Der Papst und die Juden
von Friedhelm Pieper

Über den Tiber

Die Entfernung vom Vatikan zur Synagoge von Rom etwas flussabwärts auf der anderen Seite des Tibers ist nicht sehr groß. „Aber es dauerte zweitausend Jahre, sie zu überwinden“, sagte  der ehemalige Oberrabbiner Roms Prof. Elio Toaff am 13. April 1986 bei dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in der römischen Synagoge. An diesem Tag betrat zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche überhaupt ein Papst ein jüdisches Gotteshaus und nahm an einem jüdischen Gottesdienst teil. Der Empfang war herzlich und Papst Johannes Paul II. sagte unter großem Beifall der Anwesenden: „Ihr seid unsere Lieblingsbrüder und – in gewisser Hinsicht kann man sagen – Ihr seid unsere älteren Brüder“.

Der historische Besuch der Synagoge von Rom war ein weiterer Schritt der Annäherung des Vatikans an das Judentum nach der bahnbrechenden Veränderung im katholisch-jüdischen Verhältnis durch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Nostra Aetate“ vom 28. Oktober 1965.

Inzwischen, insbesondere seit dem Beginn des Pontifikats von Benedikt XVI., sind neue Hürden auf dem Weg zwischen dem Petersdom und der Synagoge aufgetaucht. Es gab heftige Irritationen; die Frage wurde aufgeworfen, ob die gebauten Brücken zwischen dem Vatikan und dem Judentum einsturzgefährdet sind oder vielleicht sogar schon in Trümmern liegen.

„Quo vadis, Benedicte?“, fragt der katholische Neutestamentler Hubert Frankemölle, in einem Artikel mit dem gleichnamigen Titel. Und insbesondere mit Blick auf die katholisch-jüdischen Beziehungen stellt Frankemölle diese Frage:„Quo vadis, Benedicte, bzw. wohin führst Du die römisch-‚katholische‘ Kirche?“  So blicken auch viele andere fragend nach Rom, insbesondere diejenigen, die sich im christlich-jüdischen Dialog engagieren, Juden und Christen. Was wird aus dem Weg zwischen dem Petersdom und der Synagoge im Laufe des Pontifikats von Benedikt XVI.?

Wie ist es zu verstehen, dass trotz vieler Erklärungen und Gesten von Benedikt XVI., die ein erkennbares aufrechtes Bemühen um die Förderung und Weiterentwicklung der katholisch-jüdischen Beziehungen zeigen, zugleich Worte und Handlungen des Papstes das Verhältnis des Vatikans zum Judentum in jüngster Zeit schweren Zerreißproben ausgesetzt haben? Dieser Frage wollen wir hier nachgehen, um die offensichtliche Störanfälligkeit der katholisch-jüdischen Beziehungen besser zu verstehen. Das wird nicht ohne Seitenblick auf die protestantisch-jüdischen Beziehungen gehen, die ebenfalls nicht frei von Irritationen sind.

Gesten der Annäherung

Wenige Monate nach seiner Wahl im April 2005 besuchte Benedikt XVI. während des katholischen Weltjugendtages die Synagoge in Köln, das heutige Gotteshaus der ältesten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen. Es war der erste Besuch eines Papstes in einer Synagoge in Deutschland, eine Geste der Wertschätzung. Das Oberhaupt der katholischen Kirche versprach vor der jüdischen Gemeinde und ihren vielen prominenten Gästen: „Auch bei dieser Gelegenheit möchte ich versichern, dass ich beabsichtige, den Weg zur Verbesserung der Beziehungen und der Freundschaft mit dem jüdischen Volk, auf dem Papst Johannes Paul II. entscheidende Schritte getan hat, weiterzuführen“. Benedikt XVI. erinnerte an die Leiden des jüdischen Volkes während der Schoah, an die Millionen jüdischer Opfer der NS-Verbrechen im sogenannten „Dritten Reich“. Dabei betonte er die Aufgabe der Kirche, sich gegen jede Form von Antisemitismus zu wenden.

