Licht der Völker
Der Ort der Mission der Kirche innerhalb der Sendung Israels
von Jutta Weiß

„Juden-Mission“

– haben Sie dieses Wort schon einmal so gehört oder selbst so ausgesprochen, dass Jüdinnen und Juden dabei das Subjekt der Mission sind, nicht das Objekt? So dass der Raum entsteht für den Gedanken, ja die Realität, dass Jüdinnen und Juden einen Auftrag und eine Sendung haben für die Völker der Welt? Der Prophet Jesaja lässt uns solch einen göttlichen Auftrag hören:

Gott spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erden. (Jesaja 49,6)

Da wird ein Knecht, ein von Gott angesprochener Einzelner, stellvertretend für das Volk Israel dazu berufen, Licht der Heiden-Völker zu sein. Ist das „Mission“? Das Wort „Mission“ im Sinne einer Sendung zu den Völkern der Welt ist christlich so aufgeladen und so vielschichtig besetzt, dass es christlicher Auslegung oftmals schwer fällt, biblische Aussagen zur „Mission“ Israels als Sendung zu den Heiden-Völkern überhaupt wahrzunehmen. Aber diese Verse bei Jesaja sind kein Einzelfall. Schon Abraham erhält die Zusage: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde“ (1. Mose 12,3b). Jesus nimmt die Zusage und den Auftrag an sein Volk Israel auf, Licht der Völker zu sein, indem er seinen Jüngerinnen und Jüngern auf dem Berg zuspricht: Ihr seid das Licht der Welt (Matthäus 5,14).

Jüdische Stimme zur Sendung Israels

Der Rabbiner Roland Gradwohl legt die Aufforderung Gottes an den Gottesknecht aus, Licht der Völker zu sein. Er beschreibt, dass die Aufgabe dieses Gottesknechtes, dessen genaue Identität verborgen bleibt, nicht damit an ein Ende kommt, dass er die aus dem Exil in Babel Zurückgekehrten neu auf Gott hin ausrichtet. Seine Aufgabe ist erst erfüllt, „wenn über Israels Hinwendung hinaus die Völker zu Gott finden“ (166). Dazu führt er weitere Stimmen jüdischer Auslegung an: „Der Gottesknecht und mit ihm ganz Israel leuchtet den Völkern voran, indem er Gottes Weisung weitergibt und durch sein Tun vorlebt, dass sie machbar ist.“1 „Du sollst zum Licht für die Völker werden, damit sie zum Herrn sich wenden, den Glauben an Ihn annehmen, damit meine Hilfe gelange bis an den Rand der Erde“.2 Juden und Jüdinnen sind hier durch den Auftrag Gottes Subjekt der Mission, das Licht der Tora bis an die Enden der Welt zu tragen. Das hat allerdings nicht zur Gründung von Missionsgesellschaften geführt mit dem Ziel, Nichtjuden zur Konversion zum jüdischen Glauben zu bewegen. „Im Allgemeinen besteht die jüdische Tradition auf dem Recht einer jeden Person, verschieden zu anderen zu sein“, schreibt Elie Wiesel. „Die Juden waren selbst Fremde in Ägypten; deshalb sind sie gerufen, alle Fremden so zu respektieren, wie sie sind. Man darf deren Art zu leben nicht zu ändern trachten. Man darf nicht versuchen, sie sich anzugleichen. Jedes menschliche Wesen spiegelt das Bildnis Gottes wider, der selbst kein Bildnis besitzt: Meines ist nicht reiner oder heiliger als deines. Die Wahrheit ist eine, aber die Pfade, die zu ihr führen, sind viele … Die jüdische Religion hat mit wenigen Ausnahmen Konversionen abgelehnt. Bevor eine Person in die eigene Herde aufgenommen wird, muss sie gewarnt werden vor all dem, was sie vielleicht erdulden muss. Dem Kandidaten müssen die Verfolgungen ins Bewusstsein gerufen werden, die Leiden, die Qualen, die Massaker, von denen das jüdische Gedächtnis voll ist … Im Judentum respektieren wir die Freiheit und Identität des Fremden, sein Recht zu Selbstbestimmung. Weil der ,Andere‘ anders ist, weil er nicht mit mir identisch ist, sehe ich ihn als souverän und als Werkzeug Gottes, um in der Geschichte zu handeln und um den Glauben an Ihn und seine Schöpfung zu bezeugen.“ 3

