Juden in Wien

Die mittelalterliche Judenstadt

Im 12. Jahrhundert finden wir für Österreich die erste urkundliche Erwähnung eines Juden, nämlich Schlom, der von Herzog Leopold V. als Münzmeister eingesetzt wurde. Der Judenplatz - im heutigen ersten Bezirk, mitten im Stadtzentrum – erinnert an die mittelalterliche Judenstadt. Dort standen seit ca. 1300 nicht nur eine Synagoge, sondern auch ein Krankenhaus, ein koscherer Fleischhof, ein rituelles Bad und ca. 70 Wohnhäuser. Die erste Wiener Judenstadt wurde im Jahr 1420/142 aufgelöst. Seit November 2000 sind im Museum Judenplatz die Reste der mittelalterlichen Synagoge zu betrachten und man kann sich über die Geschichte der Wiener Judenstadt informieren.

Die erste Wiener Judenstadt war noch kein Getto, wie wir das aus späteren Zeiten kennen. Die Juden ließen sich hier freiwillig nieder. Sie schufen die für jüdische Gemeinden notwendigen Einrichtungen und veranlassten so auch neue Zuwanderer, sich hier niederzulassen. Um sich im Mittelalter an einem bestimmten Ort ansiedeln zu dürfen, brauchten die Juden in ganz Europa sogenannte Judenschutzbriefe. 1244 stellte der Babenberger Friedrich der Streitbare die Wiener Juden unter seinen Schutz und erlaubte ihnen, eine Synagoge zu bauen, wofür sie allerdings die sogenannte Judensteuer zu entrichten hatten. Diese Steuer wurde nach dem Einkommen und der Größe des Hausstandes berechnet, die Landesherrn hatten natürlich vor allem Interesse daran, die Ansiedlung wohlhabender Juden zu fördern.

Auf beruflicher Ebene gab es für Juden in ganz Europa zahlreiche Einschränkungen, sodass als Betätigungsfelder der Handel mit gebrauchten Waren und das Geldgeschäft übrig blieben.

Das Getto im Unteren Werd

Nach der Zerstörung der Wiener Judenstadt im Jahre 1420/21 gab es etwa 150 Jahre lang kein jüdisches Leben in Wien. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts lebten einige sogenannte "hofbefreite" Juden in der Stadt. Mit der Ausweitung ihrer Aufenthaltsgenehmigungen auf Familienangehörige wuchs innerhalb von 50 Jahren eine jüdische Gemeinschaft heran, der Kaiser Ferdinand II. im Jahr 1624 auf Drängen der katholischen Kirche die Übersiedlung in das Getto "Im unteren Werd" befahl. Man duldete den Aufenthalt von Juden in Wien, da Kriege und die aufwendige Hofhaltung hohe finanzielle Anforderungen mit sich brachten.

Der zweite Bezirk trägt den Namen Leopoldstadt. Dieser Name erinnert an Kaiser Leopold I. , der im Jahr 1670 das Getto "Im unteren Werd" auflöste und die dort lebenden Juden zwang, binnen weniger Wochen Wien zu verlassen.

Das Getto im Unteren Werd lag außerhalb der Stadtmauern Wiens auf einer Art Insel, die von der damals noch unregulierten Donau umflossen wurde. Die Lebensbedingungen in diesem Gebiet waren alles andere als ideal: Stets bestand Hochwassergefahr, die Kindersterblichkeitsrate war hoch und die Menschen lebten beengt. Das Getto war von Mauern umgeben, nach 18 Uhr durfte dieses Gebiet nicht mehr verlassen werden. Trotz dieser Einschränkungen wuchs die Bevölkerung im Getto rasch an. Anfangs gab es innerhalb der Gettogrenzen nur 15 Häuser, später, kurz vor der Auflösung des Gettos, standen auf derselben Fläche 132 Häuser.

Das Getto brachte auch einige wenige Vorteile mit sich: Juden genossen dort einen gewissen Schutz gegenüber der Außenwelt und konnten über religiöse und gesetzliche Belange selbst bestimmen.

