Israel – ein Zeichen der Treue Gottes? Teil II
von Peter Hirschberg

Ich will im Folgenden den Versuch wagen, heutige geschichtliche Entwicklungen im Licht der Verheißung zu betrachten. Von Lukas inspiriert scheue ich dabei nicht davor zurück, mein Augenmerk besonders auf außergewöhnliche Ereigniskonstellationen zu richten. Ereignisse, die aufgrund ihres ungewöhnlichen Charakters ein Hinweise darauf sein könnten, dass Gott selbst uns hier entgegentritt, anspricht und herausfordert. Ich behaupte damit nicht, dass alles, was außergewöhnlich ist, automatisch auf Gottes Wirken zurückgeht, dennoch glaube ich mit Lukas, dass Gott oft das „Erstaunliche“, „Ungewöhnliche“ oder gar „Wunderhafte“ benutzt, um unsere Aufmerksamkeit zu erwecken. Als Mose den Dornbusch sah, der brannte und doch nicht verbrannte (Ex 3, 1–4), da war dies vielleicht erst einmal nicht mehr als ein kleiner göttlicher Taschenspielertrick, der Mose dazu zwingen sollte, stehen zu bleiben und genau hinzusehen. Doch da wir Menschen oft so sehr von unserem Alltagstrott in Beschlag genommen sind, bedarf es genau solcher „Tricks“. Es bedarf des Sensationellen und Erstaunlichen, damit wir uns – zumindest kurzzeitig – unterbrechen lassen und wieder rezeptionsfähig werden. Ein „Sich-Wundern“ angesichts ungewöhnlicher geschichtlicher Ereignisse ist nicht sofort in eine klare Botschaft zu übersetzen, es hat vorläufig nur eine Funktion: Es zwingt stehen zu bleiben und zu überlegen, ob Gott es vielleicht ist, der diese Ereignisse so wunderbar gefügt hat. Erst der Dialog mit der göttlichen Verheißung, die Interpretation durch das göttliche Wort können dann im weiteren Verlauf zeigen, ob die Ereignisse von Gott her sprechend werden und eine neue, verheißungsvolle Wirklichkeit aus sich heraus setzen.

Ich gebe mich dabei – um es noch einmal in aller Deutlichkeit auszusprechen – nicht der Illusion hin, dass es eindeutige Kriterien für Gottes Wirken in der Geschichte gibt. So wie es keinen naturwissenschaftlichen oder philosophischen Gottesbeweis gibt, so gibt es auch keinen historischen Gottesbeweis. Nur wenn man viele Faktoren miteinander ins Gespräch bringt, kann man mit Zittern und Zagen ein Urteil wagen, und auch dann wird man erst im geschichtlichen Nachhinein – und auch das nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – sagen können, in welchem Maß dieses Urteil dem Willen Gottes entsprach. So wie der Entwurf des Lukas trotz aller abgewogenen theologischen Argumentation zu seiner Zeit nichts anderes als ein mutiges prophetisches Wagnis war, so wird auch heutige prophetische Geschichtstheologie nicht über das Wagen hinauskommen. Die Christusoffenbarung kann uns die Gewissheit schenken, dass sich die Geschichte durch den in ihr gegenwärtigen, sie begleitenden und auf geheimnisvolle Weise auf ein Ziel zuführenden Gott letztlich als ein sinnvoller Prozess erweisen wird, aber als sich noch im geschichtlichen Prozess befindliche Menschen können wir immer nur tastend den roten Faden erahnen. Auch die Dialektik menschlicher Freiheit und göttlicher Geschichtslenkung werden wir in diesem Prozess der Reflexion nie logisch auflösen können, zumal es sich der Gott Israels eben fast schon zur Gewohnheit gemacht hat, Böses in Gutes zu verwandeln, also immer für eine Überraschung gut ist. Vor allem eines sollten wir als gute Schüler des Lukas zu guter Letzt nicht vergessen: Eine prophetisch-geschichtstheologische Deutung muss immer der Gemeinschaft der Glaubenden zur prophetischen Prüfung vorgelegt werden. Damit ist kein basisdemokratischer und letztlich autochthoner Prozess gemeint, sehr wohl aber ein Prozess, wo jeder und jede – unabhängig von gesellschaftlichem und kirchlichem Status – als Medium des göttlichen Geistes ernst genommen wird. Am Ende eines solchen Prozesses steht nicht die Abstimmung, sondern die Übereinstimmung.369 Nur wenn glaubende Menschen in einem Höchstmaß an Rezeptivität auf die Wirklichkeit, die Verheißung und den Standpunkt des christlichen Bruders oder der christlichen Schwester hören, haben sie die Chance, die Stimme des Heiligen Geistes zu vernehmen. Deshalb darf eines in jedem Fall keine Rolle spielen: ob diese Form von Erkenntnis von großen Kirchen oder Kirchenbündnissen geübt wird oder nur von kleinen christlichen Gruppen. Kleine und unbedeutende christliche Gemeinschaften, die in der hier beschriebenen Weise Prophetie üben, können näher an der göttlichen Wahrheit dran sein als ein offizielles ökumenisches Gremium, selbst wenn dieses die Mehrheit der Christenheit repräsentiert. Man sollte es nie vergessen: Die großen Propheten des Alten Testaments wurden meist erst posthum als wahre Propheten anerkannt. Zu ihren Lebzeiten gehörten sie zu einer kleinen Minorität, die aus der Perspektive der Mehrheit abstruse, sektiererische und verschrobene Anschauungen vertrat.370 Freilich: Auch der Minoritätenstatus als solcher ist kein Ausweis von Wahrheit. Und auch das zeigt die Geschichte an vielen Beispielen. Der klassische Streit um wahre oder falsche Prophetie wird nie verebben, solange wir uns noch in der Geschichte befinden. Aber ich bleibe dabei: Der Missbrauch darf uns nicht daran hindern, uns immer wieder um den rechten Gebrauch zu mühen, sonst könnte der Schaden ein noch größerer sein. Es gehört zu einem im biblischen Glauben gegründeten Menschsein, immer wieder nach dem roten Faden in aller Geschichte zu suchen.

Israel, ein Wunder?