In meiner Wahrnehmung hat dieses von Elie Wiesel ausgedrückte jüdische Selbst- und Fremdverständnis für viele Christinnen und auch Nicht- christen heute etwas ausgesprochen Attraktives und kann in diesem Sinne geradezu missionarisch sein: nämlich uns dazu inspirieren, die eigene Haltung den Fremden gegenüber zu überprüfen und im Sinne biblischer Weisung (Tora) weiter zu entwickeln. Es liegt der Kern der Tora gerade in diesem Umgang mit dem Fremden, der durch die Weisungen des Gottes Israels immer und immer wieder geschützt und wertgeschätzt wird. Ist es nicht lange an der Zeit, diese „Mission“ Israels, das Bezeugen der Tora unter den Völkern mit ihrer fundamentalen Wertschätzung des „anderen“, bewusst wahrzunehmen, wertzuschätzen und uns von ihr verändern zu lassen?

Christen-Mission

Wenn wir das Wort „Juden-Mission“ so hören, stellt sich uns die Frage nach der „Christen-Mission“ noch einmal neu, und zwar besonders in ihrem Verhältnis zum Auftrag Israels. Berthold Klappert hat das Verhältnis der christlichen Mission zur Mission Israels knapp und prägnant so formuliert:

Die Kirche – vom Auferstandenen zu weltweiter Mission beauftragt (Matthäus 28) – hat ihren Platz innerhalb der Sendung Israels, das zuerst und bleibend den Auftrag hat, Licht der Völker zu sein (Jesaja 49,6). Die Kirche nimmt also teil an der mit der bleibenden Erwählung Israels gegebenen Missio Judaica an die Welt, die in der Heiligung des Namens Gottes und dem Tun des Willens Gottes, der Tora, besteht. Das Vaterunser ist die Zusammenfassung dieser Teilnahme der Kirche an der Sendung Israels: „Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Tora-Wille werde getan,“ (Bertold Klappert)4

Durch die Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“ kommt vielen Menschen in Deutschland wieder neu zu Bewusstsein, dass der Gott Israels einen Namen hat: einen Eigennamen, der unaussprechlich ist. „Geheiligt werde dein Name“, diese erste Bitte des Vaterunsers erhält durch das Gewahrwerden des Eigennamens des biblischen Gottes ihre Bedeutung und Tiefe. Wir verdanken solch neues Gewahrwerden dem christlich-jüdischen Gespräch nach der Shoa. Indem wir diese Bitte aussprechen und leben, nehmen wir teil an der Sendung Israels, den Namen zu heiligen. Indem wir um das Kommen des Reiches bitten, erwarten wir gemeinsam mit dem jüdischen Volk das (Wieder-) Kommen des Messias und seines Reiches. Wenn wir beten: „Dein Wille geschehe“, treten wir ein in die Teilhabe an der Sendung Israels, den Willen Gottes zu tun: „Ein Licht zu erleuchten die Völker und zum Preis deines Volkes Israel“ (Lukas 2,32).

Teilhabe an „Licht“ und „Schatten“

Ich kann über die Teilhabe der christlichen Mission am bleibenden Auftrag Israels nicht nachdenken, ohne auch auf die dazugehörende „Schattenseite“ der Sendung Israels zu schauen. Dazu gibt mir die Deutung biblischer Texte durch Missionare Anlass. Für die Breklumer Mission in Schleswig-Holstein ist gerade ein Text aus der hebräischen Bibel zu einer Art Schlüsseltext geworden, nämlich die Geschichte vom Kampf des Volkes Israel gegen Amalek zu Beginn der Wüstenwanderung (2. Mose 17,8- 16). Als Christian Jensen, der Gründer der Breklumer Mission 1899 das Missionshaus erweiterte, schrieb er in großen Lettern den Bibelvers an die Hauswand: „Der Herr ist mein Panier“. Heutigen Gästen auf dem Gelände erscheint dieser Vers immer befremdlich, und die biblische Geschichte, aus der er stammt, ist weitgehend unbekannt.

