungsfestes entstand übrigens im mittelalterlichen Spanien unter zwangsgetauften Juden, die geloben mussten, ihrem Glauben abzuschwören (diese Zwangstaufen wurden unter dem Kreuz Christi vollzogen!) und die deswegen Gott um Verzeihung baten. Eine hochinteressante liturgische Verarbeitung und Sublimierung der eigenen Verfolgungsgeschichte.

Gott sei Dank konnte ich in jahrelangem Dialog mit jüdischen Rabbinern und Lehrern jüdischer Schriftauslegung und dem vielfältigen Umgang mit jüdischer Textüberlieferung begegnen. Dieses lebendige Lernen vom jüdischen Partner und die Begegnung mit jüdischer Festkultur und Spiritualität haben mich bereichert. Die Vielfalt der Schriftsinne, die oft anders ausgerichtet sind als in der christlichen Tradition, die verschiedenen Dechiffrierungsmethoden, mit denen biblische Autoren gearbeitet haben und auf die besonders Martin Buber hinwies, die Rolle des Midrasch gegenüber streng halachischer Literatur, der unendlich breite Strom, der Kommentare, der in zweitausendjähriger Geschichte zu uns fließt – demgegenüber erscheint mir das relativ positivistische Textverständnis und der Umgang mit Bibeltexten, wie er auch in der Stellungnahme der Hessen begegnet, blass und wenig sinnstiftend.
Auf theologisch - biblische Begriffe wie Gebot, Verheißung, Sühne, Umkehr und Vergebung, Gnade und Erlösung haben wir Christen keinen Exklusivanspruch. Wir bleiben immer noch um Gottes und der Schrift willen angewiesen auf die Wurzel, die uns trägt (Röm 11,18).
Darum dürfen und sollten wir uns von einer wo auch immer im NT vielleicht festzumachenden Sühnetodsoteriologie guten Gewissens verabschieden.
Der Vorhang im Tempel ist zerrissen (Mt 27,51). Der Zugang zum Himmlischen Vater ist auch uns Christen „opferfrei“ möglich, auch und gerade dann, wenn wir erinnernd und dankend zum Tisch des Herrn gehen.

Eingesehene Literatur:

Die Stellungnahme selbst ist zu finden als pdf –Datei unter
http://www.ekhn.de/inhalt/download/presse/pressemitteilungen/archiv/08/09_suehneopfer.pdf
Nahum Glatzer, Geschichte der talmudischen Zeit, Neukirchen-Vluyn 19812
Hubert Frankemölle, Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen, Stuttgart 2006
Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung (Frankfurt 31931), Nachdruck: Hildesheim 1995
Efrat Gal-Ed, Das Buch der jüdischen Jahresfeste, Frankfurt 2001
W. Gunther Plaut (Hg.), Die Tora in jüdischer Auslegung, Band III (Wajikra), Gütersloh 2001
Rolf Rendtorff, Levitikus (Biblischer Kommentar), München 1985ff
Ernst Jenni/Claus Westermann (Hg.), Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament (2 Bände), München 31978

www.wibilex.de : Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, dort die Artikel Sühne und Lade [mit der wertvollen Abbildung des Germigny-des-Prés Mosaiks]
http://commons.wikimedia.org Hier wird unter dem Stichwort Gnadenstuhl eine großartige Bildergalerie aus der Kunstgeschichte geöffnet

zuerst erschienen im Pfälzischen Pfarrerblatt Nr. 4, April 2009

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