Doch 1670, nicht einmal 50 Jahre nach der Errichtung des Gettos, befahl Kaiser Leopold I. den Juden - aus religiösen Gründen und gegen die Empfehlung der Hofkammer -, das Getto innerhalb weniger Wochen wieder zu räumen und Wien zu verlassen. Die Synagoge wurde abgerissen und auf ihren Grundfesten baute man eine katholische Kirche. Zu Ehren von Kaiser Leopold wurde die Kirche dem Heiligen Leopold geweiht.

Trotz der tragischen Ereignisse des Jahres 1670 haben sich in späteren Jahren Juden immer wieder in diesem Bezirk angesiedelt. Um 1900 war die Leopoldstadt der Bezirk mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil in Wien. Heute, mehr als 60 Jahre nach der Schoa, finden sich die meisten Zeugnisse jüdischen Lebens in diesem Stadtteil.

Hofbefreite Juden

Die Institution "hofbefreite Juden" ist seit 1582 nachweisbar. Dieser Status brachte zwar eine Reihe von Privilegien mit sich wie zum Beispiel die Befreiung von Abgaben an Stadt und Land, von Maut- und Zollabgaben und vom Tragen des diskriminierenden Judenzeichens. Als Gegenleistung für ein solches Privileg mussten jedoch bedeutende finanzielle Leistungen erbracht werden, die direkt dem Kaiser oder der Hofkammer zuflossen.

Die Zeit der Hoffaktoren

Zur Zeit des Gettos im 17. Jahrhundert hatten Juden kaum Möglichkeiten zum wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg. Einen Übergang zur langsamen Integration in die bürgerliche Gesellschaft stellt die Zeit der sogenannten "Hoffaktoren" dar. Um 1680 erhielten der vermutlich aus Heidelberg stammende Samuel Oppenheimer und wenig später auch sein Landsmann Samson Wertheimer das Privileg, sich als sogenannte "Hoffaktoren" in Wien aufhalten zu dürfen. Für alle anderen Juden galt zu jener Zeit ein generelles Aufenthaltsverbot.

Die Hoffaktoren standen direkt im Dienste des Kaisers und waren von seiner Gunst abhängig. Sie waren vor allem als Heereslieferanten tätig. Die erzwungene Zerstreuung der Juden in ganz Europa ermöglichte es ihnen, weitverzweigte Handelsbeziehungen zu knüpfen.

Um 1700 lebten 10 privilegierte Familien in Wien, deren Privileg, also das Recht, sich in Wien aufhalten zu dürfen, zeitlich begrenzt war. So ersuchten im Jahre 1727 die beiden Hoffaktoren Marcus und Meier Hirschl um die Verlängerung ihrer Aufenthaltsprivilegien an. Neben der offiziellen Gebühr verlangte das Herrscherhaus noch einmal ein beträchtliches Darlehen, das für den Bau der Karlskirche und der Hofbibliothek verwendet wurde. Nicht ganz freiwillig prägten sie mit ihren Geldern das barocke Stadtbild Wiens mit.

Toleranzpatent

Im Zuge des aufgeklärten Absolutismus änderte sich unter Kaiser Joseph II. auch die Situation der Juden. Im Gegensatz zu der restriktiven Judenpolitik seiner Mutter Maria Theresia legte er mit dem Toleranzpatent 1782 den Grundstein für die Aufnahme der Juden in die bürgerliche Gesellschaft in Österreich. Auf weltlicher Ebene wurden durch das Toleranzpatent für die Juden de iure zahlreiche Vorteile geschaffen, für streng religiöse Juden brachte es hingegen in erster Linie Einschränkungen.

Das Toleranzpatent von 1782 sollte Wien zu einem Modell des Fortschrittes machen. Seine Ziele wollte Joseph II. vor allem mit einer breit angelegten Bildungsoffensive, der Abschaffung diskriminierender Gesetze und der Förderung des Handwerks unter den Juden erreichen. Um den Zuzug der Juden nach Wien zu kontrollieren, wurde allerdings zwischen “Tolerierten” und “Nicht-Tolerierten” unterschieden. Im Jahr 1803 gab es in Wien nicht mehr als 140 tolerierte Familien, die für diese Toleranz nach wie vor Steuern zu entrichten hatten.