Das Volk Israel ist auf dem Beginn seiner Wüstenwanderung:

Man nannte den Ort Massa und Meriba, weil die Israeliten dort gehadert und Adonaj versucht und gesagt hatten: Ist Adonaj unter uns oder nicht? Da kam Amalek und kämpfte gegen Israel in Refidim. Da sprach Mose zu Josua: Erwähle uns Männer, zieh aus und kämpfe gegen Amalek. Morgen will ich oben auf dem Hügel stehen mit dem Stab Gottes in meiner Hand. Und Josua tat, wie Mose ihm sagte, und kämpfte gegen Amalek. Mose aber und Aaron und Hur gingen auf die Höhe des Hügels. Und wenn Mose seine Hand emporhielt, siegte Israel; wenn er aber seine Hand sinken ließ, siegte Amalek. Aber Mose wurden die Hände schwer; darum nahmen die beiden einen Stein und legten ihn hin, dass er sich darauf setzte. Aaron aber und Hur stützen ihm die Hände, auf jeder Seite einer. So blieben seine Hände erhoben, bis die Sonne unterging. Und Josua überwältigte Amalek und sein Volk durch des Schwertes Schärfe. Und Adonaj sprach zu Mose: Schreibe dies zum Gedächtnis in ein Buch und präge es Josua ein; denn ich will Amalek unter dem Himmel austilgen, dass man seiner nicht mehr gedenke. Und Mose baute einen Altar und nannte ihn: Adonaj ist mein Feldzeichen (Panier). Und er sprach: Die Hand an Adonajs Thron! Adonaj führt Krieg gegen Amalek von Generation zu Generation (2. Mose 17,7–16).

In der Wüste tobt eine Schlacht, und wir können Predigten entnehmen, dass die Breklumer Missionare sich mit den Streitern Israels identifiziert haben, als sie gegen das Heidentum in Indien und Afrika ins Missionsfeld zogen, in dem sie Amalek zu erkennen meinten.

Was geschieht, wenn in christlicher Auslegung der Bibel „Israel“ ersetzt wird durch „die Kirche“ oder „das Christentum“, wird an dieser Auslegung durch Missionare beispielhaft deutlich: Es kommt zu einer völligen Verkennung des eigenen Auftrags. Trotz dieser Deutung durch die Missionare möchte ich die Geschichte vom Kampf Israels gegen Amalek nicht einfach zu einer unangenehmen Altlast der Missionsgeschichte erklären und entsorgen. Stattdessen lese ich sie als eine Hilfe zur Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der Sendung Israels, an der die christliche Mission teilhat, wenn sie denn ihre Mission als Teilhabe an der Sendung Israels versteht. Dazu hier wesentliche Gründe:

Israel kann diesen Kampf nicht vermeiden

Die biblische Geschichte erzählt von der Notwendigkeit des Kampfes gegen Amalek, den Gott selbst führt. Die Amalekiter haben das wandernde Volk Israel in der Wüste von hinten her angegriffen (5.Mose 25,17–19). Sie stürzten sich auf die Schwachen, die zurückgeblieben waren, und töteten sie. Mit ihrer Aggression treten sie alles mit Füßen, was Israel heilig ist: Sie fürchten Gott nicht, und sie ermorden Sachwache und Hilflose. Amalek ist der Feind Israels schlechthin. Er ist geradezu zu einer Chiffre geworden für Antisemitismus. Gegenüber Amalek gibt es keine Toleranz! „Adonaj führt Krieg gegen Amalek von Generation zu Generation“ (2. Mose 17,16). Paradox ist, dass die Geschichte dieses Kampfes gegen Amalek in ein Buch aufgeschrieben werden soll - das erste schriftliche Gedenken, das die Thora fordert –, denn, so die Begründung, „ich (Gott) will Amalek unter dem Himmel austilgen, dass man seiner nicht mehr gedenke“. Es gibt ein notwendiges Gedenken an diesen Kampf, das ein Vergessen-Können einschließt.

Christliche Teilhabe an der Sendung Israels bedeutet Teilhabe am Gedenken an diesen Kampf. Als Christinnen und Christen nach der Shoa werden wir uns dieser „Schattenseite“ der Sendung Israels nicht mehr entziehen dürfen. Gedenken, Widerstehen und das Wissen darum, dass die „Heiligung des Namens“ in jüdischer Tradition Martyrium bedeuten kann, gehören dazu.

Ist der Herr unter uns

oder ist da das Nichts?

Es gibt eine jüdische Lesart der Geschichte, die den direkten biblischen Kontext für ihre Deutung heranzieht: „Ist der Herr unter uns oder ist da das Nichts?“ (2. Mose 17,7). Als die Israeliten diese Frage stellen, da erscheint Amalek. In dem Moment, als ihnen statt der Gegenwart Gottes in ihrer Mitte das Nichts begegnet, beginnt ein Kampf auf Leben und Tod.

