Messianische Barmherzigkeit für Israel im Zeichen des Sabbat
Exegetisches zum Sabbatstreit in den Evangelien am Beispiel von Matthäus 12,1-21
von Klaus-Peter Lehmann

1.) Vorbemerkung

Die neutestamentlichen Streitgespräche um den Sabbat stehen im Blickpunkt der Aufmerksamkeit wo es um das Verhältnis der Kirche zu Israel geht, das natürlicherweise aus dem Verhältnis Jesu zum Judentum, zu den Herzkammern seines religiösen Lebens wie dem Sabbat, sich ableiten muss. Generationen von Exegeten meinten, Jesus sei gekommen, „das Gesetz neu im Sinne der Barmherzigkeit auszulegen“, und die „Freiheit vom Sabbatgesetz“  (1)  zu verkünden. Diese kirchliche Torafeindlichkeit neigte zu einer Polemik, die den Pharisäern unlautere Motive unterstellte. Heute überwiegen allerdings die Stimmen, die nachweisen, dass Jesus das Sabbatgebot nie übertreten hat und mit den Pharisäern „in einer innerjüdischen Debatte über die Sabbatobservanz“  (2)  streitend verbunden ist. Warum trotz der Verbundenheit Jesu mit pharisäischen Grundsätzen, z.B. dem, dass die Lebensrettung das Sabbatgebot bricht, ihr Ringen um seine Auslegung in einen tödlichen Konflikt mündet bleibt eine wichtige Frage an die Exegese der neutestamentlichen Streitgespräche Jesu mit den Pharisäern.

2.) Auslegungsstreit um das volle Verständnis vom Vorrang der Barmherzigkeit im Alten Testament

Auch Mt 12,1-21 geht es nicht um eine Ablehnung der Tora durch Jesus. Der im Zentrum der Auslegung liegende Satz Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer (V. 7) meint keine Antithese im Sinne von ‚Barmherzigkeit statt Opfer’. Es handelt sich um ein Zitat (Ps 50,13; Hos 6,6), einen Grundgedanken (Jer 7,22, Am 5,21-25), des Alten Testamentes. Dieser besagt, die Barmherzigkeit bzw. die soziale Gerechtigkeit hat immer Vorrang, sie ist der Sinn der Tora. Der Opferkult ist sinnlos ohne sie, sie aber ist seine Erfüllung (Spr 21,3; Röm 13,10). Auf diese Texte beziehen sich die Pharisäer und Jesus gleichermaßen. Es geht um ihre Auslegung. Was bedeutet der von der Tora geforderte Vorrang der Barmherzigkeit heute?

Ein genauerer Blick auf den Text enthüllt, wie sehr es Jesus um den Schriftsinn geht. In V. 7 fragt er seine Kritiker, ob sie das Wort der Schrift in seiner vollen Bedeutung erkannt haben: wenn ihr aber erkannt hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.  (3)  Auch in Vers 3 und 5 fragt er sie, ob sie über David und in der Tora nicht gelesen hätten, d.h. durch ihr intensives Studieren der Texte ihrer vollen Bedeutung schon innegeworden seien. Das griechische Wort bedeutet genau erkennen und umfasst lesen, anerkennen, innewerden. So fassen wir lesen als intensiven, aktiven Akt der geistigen Aufnahme, hier der Erkenntnis und Anerkenntnis aller Sinnebenen eines Wortes der Schrift. Jesus stellt also in Frage,  dass seine Kritiker den umfassenden Sinn vom Vorrang der Barmherzigkeit, den Gott fordert und die Tora bezeugt, durch ihr Schriftstudium erkannt oder anerkannt haben.