Für jene Juden des Kaiserreichs, die weiterhin nach den religiösen Traditionen leben wollten, brachte das Toleranzpatent trotz der verkündeten Religionsfreiheit nur Einschränkungen. Die autonomen Strukturen jüdischer Gemeinden sollten aufgehoben werden, zur besseren Kontrolle durften Juden ihre Geschäftsbücher nicht mehr in hebräischer oder jiddischer Sprache führen. Zugunsten einer allgemeinen Schulbildung sollten sie den religiösen Unterricht aufgeben. Weiterhin durften Juden keine eigene Gemeinde gründen, keine Synagogen errichten und keine öffentlichen Gottesdienste abhalten. Das Toleranzpatent wurde nicht überall im Kaiserreich positiv aufgenommen. In Galizien z. B. führte die Abschaffung traditioneller jüdischer Berufe und die Einführung zusätzlicher Steuern zu einer weiteren Verarmung der jüdischen Bevölkerung. Die Absicht, autonome Strukturen jüdischer Gemeinden zu zerstören, rief einen Sturm der Empörung hervor. Dass Juden aus ihrer Isolation gerissen und zu “nützlichen Gliedern” der Gesellschaft gemacht werden sollten, wurde als eine von außen erzwungene Aufklärung empfunden, die sie ihrer nationalen Kriterien beraubte.

Der Wiener Stadttempel

Seit der Vertreibung aus dem Getto 1670 gab es in Wien kein offizielles jüdisches Gotteshaus mehr. Das langersehnte Recht, endlich eine Synagoge errichten zu dürfen, bekamen die Wiener Juden nach langen umständlichen Verhandlungen mit dem Kaiser und der Landesregierung erst im Jahr 1824. Doch noch immer gab es eine Einschränkung: Die Synagoge, die 1826 eingeweiht wurde, musste so gebaut werden, dass sie von außen nicht als solche erkennbar war. Der Biedermeierarchitekt Josef Kornhäusl hat daher die Synagoge hinter der Fassade eines bürgerlichen Stadthauses versteckt. Der aus Kopenhagen stammende Isak Noah Mannheimer wurde 1824 offiziell als Religionslehrer, inoffiziell als Prediger nach Wien berufen. Nach der Erlassung des Staatsgrundgesetzes 1867, das vor allem die völlige Gleichstellung aller Untertanen ohne konfessionelle Unterschiede festschrieb, wanderten viele Juden aus den östlichen Teilen der Monarchie nach Wien ein. In allen Wiener Bezirken wurden im 19. und beginnenden 20.Jahrhundert große repräsentative Synagogen und zahlreiche kleinere Bethäuser errichtet. Als Bauten für die Ewigkeit gedacht spiegelten sie mit ihren unterschiedlichen architektonischen Stilrichtungen auch die Identitätsfindungsprozesse der Wiener Juden dieser Zeit wider. Mit Ausnahme des Stadttempels in der Seitenstettengasse wurden in der Nacht vom 9./10. November 1938 (Novemberpogrom) sämtliche Wiener Synagogen und Bethäuser zerstört.

Assimilation

Unter Assimilation versteht man die Anpassung von Juden an die umgebende Gesellschaft, die im ausgehenden 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. In West- und Mitteleuropa gaben viele Juden Sprache, Sitten und Gebräuche zugunsten einer neuen Lebensart auf - die Distanz gegenüber der eigenen Religion und Tradition vergrößerte sich. Einige konvertierten zum Christentum.

Als ein Phänomen der assimilierten jüdischen Kreise entwickelten sich Ende des 18. Jahrhunderts die berühmten Salons. Ursprünglich in Berlin entstanden wurde diese Tradition von zwei Berliner Schwestern, Fanny von Arnstein und Cäcilie von Eskeles, auch in Wien eingeführt. Diese Salons waren Zentren des Wiener Geisteslebens, dort traf sich alles, was Rang und Namen hatte.