In dieser jüdischen Deutung wird gewagt, Amalek nicht nur als Bedrohung von außen zu verstehen, sondern (auch) als eine innere Bedrohung. Mir erscheint diese Sichtweise der Geschichte hoch brisant für christliche Selbstwahrnehmung. Die existentielle Frage: „Ist Gott in unserer Mitte oder ist da das Nichts?“ löst Ängste und Aggressionen aus. Wie können wir mit unseren Verunsicherungen und Aggressionen in einer scheinbar gottlosen Welt umgehen, ohne andere aus solcher Verunsicherung heraus angreifen oder gar zerstören zu müssen? Wie können wir lernen, den Kampf zu kämpfen, den diese Frage auslöst, ohne auf andere das Dunkle zu projizieren, das in uns selbst in bedrohlicher Weise auftaucht?

Ich möchte fragen, ob nicht die Missionsbewegung im 16., im 18. und 19. Jahrhundert auch als ein Reflex zu verstehen ist auf die Verunsicherung, die die Strömungen der Renaissance, der Aufklärung und der Säkularisierung in den Menschen Westeuropas auslösten. „Ist Gott in unserer Mitte oder ist da das Nichts?“ Könnte es nicht sein, dass der Kampf gegen das Heidentum in Übersee leichter zu führen war als der gegen die Säkularisierung in den eigenen Breiten? Könnte es nicht sein, dass der Kampf in Übersee eine Weile dazu beitrug, bei Menschen in Westeuropa die eigene innere Spannung zu lindern, die ausgelöst wurde durch den – uneingestandenen – Zweifel, ob Gott denn tatsächlich in Europa wirksam ist? Eine missionarische Kirche muss aufmerksam sein auf solche Spannungen in ihrer Mitte, sie nicht verdrängen oder in Abrede stellen, sondern lernen, in lebensfördernder Weise mit den Aggressionen umzugehen, die Zweifel und Verunsicherungen auslösen. Gerade der „Kampf gegen den Terrorismus“ macht uns schmerzlich deutlich, dass wir im 21. Jahrhundert nicht nur überlegen oder entsetzt auf diese Missionare zurückblicken können: Wir haben ihn vielleicht verlagert und verdrängt, diesen Kampf gegen das Bedrohliche und Fremde; aber hinter uns gelassen haben wir ihn ganz offensichtlich nicht. Es gilt darum, das was uns heute bedrohlich erscheint – etwa einen fundamentalistischen Islam – in den Blick zu nehmen und zugleich sorgfältig unsere eigenen Abwehrmechanismen und Aggressionen wahrzunehmen und zu prüfen.

Wie der Kampf entschieden wird

Mose, Aaron und Hur stehen zu dritt fürbittend auf dem Berg. Nur in gemeinsamer Anstrengung und Ausrichtung auf Gott gelingt es ihnen, bis zum Sonnenuntergang in dieser Fürbitte standzuhalten. So besiegt Israel Amalek. Für mich sind diese Drei zu einer männlichen „Anna Selbdritt“ geworden: Urbild geistlicher Begleitung, in dem die unverborgene Angewiesenheit auf Unterstützung in einem lebensbedrohlichen Kampf einen geradezu intimen Ausdruck gefunden hat. Einer allein schafft es nicht, auch der große Mose nicht. Die drei jedoch finden zu einer inneren und körperliche Stabilität, die sich mitteilt und auf die Menschen im Tal richtungweisend wirkt. Ihre gemeinsame Hingabe bezeugt: Gott ist in unserer Mitte, nicht das Nichts! Das entscheidet die Auseinandersetzung.

Teilhabe an der Sendung Israels, Licht der Völker zu sein, bedeutet für die christliche Mission die Heiligung des Namens Gottes und das Tun des Willens Gottes. Sie bedeutet auch das gemeinsame Gedenken mit Israel an den Kampf, den Gott führt gegen Amalek mit dem Ziel, dass man seiner eines Tages nicht mehr gedenke.

Jutta Weiß

Studienleiterin für Ökumenische Spiritualität des Nordelbischen Missionszentrums im Christian Jensen Kolleg 1 H. Cohen, Religion der Vernunft, in: Gradwohl, Roland, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd. 2, Stuttgart 1987, 167. 2 Abarbanel, in: Roland Gradwohl, 167. 3 Elie Wiesel, Noah oder die Verwandlung der Angst, Herder, Freiburg 2000, 54 ff. 4 Bertold Klappert, Dialog mit Israel und Mission unter den Völkern, in: Bertold Klappert, Miterben der Verheißung, 2000, 407.

aus Junge.Kirche 3/200

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