Jesus zielt auf die messianische Sinnebene der Schrift.  (4)  Deshalb seine Auslegung in V. 8: Denn Herr des Sabbats ist der Sohn des Menschen. Nach prophetischer Tradition wird der Sohn des Menschen Gerechtigkeit unter den Völkern schaffen und den Weltfrieden heraufführen (Dan 7,13f). Er wird die verheißenen Erweisungen von Gottes Barmherzigkeit für Israel aufgrund seiner Bundestreue ihrer Verwirklichung entgegenführen: Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, zu gedenken der Barmherzigkeit, wie er geredet hat zu unsern Vätern, lesen wir im messianischen Lobgesang der Maria (Lk 1,54f; vgl. Jes 55,3ff; 63,7ff; Mi 7,19; Ps 17,7; 89,2ff). Die Feier des Sabbats weist von ihrer messianischen Sinnebene her auf diese von der Barmherzigkeit des Israel treuen Gottes erfüllte Zeit hin. Der Sabbat lebt aus der Hoffnung Israels für sich und die Menschheit. Seine Feier sollte sich von der Hoffnung in der völkergeschichtlichen Dimension von Gottes Barmherzigkeit, die der Menschensohn bringt, wie von seinem Herrn bestimmen lassen. In lebendiger Vorfreude auf den messianischen Völkerfrieden, der als die Israel verheißene Barmherzigkeit das Ende vom Joch der großen Mächte bringen wird, sollte nach Jesus der Sabbat gefeiert werden.

Jesus geht es um diese heilsgeschichtliche, prophetisch verheißene Barmherzigkeit. Die Pharisäer beziehen sich auf die alltagspraktische Dimension der Barmherzigkeit und weisen die von Jesus gemeinte Praktizierung eines messianischen Schriftsinnes zurück.

3.) Der Konflikt
a.) Wie kommt Friede und Befreiung für Israel? Die Sicht der Pharisäer

Wie der Text zeigt, waren die Pharisäer auf messianische Schriftauslegung nicht gut zu sprechen, noch weniger auf messianische Handlungen. Die Perikope vom Ährenessen der Jünger Mt 12,1-8 gibt eine folgenlose Kontroverse wieder, deren abruptes Ende nach dem Höhepunkt der Auslegung Jesu wir geneigt sind so auszulegen, dass seine Kontrahenten dem nichts entgegensetzen wollten. Sie wussten aber, woran sie waren. Hier legte sich einer für den Messianismus der Schrift ins Zeug. Die Perikope von der Heilung eines Menschen mit einer erstorbenen Hand Mt 12,9-21 berichtet dann von einer messianischen Zeichenhandlung Jesu, einer Aktion, mit welcher er faktisch positiv auf die Frage des Johannes antwortet: Bist du es, der da kommen soll? (Mt 11,2-6). Messianische Handlungen gehen mit einer messianische Bewegung einher. Deshalb lesen wir Mt 12,15: und viele folgten ihm nach.  Das aber roch für die römischen Besatzer nach Aufstand. Die Folge könnte ein blutiger Militärschlag gegen Israel sein. Das galt es zu vermeiden. Sollte man den Bestand des Gottesvolkes wegen eines messianischen Rabbis und seines Anhangs, auch wenn ihm keine Verfehlung gegen die Schrift vorzuhalten war, gefährden? Die Pharisäer dachten hier realpolitisch wie die Priester des Tempels (s. Joh 11,47-53!). Auf diese Ebene hat sich Jesus vermutlich überhaupt nicht eingelassen. Das erklärt das abrupte Ende der Sabbatdebatte (Mt 12,1-8) und die abrupte Reaktion der Pharisäer auf die messianische Heilung in Mt 12,14: Hinaus aber gingen die Pharisäer und hielten Rat gegen ihn. Sie wussten, woran sie waren.

b.) Wie kommt Friede und Befreiung für Israel? Das messianische Werk Jesu

Auch Jesus ging es um die Rettung des Gottesvolkes. Aber sein Messianismus und die Anfeindungen mit einem Großteil der Schriftgelehrten Israels eröffneten ihm einen anderen Weg dahin. Auf ihn weist er für diejenigen, die ihm nachfolgten, mit dem Zitat aus dem Buch Jesaja hin, in dem es heißt: den Heiden das Recht verkünden (Mt 12,18). In der Völkerwelt aktiv werden, statt in Israel vor der heidnischen Großmacht zu erstarren und gezwungen sein, mit ihr zu paktieren.