David Ben Gurion hat einmal gesagt: „Wer in Israel lebt und nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist.“ Tatsächlich kann sich einem die Kategorie des Wunders aufdrängen, wenn man zu verstehen versucht, was in gut 100 Jahren dort passiert ist. Als Theodor Herzl Ende des 19. Jahrhunderts sein Buch „Der Judenstaat“ veröffentlichte, musste die dort dargelegte Zukunftsvision auf realistische Beobachter wie das Produkt eines im Kopf etwas wirren politischen Phantasten wirken. Wo gab es das schon, dass sich ein Volk, das fast 2000 Jahre lang außerhalb seiner Heimat lebte, plötzlich aufmacht, um ins Land seiner Väter zurückzukehren? Natürlich war das – wie wir sahen – kein völlig irrationaler Vorgang, aber dass die Zionssehnsucht in dieser Wucht aufbrach und dazu gleich noch in ein politisches Aktionsprogramm mündete, hat etwas durchaus Erstaunliches an sich.

Als es dann nach vielen Um- und Irrwegen und den ersten schweren jüdisch-arabischen Auseinandersetzungen im Jahr 1948 schließlich zur Gründung des Staates Israel kam, war die Kette der unsere Aufmerksamkeit erregenden Ereignisse noch nicht zu Ende. Nicht nur, dass dieser Staat überhaupt entstand, war trotz des Entschlusses der UNO-Vollversammlung vom 29. November 1947 ein „Wunder“, auch die Überwindung der Widerstände, die der Realisierung der Staatsgründung entgegenstanden, war so nicht zu erwarten. Azzam Pascha, der damalige Generalsekretär der arabischen Liga, reagierte auf den UNO-Beschluss, indem er dem in Entstehung befindlichen Judenstaat drohte: „Es wird ein Ausrottungskrieg und ein gewaltiges Blutbad sein, von dem man einst sprechen wird wie von den Blutbädern der Mongolen und der Kreuzzüge.“371 Wie ernst gemeint dieser Satz trotz aller arabischer Rhetorik war, zeigte der kurz darauf ausbrechende Krieg, bei dem die vereinigten Heere von Ägypten, Transjordanien, Syrien, Libanon und dem Irak gegen die jüdischen Kampftruppen anrückten. Nun waren die zionistischen Kämpfer zwar hoch motiviert, wussten sie doch, dass es jetzt um alles oder nichts geht, während die arabischen Heere (wie allerdings auch die jüdischen) schlecht bewaffnet und in ihren Aktionen oft unkoordiniert waren. Dennoch war es keinesfalls ausgemacht, dass die Israelis diese riesige arabische Übermacht besiegen würden.

Nun liegt die Staatsgründung schon sechzig Jahre zurück und Israel ist längst nicht mehr der kleine und schwache David, der dem arabischen Goliath hilflos gegenübersteht, sondern ein hochgerüsteter Staat, der mit den USA einen starken Verbündeten an seiner Seite hat. Aber ist es denn selbstverständlich, dass Israel diese Unterstützung hat? Keinesfalls! Man muss sich nur einmal überlegen, was wäre, wenn sich die Stimmung in den USA grundsätzlich ändern würde. Israel wäre von heute auf morgen ganz auf sich gestellt. Natürlich ist eine solche Entwicklung für den Augenblick eher unwahrscheinlich, aber man sollte die Augen nicht davor verschließen, dass der jüdische Staat näher am Abgrund gebaut ist, als man sich oft bewusst macht.

Doch es sind nicht nur diese ungewöhnlichen, Erstaunen erregenden Ereignisse um den politischen Zionismus und die Staatsgründung Israels herum, die zum Hinsehen zwingen. Es ist nicht weniger der Holocaust und mit ihm die Erkenntnis, dass es wohl kein Jahrhundert in der jüdischen Geschichte gab, wo Himmel und Hölle derart nahe beieinander lagen. Hier die Neuetablierung jüdischer Existenz im Land der Väter, dort die schlimmste Katastrophe, die das jüdische Volk je getroffen hat: die Ermordung von sechs Millionen Menschen, darunter jede Menge von wehrlosen Frauen und Kindern. Wenn es etwas gibt, das in den Bereich dessen kommt, was man mit Kant als das „absolut Böse“ bezeichnen kann, dann ist es dieser bestialische, kaltblütig und systematisch durchgeführte Völkermord. Die Frage ist ungeheuerlich, kann einen erschüttern und drängt sich doch auf: Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen diesen beiden völlig gegensätzlichen Extremen, der drohenden und zu großen Teilen schon realisierten Vernichtung und der nationalen Wiedergeburt? Oder ist es Zynismus, wenn man überhaupt den geringsten Versuch unternimmt, dieses Schlimmste von allem „erklären“ zu wollen? Doch umgekehrt: Kann es ein Weg sein, sich einfach mit dem Ungeheuerlichen abzufinden, um zur Tagesordnung überzugehen? Ist jeder Versuch, sich dem Grauen von Auschwitz denkerisch anzunähern, von vornherein Menschenverachtung oder Blasphemie? Vor allem: Leugnet man nicht letztlich den geschichtlichen Gott der Bibel, wenn man die Sinnlosigkeit zum Dogma erhebt?

Völlig zu Recht urteilen Brocke/Jochum: „Juden, die davon überzeugt sind, daß die Geschichte der Welt und des Menschen etwas mit Gott und Gottes Willen zu tun hat, werden die Sinnfrage auch gegenüber dem Holocaust stellen müssen. Hat Gott etwas mit diesem Ereignis zu tun? Israel, das von Anfang an seinen Gott in den Ereignissen seiner Geschichte vernommen hat, weiß, daß Gottes Heilstaten Geschichtstaten waren, daß er aber auch in den dunklen Tagen seines Volkes zu ihm sprach.“372 Vor diesem Hintergrund sieht auch Berkovitz eine bestimmte Form von Auschwitz-Theologie überaus kritisch: „Sie hat uns die reichlich naive radikale Haltung beschert, die Gott aus der Geschichte eliminiert, oder hat zu dem selbstauferlegten theologischen Schweigen geführt, das sich weigert zu interpretieren, weil es die absolute Sinnlosigkeit des Holocaust gleichsam als Dogma verkündigt.“373 Emil Fackenheim behauptete sogar, dass man Hitler posthum zum Sieger erklären würde, wenn man sich mit der Sinnlosigkeit abfinden würde. Er spricht von der gebietenden Stimme von Auschwitz, die die Bedeutung eines 11. Gebotes bekommt: „Es ist den Juden verboten, Hitler nachträglich siegen zu lassen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergehe. Es ist ihnen geboten, der Opfer von Auschwitz zu gedenken, damit das Andenken an sie nicht verloren gehe. Es ist ihnen verboten, am Menschen und seiner Welt zu verzweifeln und Zuflucht entweder im Zynismus oder der Jenseitigkeit zu suchen, damit sie nicht dazu beitragen, die Welt den Mächten von Auschwitz auszuliefern. Schließlich ist es ihnen verboten, am Gott Israels zu verzweifeln, damit das Judentum nicht untergehe. … In alten Zeiten war die undenkbare jüdische Sünde der Götzendienst. Heute ist es die, auf Hitler zu antworten, indem man sein Werk verrichtet.“374

Die Schoa kann nicht erklärt werden, das wäre vermessen, aber sie ist eine überaus ernste Frage an das jüdische Volk, an alle Menschen, und ins besondere an uns Christen. Doch wie kann unsere Antwort aussehen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Gründung des Staates Israel und der Schoa? Wohin will Gott unsere Sinne lenken, wenn wir uns nicht dem Zynismus oder dem Nihilismus ergeben sollen?