Das Kölner Versprechen wurde von einer weiteren viel beachteten Geste unterstrichen: dem Besuch des Papstes im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz in 2006, bei dem er sagte: "An diesem Ort des Grauens, einer Anhäufung von Verbrechen gegen Gott und den Menschen ohne Parallele in der Geschichte, zu sprechen ist fast unmöglich - ist besonders schwer und bedrückend für einen Christen, einen Papst, der aus Deutschland kommt."

Es waren Worte und Gesten wie diese, die in der jüdischen Gemeinschaft das Vertrauen darin stärkten, dass auch unter Benedikt XVI. die katholisch-jüdischen Beziehungen weiter gefestigt und verbessert werden.

In seiner Würdigung des päpstlichen Engagements für die Förderung des Verhältnisses zum Judentum erinnert Rabbiner David Rosen, der Präsident des „Internationalen jüdischen Komitees für Interreligiöse Gespräche“ (International Jewish Committee on Interreligious Consultations, IJCIC), über die bereits genannten Gesten hinaus daran, dass Benedikt XVI. als erster Papst Vertreter des Judentums nicht nur zur Trauerfeier für seinen Vorgänger einlud, sondern auch zu seiner eigenen Amtseinführung. Er habe sich ebenfalls als Kardinal entscheidend für die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Israel eingesetzt und später als Papst bereits mehrfach jüdische Delegationen zu Gesprächen im Vatikan empfangen. Auch der Besuch in Israel im Mai 2009 wird von Rabbiner Rosen als höchst bedeutsam und von nachhaltiger Wirkung eingeschätzt.

Und dennoch konnte all das geschehen, was in jüngster Zeit als schwere Rückschläge für das katholisch-jüdische Verhältnis erfahren wurde und etliche jüdische Dialogpartner zu der Reaktion veranlasste, ihre Beteiligung am christlich-jüdischen Gespräch vorerst auszusetzen.

Weltweite Irritationen

Die von Papst Benedikt XVI. 2008 eingeführte neue Karfreitagsbitte für die in 2007 durch das päpstliche Motu proprio „Summorum pontificium“ wiederzugelassene lateinische Messe in der katholischen Kirche muss als ein Rückfall hinter den erreichten Stand des Dialogs angesehen werden. Der im „ordentlichen“ Ritus vorhandene Hinweis auf den „Bund“ und damit auf die eigenständige jüdische Gottesbeziehung entfällt in der lateinischen Form und mit der Bitte auf „Erleuchtung“ der Juden wird das Judentum wieder als eine defizitäre Religion vorgestellt. Erneut wird nun der Karfreitag zu einem Tag, an dem jüdisches Selbstverständnis nicht geachtet wird. Ein Tag, an dem eine Bitte gesprochen wird, die die christliche Mission an Juden nahelegt. Ausgerechnet der Karfreitag, der für die jüdische Gemeinschaft voller Erinnerung an vergangene Verfolgungen steckt. Die hier entstandene und sich nun jährlich in der Passionszeit wiederholende Irritation kann auf Dauer nur durch eine Revision dieser von Benedikt XVI. neu eingeführten Karfreitagsbitte überwunden werden.

Am 21. Januar 2009 hob der Papst die Exkommunikation von vier Bischöfen der Piusbruderschaft auf, ohne dass diese ihre Fundamentalkritik an Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils  aufgaben. In den Veröffentlichungen der Piusbrüder wird entsprechend – entgegen „Nostra Aetate“ - weiter die traditionelle kirchliche Enterbungslehre vertreten, wonach die Kirche das Judentum als Volk Gottes ersetzt habe und nun unter dem ausdrücklichen Auftrag stehe, Juden zum christlichen Glauben zu bekehren.