Fanny von Arnstein war die Gattin des jüdischen Bankiers Nathan von Arnstein. Ihr Haus am Hohen Markt in der Wiener Innenstadt war besonders zur Zeit des Wiener Kongresses beliebter Treffpunkt von Diplomaten, Künstlern und Menschen der Gesellschaft, die sich dort zu Lesungen und Konzerten oder zu großen Bällen mit 400 Gästen eingefunden haben. Sie war es auch, die in Wien den Brauch des Weihnachtsbaumes einführte, den sie in ihrer Jugend in Berlin kennen gelernt hatte. Trotz ihrer assimilierten Haltung und ihres Bedürfnisses, in der Gesellschaft Anerkennung zu finden, ist sie ihrer Religion treu geblieben und im Gegensatz zu zahlreichen Zeitgenossen nicht zum Christentum übergetreten.

Zionismus

Theodor Herzl stammte aus einer assimilierten Familie. Er wurde 1860 in Budapest geboren, übersiedelte jedoch bald mit seiner Familie nach Wien, um hier Rechtswissenschaften zu studieren. Nach dem Studium arbeitete er als Schriftsteller und Feuilletonist der Neuen Freien Presse in Wien. Zu einem wichtigen Wendepunkt in seinem Leben wurde die Dreyfus-Affäre, die er als Auslandskorrespondent dieser Zeitung in Paris miterlebte.

Nach der Dreyfuss-Affäre war Herzl endgültig davon überzeugt, dass Juden auch dann nicht in Frieden leben könnten, wenn sie sich vollständig assimilierten. Die einzige Antwort auf die sogenannte "Judenfrage" sah er von nun an in der Gründung eines jüdischen Staates. 1896 veröffentlichte er seine Überlegungen unter dem Titel "Der Judenstaat". Bereits ein Jahr später fand in Basel der erste Zionistenkongress statt, auf dem Strategien zur Gründung dieses Staates ausgearbeitet wurden. Herzl fand vor allem im Osten Europas eine große Anhängerschaft, während viele assimilierte Juden Westeuropas seinen Ideen sehr skeptisch gegenüberstanden. Er starb 1904, 44 Jahre vor der Staatsgründung Israels. Herzl wird bis heute als einer der Gründerväter Israels verehrt.

Antisemitismus

Fast 60 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes, das sechs Millionen Juden ermordete, ist der Antisemitismus im Bewusstsein der Menschen keineswegs überwunden. Vor allem im privaten Bereich, aber auch in den Massenmedien treten antisemitische Vorurteile immer wieder auf. Diese stereotypen “Judenbilder”, wie Juden angeblich sind oder zu sein haben, entstehen nicht aufgrund realer Erfahrungen mit Juden, sondern gehen auf jahrhundertelang tradierte, sozial erlernte Fremd- oder Feindbilder zurück. Nahezu jede politische oder soziale Krise wurde mit antisemitischen Stereotypen beantwortet. Man machte die Juden je nach politischer Ausrichtung für Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus verantwortlich, zeichnete sie als “Umstürzler”, die angeblich für Chaos und Unruhe sorgten.

Die theologischen Beschuldigungen des Mittelalters zogen sehr rasch auch soziale und ökonomische Folgen für die Juden nach sich. Aufgrund judenfeindlicher Gesetze durften Juden die meisten Berufe nicht ausüben, mussten sich also auf Handel und Geldgeschäft beschränken. Diese Situation bildete die Grundlage für die Entstehung der Vorurteile vom angeblich geldgierigen, ausbeuterischen bzw. heimatlosen Juden.

Durch die Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen im 19. Jahrhundert veränderten sich auch die Vorurteile. Man behauptete nun, die Juden seien für die Verelendung der kleinbürgerlichen, mittelständischen und bäuerlichen Schichten verantwortlich. Man analysierte nicht die gesellschaftlichen Veränderungen, sondern beschuldigte “die Juden” als unredliche Kapitalisten und Börsenspekulanten. Der ökonomisch motivierte Antisemitismus überlagerte - bedingt durch die Säkularisierung der Gesellschaft - immer stärker die religiös tradierte Judenfeindschaft in der Gesellschaft.