Eine Antwort auf diese beiden ungeheueren geschichtlichen Herausforderungen kann meiner Überzeugung nach nur gefunden werden, wenn wir das tun, was ich oben gefordert habe: sie im Licht der Verheißung zu betrachten. Wenn nun aber die Verheißung klar und deutlich besagt, dass das jüdische Volk auch post Christum natum noch Gottes erwähltes Volk ist, könnte dann die Antwort Gottes auf die versuchte „Endlösung der Judenfrage“ nicht die erneute Existenz dieses Volkes im Land seiner Väter sein? Ein Zeichen der Treue Gottes? Ein Zeichen des Gottes, der es zwar zulässt, dass sein Volk bis an den Rand des Abgrunds getrieben wird, der es aber nie und nimmer zulassen wird, dass man es ganz hinabstößt? Das neu erbaute historische Museum der Jerusalemer Holocauststätte ( Jad wa Shem) besteht aus einem langen schmalen Gang, der auf beiden Seiten mit zahlreichen Ausstellungsräumen verbunden ist. Man vollzieht beim Durchschreiten einen Zickzackkurs, kommt aber immer wieder in den mittleren Gang zurück, der langsam nach unten abfällt. So kann man die Geschichte der Endlösung bis zum bitteren Ende verfolgen. Doch das Ende ist kein wirkliches Ende. Zum Schluss führt der Gang auf eine sich ins Freie erstreckende Terrasse, von der aus man die jüdischen Siedlungen Jerusalems erblicken kann. Nach der Tortur, die man bis zu diesem Punkt hinter sich gebracht hat, ist das wie ein befreiendes Aufatmen, fast wie eine Auferstehung. Eine Auferstehung, die das Leiden nicht vergessen lässt, die es aber in ein neues Licht rückt. Eben: Tod und Auferstehung! Wie wichtig diese Deutung für die Gesamtanlage ist, zeigt auch die Tatsache, dass im Eingangsbereich der Gedenkstätte Verse aus Ezechiel 37 zitiert werden, der Vision von der Lebendigmachung der Totengebeine. Versuchen wir, diesen m. E. augenfälligen Zusammenhang noch ein wenig tiefer zu bedenken.

Die Gottlosigkeit des Antisemitismus

Die Schoa ist nicht nur irgendein Völkermord, der zufällig „die Juden“ getroffen hat. Die Schoa, in die der nationalsozialistische Antisemitismus mündete, ist der gezielte Angriff auf das erwählte Volk Gottes. Vor allem L. Dawidowicz konnte in ihrem Buch „Der Krieg gegen die Juden“ viele Hinweise zusammentragen, die belegen, dass das Ziel der Judenvernichtung Hitlers Kriegspläne entscheidend beeinflusst hat. Natürlich hat Hitler den konventionellen Krieg nicht nur um der Judenvernichtung willen in die Gänge gebracht, dass er jedoch zu einer Zeit, wo die Ressourcen immer spärlicher wurden, mit einer geradezu dämonischen Akribie alles daran gesetzt hat, Juden aufzuspüren und umzubringen, bedarf keiner weiteren Interpretation. Es gab schon viele Versuche, den Antisemitismus zu analysieren und ihn rational zu erklären. Doch wie immer diese Erklärungen auch beschaffen waren, sie vermochten eines nie: zu erklären, warum sich der Hass immer gegen die Juden richtet, und warum er auch dort nicht zu überwinden ist, wo es überhaupt keine Juden mehr gibt oder sich Juden so sehr an ihre Umwelt angepasst haben, dass sie gar nicht mehr als solche erkennbar waren. Ich behaupte: Das ist deshalb so, weil Juden das von Gott erwählte Volk sind und weil diese Welt sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, dass Gott sich auf diese konkrete Weise in unsere Welt einmischt. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass sich jedes Volk und jeder Mensch in einem Zustand natürlicher Gottunmittelbarkeit befinden. Diese Gottunmittelbarkeit mag kleiner oder größer sein, sie kann verdunkelt oder vermindert werden, aber sie ist im Prinzip da und kann deshalb auch immer wieder durch Rituale und Kultus hergestellt werden. Gegen diese Haltung protestiert das Judentum. Es macht durch seine bloße Existenz deutlich, dass Gott erst in diese Welt kommen muss, weil die Welt nicht von vornherein gut und göttlich ist. Das jüdische Volk präsentiert sich in seiner konkreten Partikularität als Medium des göttlichen Zur-Welt-Kommens. Es ist gerade in seiner geschichtlichen Kontingenz ein lebendiger Einspruch gegen alle menschlichen Versuche der Selbsterlösung. Das Heil ist der Welt nicht immanent. Es muss von außen durch ein Medium in sie hineinkommen. Doch die Welt weiß es besser. Sie hat ihre eigenen Wege und Vorstellungen, wie das Paradies zu verwirklichen ist. Sie will sich von nichts und niemandem hereinreden lassen. Deshalb richtet sich ihr Zorn gegen die, auf die Gott seine Hand gelegt hat und die ihr im Namen dieses Gottes den Spiegel vorhalten. Das müssen Juden dabei nicht einmal bewusst oder gar moralisch tun, schon allein ihre bloße Existenz ist eine solche Infragestellung. Es gibt eine Art metaphysischen Antisemitismus, der oft mehr unbewusst als bewusst die Menschen bestimmt. Die bislang schlimmste und offensichtlichste Form dieses Antisemitismus war der Nationalsozialismus. Hier glaubte ein Volk, die von der Vorsehung (!) erwählte Herrenrasse zu sein, dazu bestimmt, dieser Welt das „Heil“ zu bringen. Es ist deshalb absolut logisch, dass dieses Volk meinte, die auszulöschen zu müssen, die die wahren Träger der göttlichen Erwählung sind. Auf Hitler wird der Satz zurückgeführt: „Es kann nicht zwei auserwählte Völker geben. Wir sind das Volk Gottes. Besagt das nicht alles?“375 Es besagt alles, so dass die Schlussfolgerung, die er in „Mein Kampf “ zieht, ganz auf der Linie dieser finsteren Logik liegt: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“376 Allein aus diesem Grund musste Hitler die Endlösung mit einer fast schon dämonischen Energie auch dann noch vorwärtstreiben, als der Krieg bereits verloren war. Es widersprach jedem rationalen Kalkül, die wenigen noch verbleibenden Kräfte dazu zu nutzen, Juden aufzuspüren und sie zu ermorden, doch sein rassistischideologischer Antisemitismus zwang Hitler dazu, das Werk der Zerstörung zu vollenden. Der II. Weltkrieg war aus der persönlichen Perspektive des Antisemiten Hitler zu einem wesentlichen Teil ein Krieg gegen die Juden. Deshalb wurden die Juden in einer Weise dämonisiert, wie das in der bisherigen Weltgeschichte einmalig gewesen sein dürfte. „Die Naziideologie enthielt eine metaphysische Konzeption des Juden, die ihn als eine Art von bösem kosmischen Urprinzip beschrieb. Diese Sicht war dem christlichen Antijudaismus entnommen, der in einem langen Prozeß der Bestreitung des Rechts auf natürliche und leibhaftige Existenz in den irrationalen Vorwürfen und Legenden des Mittelalters die Konzeption des ‚übernatürlichen‘ Juden schuf, der nun, aller irdischen und historischen Bedingungen und Zufälligkeiten entledigt, den Part des Antichrist in der heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung übernehmen konnte.“377