Dass einer dieser  - weiterhin suspendierten  - Bischöfe, Richard Williamson, den Holocaust leugnet, zeigt nur ein weiteres Mal, wie sehr traditioneller kirchlicher Antijudaismus eine verheerende Blindheit gegenüber dem modernen Antisemitismus erzeugt. Zwar hat Benedikt XVI. wiederholt deutlich gegen jede Leugnung des Holocaust Stellung bezogen, doch erst nach massiver internationaler Kritik wurde Williamson vom Vatikan aufgefordert, seine unerträglichen Stellungnahmen zur Schoah zurückzunehmen. Dies hat er bis heute nicht getan.

Diese Vorgänge lassen in der Tat irritiert und fragend nach Rom schauen. Was geschieht da im Vatikan?  Reicht es in dieser Situation nur auf inzwischen vom Vatikan eingeräumte interne Fehler insbesondere im Fall Williamson zu verweisen? Wenn ich richtig sehe, dann zeigt sich auch im Vatikan und auch in der Theologie Benedikts XVI. eine Problematik, auf die der christlich-jüdische Dialog auch in anderen Kirchen stößt.

Theologische Perspektiven von Benedikt XVI.

Hubert Frankemölle charakterisiert in dem bereits benannten Aufsatz die Theologie von Benedikt XVI. als „neuscholastisch“. Sie ziele „auf eine Integration von Jahrhunderten früherer Theologie oder genauer: auf die Fixierung des heutigen und zukünftigen Glaubens der lateinischrömisch-katholischen Kirche auf die Hochzeit ihrer griechisch orientierten
Dogmengeschichte im 4.-7. Jh.“. Folgerichtig ergibt sich von daher eine kritische Distanz zu heute gängigen geschichtstheologischen Perspektiven. Veränderungen theologischer Konzepte aufgrund neuer Einsichten sind in diesem Ansatz nicht vorgesehen. Aufgabe der Theologie wäre danach, die fest stehende kirchliche Tradition genauer zu erläutern und zu vertiefen. So können wir bezeichnenderweise am Anfang der von Benedikt XVI. bestätigten Erklärung der vatikanischen Glaubenskongregation von 2007 „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche“ folgende Feststellung finden:

„1. Frage: Hat das Zweite Vatikanische Konzil die vorhergehende Lehre über die Kirche verändert? Antwort: Das Zweite Vatikanische Konzil wollte diese Lehre nicht verändern und hat sie auch nicht verändert, es wollte sie vielmehr entfalten, vertiefen und ausführlicher darlegen“.

Gibt es keine Veränderungen in dem geschlossenen Korpus der traditionellen katholischen Lehre, dann ist ein Dilemma im christlich-jüdischen Verhältnis unausweichlich. Wie soll das gelingen können: das Verhältnis zum Judentum erneuern und zugleich die kirchliche Lehre unverändert weiterschreiben?

Anhaltende Probleme im christlich-jüdischen Dialog

Das Problem, das sich hier zeigt, begegnet auch in anderen Kirchen. Wir haben heute einen sehr weit reichenden Konsens in den Kirchen darüber, dass Antisemitismus „Sünde gegen Gott und Menschen“ ist, wie bereits 1948 die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen erklärte. Seit dem haben sich viele Kirchen die Bekämpfung und Überwindung antisemitischer Einstellungen zur Aufgabe gemacht und Programme zur Erneuerung ihrer Beziehung zur jüdischen Gemeinschaft in Angriff genommen. Dass der Sinai-Bund als Grundlage einer eigenständigen jüdischen Gottesbeziehung weiterhin Gültigkeit besitzt, wurde als neue Erkenntnis den Texten der Heiligen Schrift entnommen. Diese auch in der Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils festgehaltene Einsicht erfährt heute eine sehr weit reichende Zustimmung über die Konfessionsgrenzen hinweg.