Der im 19. Jahrhundert sich verstärkt als Wissenschaft gerierende Rassismus verlieh dem Antisemitismus eine neue Qualität. Die angeblich negativen Eigenschaften, die den Juden Jahrhunderte lang unterstellt worden waren, mutierten zu unverrückbaren physischen und psychischen Eigenschaften einer angeblichen “Rasse”. Der Rassenbegriff als Erklärungsmuster wurde ein wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie und mündete in der systematisch durchgeführten Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden.

Von der Zedaka zum Sozialstaat

Wohltätigkeit (hebr. Zedaka) ist eine religiöse Pflicht. Armenpflege und Fürsorge spielten daher in jüdischen Gemeinden schon immer eine große Rolle und so entstanden auch in Wien zahlreiche karitative Einrichtungen. Bereits 1698 hatte Samuel Oppenheimer ein Spital in der Seegasse im 9. Wiener Gemeindebezirk gegründet.

Noch lange bevor es ein politisches Programm zur Sozialfürsorge gab, gründeten wohlhabende Personen zahlreiche soziale Einrichtungen wie das Taubstummeninstitut, die Wandererfürsorge, Kindergärten, Kinderheime und viele mehr. Mit ihrer offiziellen Anerkennung im Jahr 1852 übernahm die Jüdische Gemeinde als Rechtskörperschaft die Verantwortung für die verschiedenen sozialen und religiösen Unterstützungen und Hilfeleistungen, die sich davor in privaten Händen befunden hatte: Unterstützung von Witwen und Waisen, Fürsorge für Arme und Berufsunfähige, Krankenpflege, Bestattung, Einrichtung von Schulen und Lehrhäusern, Unterhalt für mittellose Schüler und Rabbinatskandidaten und auch die Ausstattung armer Bräute.

1830 begründete der spätere erste Präsident der Kultusgemeinde, Joseph von Wertheimer, gemeinsam mit dem katholischen Geistlichen Lindner den ersten Kindergarten Wiens, fünfzehn Jahre später schuf er eine entsprechende Einrichtung für jüdische Kinder. Die Einsicht, dass Hilfe für Bedürftige nicht nur von Spenden einzelner Wohlhabender geleistet werden könne, sondern die Aufgabe der Allgemeinheit ist, ließ ein Netz von Fürsorgeeinrichtungen entstehen. Jüdische Institutionen und jüdische Persönlichkeiten wie der Wiener Stadtrat Julius Tandler oder der Gründer der sozialdemokratischen Partei Victor Adler beeinflussten die Sozialpolitik der Gemeinde Wien und das Entstehen des heutigen österreichischen Sozialstaats.

Fin de siècle

Zahlreiche jüdische Künstler und Intellektuelle nahmen an der kulturellen Blüte der Stadt zur Zeit des Fin de siècle aktiven Anteil. Es waren Musiker, Dichter, Journalisten, Theaterleute, Philosophen, Kunstkritiker, Wissenschaftler und Künstler, eine Schicht wohlhabender Bildungsbürger, die vor dem Hintergrund des Niedergangs der liberalen Ära politische Ohnmacht in Kreativität umwandelte. Das Streben der jüdischen Jugend in die freien Berufe hatte mehrere Gründe. Durch das Staatsgrundgesetz von 1867 war völlige bürgerliche Gleichberechtigung garantiert. Die Tendenz zur Assimilation war sehr groß und die Zulassung zu allen Studienrichtungen regte den Bildungseifer der jüdischen Jugendlichen noch zusätzlich an. Eine nach dem Börsenkrach 1873 einsetzende antisemitische Welle zeigte allerdings gleich die Grenzen dieser Integration: Zulassung zu staatlichen Stellen und Beförderungen an der Universität blieben die Ausnahme.

1912 schrieb der Schriftsteller Arthur Schnitzler von der Bedeutung, welche der sogenannten Judenfrage zukomme, denn "... es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, dass er Jude war, da die anderen es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger." (Jugend in Wien, 1968, S.328ff). Der Grundsatz der emanzipierten jüdischen Bourgeoisie, das Thema Judentum ebenso wie das Thema Antisemitismus zu meiden, traf zusammen mit dem Bewusstsein, immer und überall als Jude identifiziert und angesprochen zu werden. Das erwies sich für viele als so quälerisch, dass die Unmöglichkeit einer Identifizierung mit der eigenen Herkunft in selbst zerstörerischen Hass umschlug.