Nun höre ich sofort den Einwand, der da heißt: Hier wird der Antisemitismus damit erklärt, dass Juden von Gott erwählt wurden, um dieser Welt den Weg zum Heil zu zeigen, die Welt dies jedoch nicht will. Aber haben nicht auch Juden Schuld an dieser Entwicklung? Leben sie denn so vorbildlich, dass sie immer ihrer Erwählung entsprächen? Ist der Antisemitismus nicht zumindest auch eine Reaktion darauf, dass das erwählte Volk sich so wenig erwählt verhält? Nun will und kann ich jüdisches Verhalten nicht entschuldigen oder rechtfertigen. Natürlich sind Juden keine besseren oder frömmeren Menschen, und natürlich muss es deshalb auch erlaubt sein, sie zu kritisieren, auch aufgrund ihres religiösen Anspruchs. Aber dieser vermeintliche Einwand – der übrigens seinerseits nicht selten von antisemitischen Untertönen begleitet wird – kann den Antisemitismus dennoch nicht erklären. Es ist ja gerade das Wesen des Antisemitismus, dass es ihm nicht um das konkrete Verhalten geht. Selbst dort, wo Juden moralisch hoch stehend leben und ein Muster von Humanität abgeben, werden sie zu Zielscheiben des Hasses. Ja, sie werden selbst dort noch gehasst und verfolgt, wo sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihr Judentum endgültig abzulegen. Sogar ein Antisemitismus ohne Juden ist nichts Ungewöhnliches. Nein, der Antisemitismus ist etwas, das mit den metaphysischen Tiefenschichten der menschlichen Seele zu tun hat. Er ist nicht durch humane Schönheitsreparaturen zu beseitigen, sondern nur durch eine radikale Hinwendung der Menschen zu Gott, dem Gott Israels. Wenn ich all dies bedenke und mir bewusst wird, dass es nach dem größten Frontalangriff gegen das erwählte Gottesvolk zur Entstehung des Staates Israel kam, dann kann ich nicht anders, als darin ein Zeichen der göttlichen Treue zu seinem Volk Israel zu erkennen. Dort, wo die Mächte der Gottlosigkeit zum Frontalangriff blasen und tatsächlich schlimmstes Leid über das jüdische Volk bringen, bestätigt Gott die Gültigkeit seiner Verheißung, bekennt er sich zu seinem Volk und gibt damit seiner Welt und Israel eine neue Chance. Wenn die Schoa ein jüdisches Martyrium war, dann ist die neue Möglichkeit einer Existenz im verheißenen Land Auferstehung. Damit ist die Schoa nicht erklärt. Es bleibt die bedrängende Frage: Gott, wie konntest du dies zulassen? Und dennoch befreit gerade diese Sichtweise davon, die Schoa als Strafe Gottes sehen zu müssen, wie dies teils sogar jüdische Theologen versucht haben.378 Nein, die Schoa ist nicht ein Angriff Gottes auf sein Volk, sondern ein Angriff dieser Welt auf Gott und sein Volk.

Damit ist auch klar, dass Gott es nicht so fügen „musste“, damit der Staat Israel entstehen konnte. Aber, und dieses Aber kann nicht dick genug unterstrichen werden: Gott vermag es, auch noch schlimmste menschliche Sünde so in sein geschichtliches Wirken zu integrieren, dass es zum Guten dienen muss, dass es zur Erfüllung der Israel gegebenen Verheißungen beiträgt. Wenn hier ein geschichtstheologisches Erklärungsmuster in Anschlag gebracht werden kann, dann noch am ehesten dies, das in dem Satz enthalten ist, den Joseph am Ende der Josephsgeschichte seinen Brüdern sagt. Ihnen, die ihn aus niederträchtigen Motiven nach Ägypten verkauft haben, erwidert er: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ (Gen 50,20) Natürlich ist damit die Theodizeefrage nicht beantwortet. Auf sie wird es überhaupt keine rational befriedigende Antwort geben. Wenn man dennoch nicht davon lassen kann, eine „Antwort“ zu suchen, dann ist sie m. E. noch am ehesten in der Richtung von Berkovitz zu suchen. Bezogen auf Jes 45,6–7 schreibt er: „Wir haben schon Jesajas Wort zitiert, daß Gott das Licht bildet und die Dunkelheit schafft, daß er Frieden stiftet und das Unheil hervorbringt. Natürlich lag es nicht in Jesajas Absicht zu verkünden, daß Gott im eigentlichen Sinne Böses tut. Indem er den manichäischen Dualismus verwirft, behauptet der Prophet, daß Gott alleiniger Schöpfer ist. Er schuf das Böse dadurch, daß er die Möglichkeit zum Bösen schuf; Er stiftet den Frieden, dadurch daß er die Möglichkeit dazu schuf. Er mußte die Möglichkeit zum Bösen schaffen, wollte er die Möglichkeit für dessen Gegenteil, Friede, Güte und Liebe, schaffen.“379 Nach Berkovitz kann man sogar davon sprechen, dass Gott sein Angesicht in der Schoa vor Israel verborgen hat, ohne damit zum Ausdruck bringen zu wollen, dass Gott damit ein Strafgericht an Israel übt.380 Das Verbergen des göttlichen Antlitzes kann im biblischen Kontext viele Bedeutungsnuancen annehmen. Es kann auch für die ontologisch notwendige „Gott-losigkeit“ dieser Welt stehen, da es in dieser Schöpfung nur Freiheit geben kann, wenn der allem immanente Gott gleichzeitig auch der distanzierte Gott ist, der sich um der menschlichen Freiheit willen zurückgezogen hat. Es ist also nicht so, dass Gott sein Angesicht verbergen will, er muss es, immer wieder, selbst dann, wenn er selbst darunter leidet.381 Natürlich, warum er es da tut, und hier dann doch wieder nicht, warum er im einen Fall das Böse zulässt und es im anderen Fall – auch ohne direktes Eingreifen – abwendet, all diese letzten Fragen kann auch Berkovitz nicht beantworten.