Wir betrachten den Weg Jesu zur Erlangung von Barmherzigkeit für Israel etwas genauer. Jesus will den messianischen Sinn des Sabbat aktualisieren, praktisch, lebensmächtig demonstrieren: die Beseitigung des Hungers (Mt 12,1-8) und die ganzheitliche Wiederherstellung des Menschen (Mt 12,9-15) in der Sabbatfeier antizipieren. Er wird von den Pharisäern daran gehindert und muss weichen, sich zurückziehen. Im Griechischen heißt es wörtlich: er ging außer Landes, V. 15). Hier wie anderswo wird angedeutet, dass Jesus außer Landes gedrängt wurde (s.u.). Später im sog. Missionsbefehl fordert der Auferstandene seine Jünger auf, sein Werk außerhalb Israels fortzusetzen: Gehet hin und machet alle Heiden zu Jüngern und taufet sie, … und lehret sie alles halten, was ich euch befohlen habe (Mt 28,19). Der Auferstandene macht zum Gebot, wozu der Leidende gedrängt wurde. Er sendet zu den Völkern, um so Israel Befreiung zu bringen.

Das soll das Jesaja-Zitat andeuten: Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe… Ich will meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Heiden das Recht verkündigen (V. 18; Jes 42,1). Jesus sieht seine Berufung und sein Werk darin, dieses Wort seiner Erfüllung entgegenzuführen (V. 17). Er sieht sich als den erwählten Knecht Gottes, als den, der stellvertretend für Israel Heiden an das Recht und die Verheißungen der Tora bindet. Er sieht durch sich und sein Werk den messianischen Geist (Mt 3,17) der Prophetie Israels wirken (Mt 12,18) und, gehindert an seinem Werk in Israel sowie außer Landes gedrängt, wird er zuerst den Heiden das Recht verkünden und auf diesem Weg dafür sorgen, dass das geknickte Rohr (= Israel) nicht zerbricht (Mt 12,20).

Jesus setzt sein in Israel begonnenes Werk über den Umweg der Völkermission fort, um so Gottes Barmherzigkeit für Israel geschichtlich anzubahnen. Dadurch, dass er die Völker anleitet, ihr Kriegshandwerk und ihre Feindschaft gegenüber Israel und seiner Tora fahren zu lassen, und den Gott Israels, der weltweiten Schalom will, zu loben, dient er eben Israel. (Röm 15,8-12). Denn wenn die Völkerwelt das Recht der Tora annimmt, also immer mehr auf Gerechtigkeit und Schalom hin leben wird, dann wird die Unterdrückung Israels durch die großen Mächte (Babylon, Rom) ein Ende haben. Dann wird auch in Israel keine Furcht vor politischen Repressalien und keine Furcht um die Existenz des Gottesvolkes seine messianische Sabbatfeier behindern. Israel wird in Ruhe, befreit von Feindeshand, seinen Dienst an Gott leben in Heiligkeit und Gerechtigkeit (Luk 1,74).

Heiligkeit und Gerechtigkeit in Israel zu erwirken, ist der messianische Dienst Jesu Christi an seinem Volk. Die  prophetische Rechtsverkündigung unter den Völkern ist der Weg dahin. Die durch den Messias befriedete Völkerwelt wird Israel politische Ruhe schenken. Unter messianischen Weltumständen fällt die prämessianisch notwendige Taktirerei mit den Heiden selbstredend fort. Vielmehr werden die Heiden Israel als messianischen Erstling Gottes jubelnd anerkennen (Luk 2,32). Die Heiden freuen sich mit Israel (Röm 15,10; 5Mos 32,43). Das ist der volle Sinn der Barmherzigkeit Gottes.

4.) Ergänzung: Der Tempel und das Reich Gottes

Zur Begründung seiner Auslegung des Sabbat überbietet Jesus den Tempel durch den Sohn des Menschen (Mt 12,6):
Hier ist Größeres als der Tempel.
Er fährt in V. 8 fort:
Denn der Sohn des Menschen ist Herr über den Sabbat
Die Schriftworte (V. 7)
Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer
stehen dazwischen als Schriftargument für den Konjunktiv der Überbietung.