Was aber bedeutet die These von der „bleibenden Erwählung“ des jüdischen Volkes für die Lehren der Kirchen? Man kann nicht auf der einen Seite theologisch begründet den „ungekündigten Bund“ und die „bleibende Erwählung“ anerkennen und auf der andere Seite verdrängen, dass diese theologisch höchst bedeutsamen Einsichten neue Anfragen in der Theologie nach sich ziehen. Wie ist im Angesicht der Fortdauer des Sinai-Bundes nun von der Gotteslehre zu handeln, von der Christologie, der Soteriologie, der Ekklesiologie? Wie sähe denn in Anerkennung der „bleibenden Erwählung“ eine angemessene Karfreitagsbitte aus? Wenn – nach Johannes Paul II. - die Juden die „älteren Brüder“ der Christen sind, wie sollten dann in den christlich-jüdischen Beziehungen die traditionellen Missionskonzepte unverändert bleiben können? Die aktuellen Debatten über die Judenmission in Deutschland zeigen in welche Widersprüche man sich begibt, wenn in der Missionstheologie die  Konsequenzen der These vom „ungekündigten Bund“ nicht bedacht werden.

Ähnliche Fragen ergeben sich nun allerdings auch im Kontext der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auch hier konnte es geschehen, dass die Kammer für Theologie der EKD im Jahre 2003 theologische Leitlinien für das Verhältnis von „Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen“ veröffentlichte, die sich den Entwicklungen und Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs nicht stellen. Die Studien der eigenen Kirche, die EKD Studien „Christen und Juden I – III“, werden zwar in einer Fußnote erwähnt, aber der darin auch für die Landeskirchen der EKD festgestellte Konsens bezüglich der „bleibenden Erwählung“ wird in den das Judentum betreffenden Ausführungen weder aufgenommen noch fruchtbar gemacht - ebenso nicht die Ergebnisse der durch die EKD mitgetragenen europäischen Studie „Kirche und Israel“ der Leuenberger Kirchengemeinschaft (heute: Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa).  Und so gilt auch hier im protestantischen Raum, dass die eine Hand der Kirche nicht wahrnimmt, was die andere tut. In der Folge müssen wir nun auch im Bereich einiger evangelischer Landeskirchen ein Wiederaufflammen der Diskussion um die Judenmission erleben.

Die vor uns liegende Herausforderung

Nach 60 Jahren der Bemühungen um ein neues Verhältnis der Kirchen zum Judentum, ist es an der Zeit, dass wir über die bloßen Beteuerungen herauskommen, dem Judentum in Respekt und guter Nachbarschaft begegnen zu wollen. Es ist an der Zeit, uns auch theologisch auf den von Papst Benedikt XVI. 2005 in Köln benannten „Weg zur Verbesserung der Beziehungen und der Freundschaft mit dem jüdischen Volk“ zu begeben. Es ist an der Zeit, die weitreichende theologische Herausforderung anzunehmen, das im Sinai-Bund gründende eigenständige jüdische Gottesverhältnis wirklich wahrzunehmen und anzuerkennen. Und es ist an der Zeit, diese Einsicht in der Reflektion und Weiterentwicklung der theologischen Forschung und Lehre im Blick zu behalten. Nur wenn diese Herausforderung angenommen wird, können künftige Störungen und Irritationen im christlich-jüdischen Verhältnis verhindert werden. Sowohl in der weltweiten Ökumene der Kirchen als auch – mit allem Respekt – in zukünftigen theologischen Erklärungen und Verlautbarungen von Papst Benedikt XVI.

 

Verwendete Literatur
Hubert Frankemölle, Quo vadis, Benedicte? Theologische Prinzipien des Papstes und ihre kirchlichen Folgen, in: Compass-Infodienst. Online-Extra Nr. 57 vom September 2007.
Friedhelm Pieper, Von Asymmetrie zu Komplementarität, Der Wandel im christlich-jüdischen Dialog, in: Ökumenische Rundschau 2008, 57. Jg. Heft 4, S. 413ff
Rabbi David Rosen, Pope Benedict XVI and the Jews, Jerusalem Post, March 30, 2009
Internetseiten des Vatikans: http://www.vatican.va

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email