Ist Kritik an Israel legitim?

Ist damit der Staat Israel oder zumindest die jüdische Existenz im Land Israel theologisch überhöht? Sind damit die israelischen Kriege zu heiligen Kriegen erklärt? Ist damit alles legitimiert, was in diesen Kriegen auch an Unrecht gegenüber der arabischen oder palästinensischen Bevölkerung geschah? Nein, das ist es nicht: Israel muss kritisierbar bleiben wie jeder andere Staat auf Erden. Gerade wenn man Israel aus der Perspektive des bleibend gültigen Bundes betrachtet, wird man zwangsläufig auf die Gebote verwiesen, die zum Leben im Bund konstitutiv dazugehören. Diese Gebote der Tora und der mündlichen Überlieferung fordern Israel dazu auf, gerecht und fair mit Fremden umzugehen, wehren der Gewalt und befassen sich auch mit schwierigen ethischen Fragen. Ein israelischer Soldat, der eines Kriegsverbrechens schuldig ist, muss sich wie jeder andere Mensch vor Gott und irdischen Gerichten verantworten, auch wenn dies in einem Krieg geschah, der unvermeidbar war, um das Existenzrecht Israels zu garantieren. Auch willkürliche Vertreibungen von Palästinensern, wie sie 1948 – zumindest auch – vorkamen, können nicht dadurch legitimiert werden, dass man diesen Krieg zum gerechten Krieg erklärt. Der Unabhängigkeitskrieg und der Sechs-Tage-Krieg sind nicht sakrosankt, auch wenn sie m. E. unvermeidbar waren, um das Existenzrecht Israels zu gewährleisten. Auch dort, wo man sich um eine „humane“ Kriegsführung bemühte, dennoch aber Menschen an Leib und Seele zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich wie bei unseren Überlegungen zur Schoa zu betonen, dass Gott dies keineswegs so gewollt hat. Keine Gewalt und kein Krieg sind letztlich im Sinn Gottes, und doch benutzt Gott oft Kriege, um seine Ziele zu erreichen. Viele mit der Staatsgründung Israels verbundene Ereignisse fallen unter die Kategorie von Schuld und Sünde, und dennoch hat Gott es in seiner von uns nicht zu ergründenden Geschichtsmächtigkeit so gefügt, dass darin seine Verheißungstreue gegenüber Israel offenbar wird. Ein Midrasch erzählt, dass die Engel am Meer in einen Siegesgesang einstimmen wollten, als die Ägypter beim Auszug aus Ägypten von den verschiedensten Plagen getroffen wurden und starben, darunter natürlich auch viele unschuldige Menschen. Daraufhin wehrte ihnen Gott und sprach: „Meiner Hände Schöpfung sinkt ins Meer und ihr wollt mir ein Lied anstimmen?!“ Aus diesem Grund wird bei der Pessachfeier bei jeder Erwähnung der Plagen bis heute ein Tropfen Wein verschüttet und an den letzten Pessachtagen das Hallel nur zur Hälfte rezitiert! Es ist unvermeidbar: In dem Augenblick, wo Gott als in die Geschichte involvierter Gott geglaubt wird, kann man ihn nicht mehr von Ereignissen separieren, die nicht nach seinem Willen sind. Jedenfalls benutzt Gott auch das Dunkle und Anstößige, um mit uns Menschen an sein Ziel zu kommen. Das ist anstößig, aber anders ist Gottes Wirken in der Geschichte nicht zu haben. Der biblische Gott ist so in die Geschichte verstrickt, dass er sich dadurch immer auch „die Hände schmutzig macht“. Er macht sich die Hände schmutzig, indem er sich aus Liebe aus der Geschichte zurückzieht. Er macht sich die Hände schmutzig, indem er aus Liebe in die Geschichte eingeht. Das Einzige, was man ihm zugutehalten kann, ist, dass er all das eben aus Liebe tut, aus dem Wunsch heraus, dass die Schöpfung ihm ein echtes Gegenüber ist und sie sich als dieses Gegenüber für sein Reich öffnet. Vermutlich ist Gott mehr an unserer Freiheit gelegen, als wir es erahnen.