Der Konjunktiv meint in rabbinischer Logik wie im Neuen Testament keinen Ausschluss eines Überbotenen, sondern einen weiteren Schritt in der Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem Volk, im Neuen Testament den Schritt ins messianische Zeitalter. Es geht hier also nicht um eine Ablehnung des Tempels gehen. Denn Jesus will auch den Dienst am Heiligtum im prophetischen Sinn erneuern: Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker (Mk 11,17; Mt 21,13; Jes 56,17). Auch wenn Matthäus den Propheten Jesaja gegenüber Markus verkürzt zitiert, müssen wir für alle Völker mitdenken. Denn der Tempel ist das Bethaus für den Gott Israels, dem Herrn aller Völker. So schließt allein der jüdische Gottesbegriff eine grundsätzliche Ablehnung des Tempels aus. Das in ihm verrichtete Gebet zielt auf die messianische Versöhnung der Völker. Das gilt auch für den Opferdienst. Er weist auf das messianische Zeitalter, in dem keine Sündenvergebung mehr notwendig ist (Hebr 8,5). In ihm wird der Sohn des Menschen wird für Israel ein unzerstörbares Reich aufrichten, ihm werden alle Völker dienen, denn seine Macht ist eine ewige, weil er das menschliche Zusammenleben ganz allein auf Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gründet (Dan 7,14). Das ist Größeres als der Tempel, der Zeichen für das ist, was der Messias mit seinem Befreiungs- und Friedenswerk in Gang setzt. Der Messias nimmt sich Israels durch sein Werk an, indem er seine verheißene Barmherzigkeit, die Völkerversöhnung im Namen Abrahams auf den Weg bringt (Lk 1.54f).
Das Reich Gottes ist das Größere, auf das Israel in den Formen seiner Existenz (Sabbat; Tempel) hinweist. Wenn Jesus sagt: Hier ist Größeres als das Heiligtum, bringt er zum Ausdruck, dass er mit seiner Jüngergemeinde für die Nähe des Gottesreiches einsteht.

5.) Vertiefung der Auslegung: Der Schöpfungssabbat und die Befreiung Israels

Ein genauerer Blick auf die beiden Sabbatkontroversen in Mt 12 bestätigt ihre Auslegung im Horizont der messianischen Befreiung. Bei der ersten geht es nicht um den Verzehr von Brot am Sabbat, sondern um seine Zubereitung für Hungernde. Jesus und seine Jünger hungert (Mt 12,1). Die Notwendigkeit ihn zu stillen bricht das Gebot, am Sabbat Arbeit zu meiden. Hierin liegt nicht der Konflikt mit den fragenden Pharisäern. Denn dass die Behebung menschlicher Not, das Prinzip der Lebensrettung, über dem Arbeitsverbot steht, war in Israel allgemein geltende Auslegung.  (5)  Auch der Tempel, der Schaubrottisch im priesterlichen Heiligtum, erinnert an die ewige Aufgabe, den Hunger der Menschen zu stillen. Die Tora spricht vom Brot des Angesichtes (2Mos 25,30). Das Brot liegt immer vor dem Angesicht Gottes, der Gerechtigkeit, gerechte Verteilung will. Alle sechs Tage werden die Brote erneuert und am Sabbat verzehrt. Der Sabbat proklamiert die ewige gerechte Verteilung der von Gott gegebenen Nahrung unter allen Menschen. Ständige Erneuerung des Brotes, geheiligter = gerechter Verzehr als Hochheiliges (3Mose 24,5-9). Ewige Gerechtigkeit – kein Hunger.  (6) 

Einen Konflikt provoziert die Auslegung Jesu, weil er das Handeln seiner Jünger in den Horizont der mit König David begonnenen und durch den Menschensohn zu vollendenden Befreiungsgeschichte Israels stellt. Die Schaubrote erinnern den schöpfungsgemäßen Sinn des Sabbats. David, der Befreier Israels von seinen Feinden, darf sie zu seiner Lebensrettung essen. D.h. die Befreiung Israels und der ewige Sabbatfriede für alle Völker gehören zusammen. Indem Jesus den Sabbat mit Hinweis auf David auslegt und im Namen des Menschensohnes, der das Werk Davids vollenden wird, feiert, proklamiert er die bevorstehende Befreiung Israels von seinen Feinden, seine Wiedererrichtung. Die Sabbatauslegung Jesu ist eine Zeichenhandlung für die messianische Befreiung Israels.