Otto Weininger (1880-1903)

Die von Sigmund Freud um die Jahrhundertwende entwickelte Psychoanalyse hat ihn weltberühmt gemacht und darf als eine der großen geistigen Revolutionen des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Im Kreise der Wiener Ärzte waren es beinah ausschließlich Juden, die sich früh seiner Lehre anschlossen, welche die menschliche Seele zum Objekt der Wissenschaft machte. Obwohl Atheist bekannte sich Freud immer zu seiner jüdischen Herkunft, die ihn früh mit einer Außenseiterrolle vertraut machte.

Auf wissenschaftlicher Seite viel weniger bekannt, jedoch wegen seines Umgangs mit den eigenen jüdischen Wurzeln äußerst interessant ist Otto Weininger (1880-1903): Die Annahme, das eigene Außenseitertum selbst verschuldet zu haben, führte einzelne Juden zu Identifikationen mit antijüdischen und antisemitischen Stereotypen und Vorurteilen. Um sich über sein Selbst klar zu werden, entwickelte Weininger im Alter von erst 23 Jahren in dem Buch "Geschlecht und Charakter" seine Philosophie: In jedem Menschen seien weibliche und männliche Elemente zu finden, wobei die weiblichen mit jüdisch und die männlichen mit christlich gleichgesetzt wurden. Die Erfahrung mit der Umwelt hatte Weininger wiederum gelehrt, dass jüdisch gleichbedeutend mit kapitalistisch, unehrlich, triebhaft und dergleichen mehr sei. Christlich repräsentierte alles positiv Gegenüberliegende. Die einzige Möglichkeit zur wahren Menschwerdung bestand für ihn in einer radikalen Überwindung des Weiblichen und damit des Jüdischen. Nach Erscheinen seines Buches beging Weininger Selbstmord.

Der Maler Isidor Kaufmann (1853-1921) stammte aus einer assimilierten Familie und unternahm ab 1894 Reisen in die Welt der Ostjuden. Beliebt waren Kaufmanns Bilder wegen der idealisierten Sicht auf das Leben im Stetl. Bei den assimilierten Juden erweckten diese Darstellungen vage Erinnerungen an die eigene Familienvergangenheit und verlorene Traditionen.

Wienerisches

Was haben das Riesenrad und das kleine Café in Hernals miteinander zu tun? Beide sind typisch wienerisch und beide spielen eine wichtige Rolle im Bezug auf die jüdische Geschichte dieser Stadt.

Gabor Steiner, der um die Jahrhundertwende zahlreiche Vergnügungsattraktionen nach Wien brachte, bewunderte die Riesenräder in Paris und London. Er beschloss, auch im Wiener Prater ein solches Riesenrad errichten zu lassen. 1897 war es dann soweit. Die Wiener waren begeistert und bald erklärten sie das Riesenrad neben dem Stephansdom zum zweiten Wahrzeichen ihrer Stadt. Demjenigen, der ihnen das Riesenrad geschenkt hatte, dankten es die Wiener später jedoch schlecht. 1938 musste der über achtzigjährige Gabor Steiner sein Riesenrad verkaufen und vor den Nazis aus Österreich flüchten. Verarmt und verbittert starb er in der Emigration.

Erfinder

Ein Kapitel, das in der öffentlichen Wahrnehmung kaum einen Platz findet, sind jüdische Erfinder, die teils vergessen, teils weltberühmt sind. So wird den meisten Autoliebhabern Siegfried Marcus ein Begriff sein. Er stammte aus einer jüdischen Familie aus Mecklenburg und kam Mitte des vorigen Jahrhunderts nach Wien. Seine bedeutendste Erfindung ist das erste Automobil mit Benzinantrieb.