Gottes Treue zu seinem Volk und seinem Land

Was also hat, um es noch einmal auf den Punkt zu bringen, Gott an Israel getan? Er hat seinem Volk die Treue gehalten! Er hat deutlich gemacht, dass er es nie zulassen wird, dass sein Volk vernichtet wird: Wer immer es antastet, tastet Gottes eigenen Augapfel an. Indem er seine Verheißung an Israel vor aller Welt neu bestätigt hat, richtet Gott unsere Augen auf Israel und stellt uns die Frage, wie wir es mit diesem Israel halten und ob wir bereit sind, Israel auf seinem Weg in kritischer Solidarität zu begleiten und auch unser Glauben und Denken in einem offenen Dialog von Israel und seinem Gotteszeugnis her mitbestimmen und formen zu lassen. Dies ist eine Frage an die ganze Menschheit, aber insbesondere eine Frage an die Kirche aus den Völkern. Damit bekommt die Kirche kein neues Offenbarungsfundament, aber sie wird zu ihren Ursprüngen zurückgerufen, sie wird zur Umkehr gerufen. Sie wird dazu aufgefordert, alle Formen des Antijudaismus und des Antisemitismus abzulegen, um in Zukunft ihre Wege in dieser Welt in kritischer Solidarität mit Israel zu gehen, mit dem Israel, das zusammen mit der Kirche zum Volk Gottes gehört. Nun hat Gott jedoch nicht nur dem jüdischen Volk die Treue gehalten. Er hat, indem er sein Volk in das Land seiner Väter gebracht hat, auch bezeugt, dass dieses Land verheißenes Land ist, eben seinem Volk verheißenes Land, dass also das Wohnen im Land ein entscheidender Bestandteil seines Bundes mit Israel ist. Bekommt damit der Staat theologische Relevanz? Nicht direkt, aber indirekt, weil er zumindest im Augenblick notwendig ist, um eine sichere Existenz des jüdischen Volkes im verheißenen Land zu garantieren. Der Staat Israel hat – wie ich bereits ausgeführt habe – keine direkte, aber eine abgeleitete theologische Würde.382 Wenn man weiter überlegt, ob die Existenz des jüdischen Volkes in Israel Bestätigung oder Erfüllung der göttlichen Verheißung ist, dann muss man sagen, dass beides, je auf seine Weise, zutrifft. Indem Gott sein Volk ins Land seiner Väter zurückgeführt und ihm die Gründung eines Staates ermöglicht hatte, erfüllte er tatsächlich die Landverheißung. Diese Erfüllung ist jedoch nur eine partielle. Nicht nur, weil das Wohnen im Land noch lange kein Wohnen in Frieden und Sicherheit ist, sondern auch, weil jede Erfüllung von Verheißung in dieser Welt automatisch neue Verheißungen aus sich heraus setzt. So ist durch die Etablierung des Staates Israel weder die messianische Zeit noch die kommende Welt angebrochen. Gerade diese letzten eschatologischen Erwartungsinhalte sind in der jüdischen Überlieferung aber so fest mit der Landverheißung verbunden, dass man kaum von einer vollen Erfüllung sprechen kann, wenn diese noch ausstehen. Doch gehen wir ruhig noch einen Schritt über diese theologischen Überlegungen hinaus. Überlegen wir, in welcher Weise sich das Zusammenspiel von Bestätigung und Erfüllung der Verheißung im Land Israel heute ganz konkret vollzieht.

Die Spannung von Verheißung und Erfüllung als Motor göttlicher Heilsgeschichte

Es gibt wohl kaum einen Ort in dieser Welt, wo der Widerspruch zwischen Verheißung und Erfüllung so intensiv erlebt werden kann wie im Heiligen Land. Das Land, in dem die biblischen Verheißungen ursprünglich ergangen sind, das „Heilige Land“, ist gleichzeitig das Land, das uns die Erlösungsbedürftigkeit der Welt besonders deutlich vor Augen treten lässt. Und noch einmal gesteigert gilt dies für die „Heilige Stadt“, für Jerusalem. Schon immer war Jerusalem ein Spiel- und Zankball der Mächtigen, wurde die Geschichte dieser Stadt mit Blut und Tränen geschrieben. Wie oft wurde Jerusalem zerstört und wieder aufgebaut. Wie oft folgten auf Zeiten der Blüte lange Zeiten der Verwüstung und Verödung. Meist waren die Zeiten des Aufatmens kurz, während sich die Zeiten der Hoffnungslosigkeit erbarmungslos in die Länge zogen. Jerusalem war nur selten eine Stadt des Friedens, und das, obwohl mit keiner anderen Stadt so wunderbare Verheißungen verbunden sind: angefangen von den Traditionen der Völkerwallfahrt, nach denen von Jerusalem Heilung und Segen ausgehen sollen, bis ins Neue Testament hinein, wo der Seher Johannes mit seiner Vision vom neuen Jerusalem alle mit dieser Stadt verbundenen Sehnsüchte aufgenommen und zur Vollendung geführt hat.

Auch die Rückkehr der Majorität des jüdischen Volkes ins Land seiner Väter und die Errichtung des Staates Israel haben den umfassenden Schalom nicht gebracht. Hatte man im frühen Zionismus die Hoffnung, dass allein die Errichtung eines eigenen Staates auf Dauer vor dem Antisemitismus der Völker zu schützen vermag, so muss man nun erleben, dass man auch als Staat zum Paria der Weltgemeinschaft werden kann. Auch der Dauerkonflikt mit den Palästinensern, für den Israel natürlich genauso Verantwortung trägt wie die Palästinenser – und nicht zu vergessen auch alle anderen in diesen Konflikt involvierten Staaten –, sorgt für einen Zustand dauernden Unfriedens und führt auf lange Sicht dazu, dass Israel von innen her immer stärker moralisch korrumpiert wird. Viele weitere, nicht weniger drastische Probleme kommen hinzu, wobei das größte vielleicht darin besteht, dass die jüdische Identitätsfrage (Wer ist eigentlich Jude bzw. Jüdin?) nicht wirklich geklärt ist. Deshalb kommt es zu zahlreichen Spannungen innerhalb der Zivilgesellschaft, vor allem zwischen Religiösen und Säkularen. Noch werden diese Spannungen einigermaßen dadurch in Zaum gehalten, dass man durch die äußeren Umstände gezwungen ist, zusammenzustehen. Doch wenn von jetzt auf nachher alle äußeren Bedrohungen wegfallen würden, dann ist zu befürchten, dass Israel einer solchen inneren Zerreißprobe nicht gewachsen wäre und alles im Chaos versinken würde.

Warum ist die Spannung zwischen göttlicher Verheißung und erlebter Wirklichkeit im Land Israel so gewaltig? Nur deshalb, weil die Verheißung etwas rein Geistiges ist, etwas rein Ideelles, das eben – Gott sei es geklagt – oft nur allzu wenig mit der konkreten Wirklichkeit zu tun hat? Oder ist es umgekehrt? Könnte es sein, dass das Land Israel tatsächlich der Ort ist, an dem die göttliche Verheißung zumindest partiell auch schon erfüllt wird, und dass gerade deshalb die Spannung dort als besonders intensiv erlebt wird?