Doch die Feier der zukünftigen Welt, in der Israel vom Joch der Fremdherrschaft befreit aufatmen kann, wird unweigerlich in gefährliche Konflikte mit der Besatzungsmacht führen. Diese unbedingt zu vermeiden, und nicht den Untergang Israels durch ein Blutbad der Besatzer zu provozieren, ist das politische Räsonnement der Pharisäer. Für sie war in dieser Erwägung der Sinn des Sabbats, der auf den Erhalt Israels zielt, bewahrt. Jesus beharrte auf der Bewahrung Israels durch seine messianische Befreiung und wollte dem, „unpolitisch“ am Schriftsinn festhaltend, in seiner Sabbatauslegung und seinen Sabbatheilungen Ausdruck geben. Die Pharisäer befürchteten, Roms Militärmacht könnte provoziert werden. Das musste in einen tödlichen Konflikt münden.

Auch die zweite Kontroverse, die Heilung der erstorbenen Hand, ist eine Zeichenhandlung für die Befreiung Israels. Es handelt sich nicht um eine einfache Gesundung. Der griechische Text ist komplexer als die üblichen Übersetzungen wiedergeben. In Mt. 12,13 heißt es:
Dann sagte er zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus! Und er streckte sie aus, und sie ward wiederhergestellt, gesund wie die andere.

Das griechische Verb für ‚wiederherstellen’ dient sonst dazu, die Wiederaufrichtung Israels und die Erneuerung der Welt im messianischen Zeitalter zu bezeichnen. Lukas spricht von der Wiederherstellung des Königtums für Israel (Apg. 1,6) und von der Herstellung alles dessen, was Gott durch den Mund seiner heiligen, von Ewigkeit her gesandten Propheten geredet hat (Apg. 3,21).  (7) 

Deutlicher noch ist die Heilung der erstorbenen Hand eine Zeichenhandlung für die endzeitliche Wiederherstellung der Schöpfung in ihrer ursprünglichen Güte. In Mt 12,9-13 antwortet Jesus auf die Frage seiner Gegner, ob es erlaubt sei am Sabbat zu heilen, in zwei Schritten. Mit einem Kal Vachomer, dem üblichen rabbinischen Schlussverfahren vom minder Bedeutenden aufs Bedeutendere, schließt er von der erlaubten Rettung eines in einen Brunnen gefallenen Schafes auf die Erlaubnis, am Sabbat einen Menschen zu heilen:
Um wie viel unterscheidet sich ein Mensch von einem Schaf? Deshalb ist es erlaubt am Sabbat gut zu tun.

Im zweiten Schritt lässt Jesus mit dem Stichwort gut die Güte von Gottes Schöpfung aufklingen:
Und Gott sah, dass  es gut war.
Jesus beansprucht mit seinen Sabbathandlungen an das befreiende Schöpfungshandeln Gottes anzuschließen und die Tür zu öffnen für die Erneuerung der gesamten Welt zu ihrem ursprünglichen Schöpfungsfrieden. Durch den Messias soll werden, was von Gott dem Schöpfer gemeint war: ewige Güte.

Nach neutestamentlichem Zeugnis setzt sich Jesus damit in Widerspruch zur damals verbreiteten Auffassung, die wohl Lebensrettung aber nicht Heilung, die auch werktags ausgeübt werden könne, für den Sabbat zuließ (Lk 13,14). Bei Lukas argumentiert Jesus für seine messianische Auslegung mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Abrahamskindschaft der geheilten Frau (Lk 13,16):
Diese aber, eine Tochter Abrahams, die der Satan, siehe, achtzehn Jahre gefesselt hielt, musste sie nicht befreit werden von dieser Fessel am Tag des Sabbat.

Jesus argumentiert mit dem Sinn jüdischer Existenz. Wofür steht Israel in der Menschheitsgeschichte, wenn nicht für die kommende messianische Befreiung aller Kreatur? Der Sinn seiner Existenz, der mit der Abrahamskindschaft ausgesagt ist, muss nach der Schrift bezeugt werden am Tag seiner höchsten Hoffnung, am Sabbat.