Kaum bekannt hingegen ist der aus Böhmen stammende Adolf Pollak von Rudin. Er lebte von 1817 bis 1897 und ist der Erfinder der Streichholzschachtel mit Reibefläche. Mit seinen Streichholzschachtelfabriken errichtete er ein Handelsimperium mit Zweigstellen in Europa und in den USA. Pollak trat auch als Mäzen und Philantrop in Erscheinung. So rief er unter anderem die Stiftung Rudolfinum ins Leben, in der sich Studenten aller Konfessionen dem Studium der Technik, der Chemie und der Physik widmen konnten.1869 wurde er vom Kaiser mit dem Prädikat "von Rudin" geehrt und in den Ritterstand erhoben.

Auch vergessen ist ein Mann, dessen Erfindung jedes Kind kennt: David Schwarz. Er hatte die Idee, ein Flugobjekt mit steifer Hülle zu bauen. Lange Zeit fand er keinen Finanzier, der bereit war, die Umsetzung seiner Erfindung zu bezahlen. Er starb, kurz bevor das deutsche Militär einen Probeflug startete. Die Witwe von David Schwarz verkaufte die Rechte an den Grafen Zeppelin, der dem Flugobjekt dann auch seinen Namen gab.

Erst vor Kurzem wieder ins Bewusstsein der österreichischen Öffentlichkeit gerückt wurde der Physiker Walter Kohn, der 1923 in Wien geboren und 1938 in die Emigration gezwungen wurde. Mit der Verleihung des Chemie-Nobelpreises erfuhr Kohn 1998 plötzlich wieder größte Aufmerksamkeit vonseiten Österreichs: Zahlreiche Artikel in den Medien und Einladungen zu Vorträgen sind äußere Zeichen eines erwachten Interesses. In Österreich gelangte er 1999 zu späten Ehren: Er erhielt die höchste Forscher-Auszeichnung der Republik Österreich, das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, verliehen.

Schoa

“Am Nachmittag gehe ich gegen halb vier in die Israelitische Kultusgemeinde. Dort bis viertel acht im Zentralkataster, wo ich Judensterne ausschneide bzw. zähle.” Diese Wort schrieb Kurz Mezei am 17. September 1941 in sein Tagebuch, zwei Tage später: “Große Premiere mit den Judensternen. Ich gehe gegen 10h in die Kartenstelle (...). Ich stehe fast die ganze Zeit vor der Kartenstelle, da es mir Freude bereitet, von den Leuten angestarrt zu werden. (...) Der Judenstern stört mich gar nicht, im Gegenteil: Ich trage ihn mit Stolz.” Ab dem 18. September 1941 mussten alle Juden den Stern tragen. Dieses offenkundige Zeichen der Ausgrenzung musste mit Kleidermarken gekauft werden. Ein Stück Stoff, das seinen Träger vogelfrei machte ...

Die Stoffbahnen, aus denen Kurt die Sterne ausschneiden musste, wurden vor einigen Jahren in der IKG wiedergefunden. Als Symbol für die Schoa sind sie in der historischen Ausstellung des Museums zu sehen.

Der Nachlass von Margartehe Mezei kam über die Israelitische Kultusgemeinde in das Jüdische Museum. Als einzige ihrer Familie überlebte Margarethe Mezei die Schoa. Ihr Mann Moritz wurde in Italien inhaftiert und nach Auschwitz deportiert. Die Zwillinge Kurt und Ilse waren wie ihre Mutter Margartehe bei der Kultusgemeinde angestellt. Die Wiener IKG wurde im Gegensatz zu allen anderen Gemeinden in den Bundesländern nicht aufgelöst und bestand bis 1945 unter dem Namen “Ältestenrat"”

Aufgrund ihrer Tätigkeit für die Kultusgemeinde waren die Zwillinge vor der Deportation geschützt und hätten beide den Zweiten Weltkrieg fast überlebt: Ilse kam jedoch am 12. März 1945 bei einem Bombenangriff ums Leben, da sie als Jüdin nicht in den Luftschutzkeller eingelassen wurde. Ihr Bruder Kurt wurde sechs Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs von Nationalsozialisten erschossen.