… Die dort ergangenen Verheißungen sind nicht nur Worte, nicht nur ein Ideal, das der Wirklichkeit entgegensteht, sie produzieren durchaus ein Stück Wirklichkeit. Die Juden, die von Zionssehnsucht getrieben sich dort niedergelassen und einen Staat gegründet haben, sind genauso eine Wirklichkeit wie die dort ansässigen Kirchen, die auf ihre Weise bezeugen, dass der Gott Israels der Gott aller Völker ist. Hier ereignet sich proleptisch und partiell tatsächlich ein Stück Erfüllung der auf Israel und die Völker bezogenen Verheißungen. Aber diese Wirklichkeit gleicht eher einem dauernden Sprossen und Anfangen als einem Vollenden. Immer wieder wird sie von der brutalen Wirklichkeit unserer Welt niedergehalten. Das Wort der Verheißung gleicht einer Pflanze, die eine Betondecke durchbrechen muss, um ans Licht zu gelangen. Doch kaum hat sie den Beton durchbrochen, wird neuer Zement über sie geschüttet. Das ist einerseits frustrierend, aber andererseits, wer weiß, vielleicht wird gerade dadurch die Pflanze stark. Man kann in Jerusalem die göttliche Wirklichkeit erleben, genug, um für einen Augenblick zu spüren, dass die Verheißung mehr ist als ein bloßer Traum, dass sie Wirklichkeit werden könnte, dass es tatsächlich auch schon Ansätze gibt, die in die richtige Richtung gehen. Aber man kann ebenso auch bitter enttäuscht werden, weil das kleine Pflänzchen Hoffnung wieder einmal durch einen schnellen Handstreich zunichte gemacht wurde. Das Land und die Stadt tragen aufgrund der göttlichen Verheißungen ein gewaltiges göttliches Potential in sich. Aber gerade deshalb erscheinen auch die Mächte, die dieses Potential bedrohen, umso größer. Wer weiß: Vielleicht ruft das göttliche Sprossen die Gegenmächte auch erst auf den Plan. Jerusalem ist Träger der wunderbarsten Verheißungen, die dieser Welt gegeben sind. Nicht trotzdem, sondern gerade deshalb ist es auch die Stadt, in der sich die Wunden und Schmerzen dieser Welt wie in einem Brennglas bündeln. Jerusalem ist Wunde und Hoffnung der Welt in einem.

So ernüchternd diese Ambivalenz auch sein mag, sie muss nicht zwangsläufig zur Resignation führen. Sie kann auch helfen, die vielen mit diesem Staat verbundenen Konflikte noch einmal aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Aus einer Perspektive, die in den Konflikten zuallererst das göttliche Potential aufscheinen sieht. Aus einer Perspektive, die in den vielen wirr miteinander verknoteten Fäden den roten Faden Gottes erkennt. Aus einer Perspektive, die hinter aller vermeintlichen Sinnlosigkeit Sinn erkennt und so Hoffnung stiftet! Ich möchte an den zwei zentralen Konflikten im Heiligen Land, dem religiösen und dem politischen, verdeutlichen, wie dies aussehen könnte.

Jerusalem ist heilige Stadt dreier Weltreligionen. Alle drei Religionen partizipieren dabei, je auf ihre Weise, an der Verheißungsgeschichte Gottes. Für Juden ist das eindeutig. Für Christen gilt das, sofern sie durch Jesus Christus an der göttlichen Bundes-und Verheißungsgeschichte Israels teilbekommen. Auch der Islam erhebt den Anspruch, seinen Ursprung in den dem Abraham gegebenen Verheißungen zu haben. Betrachtet man diesen Sachverhalt aus der alttestamentlichen Perspektive, kann man mit guten Gründen behaupten, dass die an Abraham gerichtete Verheißung, zum Segen für die Völker zu werden (Gen 12,1–4), hier tatsächlich ein Stück weit verwirklicht ist. Ohne die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel gäbe es weder das Christentum noch den Islam. Die Verheißung erzeugt Wirklichkeit, bis dahin, dass heute alle, die sich auf diese konkrete Verheißungsgeschichte beziehen, in Jerusalem präsent sind und diese Stadt als ihre Heilige Stadt betrachten. Aber all das ist eben nur ein Stück weit Erfüllung, da die gemeinsam empfundene Heiligkeit bislang kaum zu einem konstruktiven Dialog führt, zu einer gemeinsamen Hinwendung zu Gott und seiner Wahrheit, auch nicht zu einem legitimen, aber auf der Basis gegenseitiger Achtung stattfindenden Streit um die Wahrheit. Dagegen sind gegenseitige Ausgrenzung, konkurrierende Erwählungsansprüche und schlimmste Instrumentalisierungen Gottes an der Tagesordnung.383

Doch diese aus der Verheißung entsprungene, konfliktträchtige Konzentration der drei monotheistischen Religionen in Jerusalem birgt eben auch ein gewaltiges Verheißungspotential in sich, nämlich die Hoffnung auf einen friedlichen und konstruktiven Dialog der Religionen. Es geht dabei nicht darum, aus Jerusalem einen religiösen melting pot zu machen. Die unterschiedlichen und sich zumindest teilweise auch ausschließenden Erwählungsansprüche sind vorhanden und dürfen nicht einfach ausgeblendet werden. Aber man darf vielleicht doch von einem Jerusalem träumen, das die Unterschiede aushält und sich – ohne Nivellierungen – auf einen Dialog bzw. Trialog einlässt. In einem solchen Dialog muss keine Religion ihren Wahrheitsanspruch einfach aufgeben. Aber genauso wenig soll und darf sie sich dem Gotteszeugnis der anderen verweigern und sich in ideologischer Rechthaberei nur auf sich selbst zurückziehen. Natürlich weiß niemand, was bei einem solchen Dialog letztlich herauskommen wird, aber können wir es ausschließen, dass uns der Heilige Geist gerade so zu neuen Ufern führen will? Ja, ist es nicht gerade diese Art der Kommunikation, an der Gott Wohlgefallen hat, auf der die Verheißung liegt? Selbst wenn im eigentlichen theologischen Bereich alles beim Alten bleiben sollte, allein wenn sich die Religionen gemeinsam gegen jedwede Instrumentalisierung Gottes im Namen fragwürdiger politischer Machtinteressen wehren würden, wäre das eine gewaltige Revolution und Jerusalem könnte so zu einem Quellort des Segens für die ganze Welt werden.