6.) Noch einmal: die Kontroverse mit den Pharisäern und Jesu Weg zu den Völkern

Jesus legt sein Handeln am Sabbat als Beginn der Wiedererrichtung des Königtums für Israel, der Aufrichtung Israels zu seiner ursprünglichen Bestimmung, Licht der Völker zu sein und als Proklamation des ewigen Sabbats, als Wiederherstellung der gottgewollten Schöpfungsgüte aus. Für seine Auslegung ist signifikant, dass die Wiederherstellung des Menschen mit der erstorbenen Hand sowohl auf den universalen Friedenssinn des Sabbat weist, auf die Wiederherstellung der Güte der Schöpfung (gut tun)wie auf die Wiederherstellung der Freiheit Israels. Das gilt auch für die Auslegung zum Ährenessen der Jünger, die den Sabbat mit dem Verweis auf David und den Sohn des Menschen explizit unter den zionistisch-messianischen Horizont stellt.

Darauf reagieren die Pharisäer, die auf den Erhalt des Gottesvolkes durch vorsichtige Politik setzen. Sie befürchten nicht zu Unrecht, dass eine messianische Sabbatpraxis tödliche Konflikte mit der Besatzungsmacht heraufbeschwören könnte (Joh 11,47-53). In ihren Augen gefährdet Jesus mit seinem Messianismus, den sie als provokant einschätzen, die Existenz des Gottesvolkes. Gegen seine Schriftauslegung gibt es zwar keine Einwände. Leuchtet der messianische Horizont doch auch im von ihnen anerkannten Prinzip der Lebensrettung auf, wie Jesu Schluss vom Kleineren aufs Größere ihnen demonstriert (Mt 12,11f). Mag sein, dass sie das gereizt hat. Entscheidend ist in ihren Augen das Überleben des Gottesvolkes. Ist die Existenz Israels nicht die Voraussetzung, um vom ewigen Sabbat und vom Messias träumen zu können? Alles spricht dafür, die Position der Gegner Jesu als verantwortungsvoll überlegt und wohl begründet zur Kenntnis zu nehmen. Wer wollte glattweg bestreiten, dass sie so betrachtet, nicht sogar die besseren, realistischen Argumente für sich haben?

Wo steht nun der Rabbiner Jesus von Nazareth, der sich mit seiner messianischen Auslegung des Sabbats so weit exponiert und gefährdet hat?

Die Feindschaft der Pharisäer zwingt Jesus auszuweichen. V. 14f heißt es:
Die Pharisäer hielten Rat gegen ihn, wie sie ihn töten könnten. Aber Jesus bemerkte es und zog weg von dort.

Matthäus schildert den Messias wiederholt außer Landes nach Galiläa ausweichen (2,22; 4,12; 15,21). Man könnte auch sagen, er flieht (Joh 6,15). Auf seinem Weg folgen ihm viele, die er heilt (V. 15b), aber er möchte unbedingt vermeiden, dass von ihm als Sohn des Menschen öffentlich geredet wird (V. 16). Handelt es sich um ein Messiasgeheimnis? Wir sehen es so: Jesus beginnt hier seinen Weg in seine Offenbarung als Messias. Diese geschieht aber nicht in der Proklamation seiner messianischen Taten, sondern in der Proklamation seines messianischen Leidens, seiner Passion als Gerechter (Mt 17,22; Mk 8,31; Lk 23,47), seiner Auferstehung. Denn die einzig unverwechselbare messianische Kraft, die einen neuen Menschen, eine neue Schöpfung heraufführt, ist die Liebe, die den Tod besiegt. Um den Weg dorthin gehen zu können, gebot er seinen Anhänger, dass sie ihn nicht vorzeitig offenbar machen (Mt 12,16). Andererseits bedeutet ihnen Jesus mit dem Hinweis auf Jesaja, dass sein und ihr Fluchtweg zum bewussten Weg in die Völkerwelt wird, um von dorther die Erfüllung aller prophetischen Verheißungen für Israel zu anzubahnen. So sendet er als Auferstandener seine Jünger von Galiläa aus, wohin er wiederholt sich flüchten musste, zu den Heidenvölkern. Jesus hat seine Verdrängung außer Landes als seinen messianischen Leidensweg angenommen und aus seiner Ablehnung in Israel einen neuen Weg der Befreiung für Israel gemacht. Der neue Weg führt über die Ausrufung und Lehre der Gerechtigkeit unter den Heiden (Mt 12,18; 28,20), die eine Israel freundlich gesonnene Völkerwelt erschaffen wird. Die Befreiung Israels wird geschehen durch die Völker, die im Geist Jesu zu Gerechtigkeit und Frieden befreit sind. Darin wird er sich als der Messias Israels erweisen.