Insgesamt wurden über 65.000 österreichische Juden in der Vernichtungsmaschinen des NS-Regimes umgebracht, über 120.000 Juden sind aus Österreich geflüchtet.

Lebten vor 1938 ca. 180.000 Juden in Wien, zählt die Kultusgemeinde heute nur mehr knapp 8.000 Mitglieder.

Heute in Wien

“Ohne Juden wäre Wien nicht, was es ist”, mahnte 1933 Hans Tietze, einer der Exponenten der Wiener kunsthistorischen Schule. Er hätte sich damals wohl nicht vorstellen können, dass er wenige Jahre später seine Heimat verlassen musste.

Die außerordentliche Bedeutung und Teilhabe der Juden an Werden und Sein dieser Stadt sind unbestreitbar. Nach 1945, nach der Schoa, schien ein Neuanfang jüdischen Lebens in West- und Mitteleuropa schwer vorstellbar. Vor 1938 hatten in Wien ca. 180.000 Juden gelebt. Heute hat die Israelitische Kultusgemeinde Wien weniger als 10.000 Mitglieder. Dennoch ist die Struktur der heutigen Gemeinde äußerst vielfältig: Ihre Mitglieder unterscheiden sich in der nationalen und kulturellen Abstammung, im Alter, in den sozialen Bedingungen und der religiösen Ausrichtung. Es gibt daher eine Fülle von Institutionen und Serviceleistungen, die deutliches Zeugnis für den Lebenswillen und das Selbstbewusstsein der kleinen Gemeinde ablegen. Viele dieser Institutionen befinden sich heute wieder im zweiten Wiener Gemeindebezirk, auf der sogenannten Mazzesinsel.

Jüdisches Wien im Mittelalter

Im Mittelalter war Wien Heimat einer blühenden jüdischen Gemeinde, die zu den größten und bedeutendsten in Europa zählte. Hier lehrten und wirkten berühmte Rabbiner und machten Wien zu einem Zentrum jüdischen Wissens. All dies fand 1420/21 durch die Vertreibung und Ermordung der Wiener Juden ein abruptes Ende. Die 1995 unter dem Judenplatz ausgegrabenen Überreste der damals zerstörten Synagoge geben ein beredtes Zeugnis vom Gemeindeleben und dessen Vernichtung. In den unterirdischen Museumsräumlichkeiten sind das Fundament der Synagoge und ausgewählte Grabungsfunde zu sehen. Ein computeranimierter Spaziergang vermittelt einen Eindruck von der Judenstadt und der Synagoge im frühen 15. Jahrhundert.

Museum Judenplatz
Am 25. Oktober 2000 wurde das Museum Judenplatz eröffnet und das Mahnmal für die Opfer der Schoa am Judenplatz enthüllt. Damit entstand in Wien ein einzigartiges Ensemble des Mahnens und Erinnerns.

Das Museum Judenplatz wird als Außenstelle des Jüdischen Museums Wien geführt. Es präsentiert die Überreste der 1420/21 zerstörten Synagoge und führt in die mittelalterliche Wiener Judenstadt ein. Ein Raum ist der Schoa-Dokumentation gewidmet. In einer Datenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes können die Namen der 65.000 von den Nationalsozialisten ermordeten österreichischen Juden recherchiert werden. 

Judenplatz – Ort der Erinnerung

Das Mahnmal für die 65.000 ermordeten österreichischen Juden wurde von Rachel Whiteread gestaltet. Es ist ein Stahlbetonkubus, dessen Außenflächen als nach außen gewendete Bibliothekswände durchmodelliert sind. Auf Bodenfriesen rund um das Mahnmal sind die Namen jener Orte festgehalten, an denen österreichische Juden während der NS-Herrschaft ermordet wurden. Das Mahnmal steht in engem Konnex mit dem Informationsbereich zur Schoa, der vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes im Untergeschoss des Museums Judenplatz eingerichtet wurde. Hier sind die Namen und Daten der 65.000 Juden, sowie die Umstände, die zu ihrer Verfolgung und Ermordung geführt haben, abrufbar.

Quelle: Jüdisches Museum Wien, www.jmw.at

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