Da wir nun schon einmal beim Träumen sind, möchte ich die Träumerei noch ein wenig weiter, einige würden sicher sagen: auf die Spitze treiben. Israel/Jerusalem ist heute der Brennpunkt nicht nur eines regionalen, sondern eines globalen Konflikts. Israel ist in den Augen der Palästinenser und vieler arabischer Staaten der Vorposten des gehassten kolonialistischen und imperialistischen Westens, vor allem der Vorposten der USA. Die Palästinenser umgekehrt sind in den Augen vieler Israelis der Vorposten der muslimischen und überwiegend antisemitisch eingestellten arabischen Welt. Genau dies lässt jeden Konfliktlösungsversuch in Israel/Palästina als müßigen und letztlich hoffnungslosen Versuch erscheinen, die Quadratur des Kreises zu betreiben. Doch auch dieser Wirklichkeit kann man sich aus einer anderen Perspektive nähern. Was wäre, wenn es gelänge, in Jerusalem einen Dialog zwischen den Kulturen und Religionen zu etablieren, der sich auf die verfeindeten Machtblöcke auswirken würde? Jerusalem wäre dafür ideal gelegen. Mitten in der arabischen Welt, demographisch und religiöskulturell tief in beiden Kulturen verwurzelt, könnte es zwischen den verfeindeten Gruppen vermitteln. Gerechtigkeit, Frieden und neuer Lebenssinn könnten von Jerusalem in die Welt ausgehen.

Träume, Träume, nichts als Träume? Visionen religiöser Phantasten ohne Anhalt an der Wirklichkeit? Nicht aus der Perspektive biblischen Verheißungsglaubens! Aus dieser Perspektive ist Jerusalem der von Gott erwählte Ort, um deutlich zu machen, dass die göttlichen Verheißungen wirklichkeitsgesättigt sind, dass sie nicht allein auf die Befriedigung des religiösen Sinnbedürfnisses zielen, sondern auch auf eine tief greifende Umgestaltung unserer Wirklichkeit. Gott begnügt sich nicht mit frommen Seelen. Er will, dass sein Reich errichtet wird, dass eine Schöpfung entsteht, in der alles von seiner Herrlichkeit durchdrungen ist, so sehr, dass es einmal kein Leid, keinen Schmerz und kein Geschrei mehr geben wird. Jerusalem erinnert uns an die göttlichen Ziele. Jerusalem lädt uns dazu ein, schon jetzt daran mitzuarbeiten, dass etwas von diesen Zielen realisiert wird. Jerusalem führt uns allerdings auch vor Augen, dass die Wunden dieser Welt tief sind und wir es nicht vermögen, uns selbst zu heilen. Nur, wenn wir uns für Gott öffnen, wenn wir ihm unsere Wunden hinhalten, besteht eine Chance auf Heilung. Allein so kann Jerusalem zum Zeichen für die Völker werden: „Und es wird geschehen zu der Zeit, dass das Reis aus der Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Heiden fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.“ ( Jes 11,10)

369 Übereinstimmung kann dabei natürlich auch heißen, dass man zu der Gestalt einer versöhnten Verschiedenheit gefunden hat, ist also keinesfalls mit Uniformismus zu verwechseln. Die Differenz zwischen der Einheit im Geist und den unterschiedlichen Ausprägungen dieser Einheit in der Vielgestaltigkeit menschlichen Daseins ist vielmehr geradezu konstitutiv für diese Art geistgewirkter Prozesse.
370 Dazu s. Ebach, U., Apokalypse, a.a.O., S. 28: „ … weder der Gestus der Daueropposition noch die möglichst harte Ansage von Unheil verbürgt die Wahrheit. Wohl aber liegt (nach den in den biblischen Konfliktgeschichten selbst gegebenen Kriterien) der Verdacht der ideologischen Zurichtung des Gotteswortes auf die Bedürfnisse der Hörer bei den Heilspropheten näher als bei den Unheilspropheten.“
371 Krupp, Zionismus 133.
372 Brocke/Jochum, Wolkensäule 247. 373 Berkovitz, E., Das Verbergen Gottes, in: Brocke/Jochum, Wolkensäule 43–72, hier:
45.
374 Fackenheim, E.L., Die gebietende Stimme von Auschwitz, in: Brocke/Jochum, Wolkensäule 73–110, hier: 95.
375 Rauschning, Gespräche 227.
376 Hitler, A., Mein Kampf, Bd. 2, München 241933 70.
377 Brocke/Jochum, Wolkensäule 252.
378 Dazu s. die Beiträge von Ignaz Maybaum, Menachem Immanuel Hartom und Yitzchok Hutner, in: Brocke/Jochum, Wolkensäule 9–42.
379 Berkovitz, a.a.O., S. 63, in: Brocke/Jochum, Wolkensäule.
380 Berkovitz weist auf Jes 45,15 hin, wo das Verbergen des göttlichen Angesichts und die Hilfe Gottes in einem Zug genannt werden.
381 Dazu Berkovitz, a.a.O., S. 49–66, in: Brocke/Jochum, Wolkensäule.
382 Zur Diskussion um die theologische Bedeutung des Staates Israel s. Kickel, Land 148–222; Pontzen/Stähler, Land 300–327.
383 Am deutlichsten tritt dies in Jerusalem an den drei großen religiösen Erinnerungsorten in Erscheinung: der Westmauer, der Anastasis (Grabes- bzw. Auferstehungskirche) und dem Felsendom. Die Anastasis als Ort der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu wurde bewusst als gottgewollter Ersatz für den jüdischen Tempel betrachtet, der seit 70 n. Chr. in Schutt und Asche lag. Das prächtig erbaute konstantinische Heiligtum (4. Jahrhundert) sollte zum Ausdruck eines christlichen Triumphalismus werden, zum Zeichen dafür, dass Gott sein Gericht am jüdischen Volk vollzogen hat und die Kirche nun das neu erwählte Gottesvolk ist. Der Islam nahm diese triumphalistische Linie im 7./8. Jahrhundert dann auf und brachte sie zur Vollendung. War die Stadt in den Anfangsgründen muslimischer Traditionsbildung noch Symbol der Verbindung zu Judentum und Christentum, wurde sie nun immer mehr zum Symbol muslimischer Abgrenzung von Juden und Christen. Man verband die Tradition von Mohammeds Himmelsreise mit der Heiligen Stadt und baute am Ort des ursprünglich jüdischen Tempels die islamischen Heiligtümer (Felsendom und El Aksa), baulich so gestaltet, dass darin die Struktur und die Maße der christlichen Anastasis aufgenommen und überhöht werden. Aber nicht nur das Christentum wurde triumphalistisch überboten, sondern natürlich auch das Judentum, denn schließlich wurde die ganze Anlage dort gebaut, wo früher der jüdische Tempel stand. Hält man sich diese von Christen und Muslimen in Stein gemeißelte Theologie vor Augen, dann kann man regelrecht von einem Kampf um die Erwählung sprechen.

aus: Peter Hirschberg, Die bleibende Provokation. Christliche Theologie im Angesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 2008

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