Die Schriftstelle aus dem Prophetenbuch Jesaja ruft beide Aspekte der alttestamentlichen Verheißungen wach, ihren Weg, die Herstellung des alle Völker umfassenden Schaloms, er wird den Heiden das Recht verkünden, und ihr Ziel, die Wiederherstellung Israels, ein geknicktes Rohr wird er nicht zerbrechen. Diese Umkehrung von Weg und Ziel gegenüber dem Alten Testament, ist das Neue, das Jesus durch seinen Leidensweg eröffnet hat.

Anmerkungen:
1.) E. Schweizer, das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1973, S. 180
2.) E. Spier, Der Sabbat, Institut Kirche und Judentum, Berlin 1992, S. 26
3.) Das Wollen Gottes bezieht sich nach rabbinischer Auslegung auf die Befolgung der Gebote, die Opfer sind lediglich zugelassen. Tatsächlich geht die Opferpraxis im AT nicht auf eine göttliche Weisung zurück, sondern wird 3Mos 1,2 wie folgt eingeleitet:: Wenn jemand von euch dem Herrn eine Opfergabe darbringen will…
4.) Wir vermuten, es ging Jesus um eine Sinnebene der Schriftauslegung, die nach der späteren Lehre vom vierfachen Schriftsinn dem prophetischen Sinn vergleichbar wäre, während die Pharisäer auf der Ebene der Weisung argumentieren. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn unterscheidet Chronik (Pschat), Weisheit (Remes), Weisung (Drasch), Prophetie (Sod). Wir ziehen es vor, in unserem Kontext nicht von der prophetischen, sonder von der messianischen Sinnebene zu sprechen.
5.) „Die Möglichkeit einer Lebensgefahr verdrängt den Sabbat“ (Joma 84b, 85b)
6.) E. Levinas, Jenseits des Buchstabens,  Frankfurt 1982, S. 28f
7.) „Die Heilung der Hand des Kranken wird mit einem Ausdruck geschildert („wiederherstellen“), der sonst dazu dient, die Erneuerung der Welt im messianischen Zeitalter deutlich zu machen (vgl. Mk 9,12; Mt 17,11; Apg 1,6; 3,21). So spürt man in unserer Geschichte den Atem einer neuen Welt. Der Sabbat wird zum Hinweis auf den ewigen Sabbat Gottes der kommen wird.“ (G. Dehn, Jesus Christus, Gottes Sohn, Berlin 1940, S. 73f)

 

Diesem Aufsatz liegen die folgenden ekklesiologischen Thesen zugrunde:

Die Kirche Jesu Christi ist als sein Leib in sein heilsgeschichtliches Befreiungswerk als Menschensohn eingesetzt.

Sie ist zur Nachfolge in sein messianisches Werk berufen: zur Verkündigung des Rechtes unter den Völkern (Mt 12,18; Jes 42,1), um auf diesem Weg Israel aus der Hand seiner Feinde zu befreien (Lk 1,71) und wieder aufzurichten ((Mt 12,19; Jes 42,2).

Sie ist Gottes Werkzeug, um seine Verheißung der Barmherzigkeit für Israel im alle Völker einbeziehenden Horizont des Segens mit Abrahams Namen (1Mos 12,3) ihrer geschichtlichen Erfüllung entgegenzuführen (Lk 1,54f; 72f).

Der Weg dahin ist die Verkündigung der Gerechtigkeit der Tora unter den Heiden, um aus ihnen eine Gemeinde zu erwecken, die ihre geschichtliche Berufung darin erkennt, Israel aufzurichten, von der Bedrückung durch seine Bedränger zu befreien, indem sie den Gott Israels als König der Welt lobt (Röm 15,11; Ps 117,1), damit schließlich Israel von aller Welt als Gottes Volk gepriesen wird: Preiset, ihr Heiden, sein Volk (Röm 15,11; 5Mos 32,43; Lk 2,32)

Klaus-Peter Lehmann

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