Opferkult und Antijudaismus
von Klaus-Peter Lehmann

Opferkult und Mythos

Das rituelle Opfer gilt als urtümliche, typisch religiöse Handlung. Religionsgeschichtliche Vergleiche führen zu übereinstimmenden Ideen, auf denen zeremonielle Opfer sich gründen. Die Opferhandlung beschwört magische Mächte, die die Gemeinschaft der Opfernden von gefahrvollen Einflüssen befreit und sie durch Teilhabe an göttlichen Kräften erneuert. Dieser Gedanke liegt gemeinsamen Mahlzeiten von Göttern und Menschen zugrunde (antikes Griechentum), er kann in einem Weltentstehungsmythos Form annehmen (altes Indien) oder als beides (Azteken). Bündig erzählt der babylonische Mythos, warum die Götter die Menschen erschufen. Damit sie sich von ihren Opfern ernähren können. Als Gegenleistung sorgen sie für den Bestand der Welt.
Die vielfachen Anweisungen des Alten Testamentes bzgl. des Opferkultes (3Mose 1-7) und die wiederholte Kritik der Propheten an der Opferpraxis in Israel haben in der christlichen Theologie zu der Auffassung geführt, das Judentum sei eine Übergangsreligion. Erst das Christentum habe das Opfer überwunden. Allerdings gibt es auch Stimmen, die das mit dem Hinweis auf den Tod Christi als Sühnopfer für die Sünden in Frage stellen.

Rabbinische Tradition: Primat der Ethik

Die biblisch-jüdische Tradition versteht ihren Opferkult anders. Rabbinische Auslegung hatte immer darauf hingewiesen, dass Altarspenden im Unterschied zum gerechten Sozialverhalten kein Gottesgebot vorausgeht. Denn nicht auf Opfern, sondern auf Gerechtigkeit beruht die Welt (Ps 82). Die umfänglichen Anweisungen des dritten Mosesbuches beziehen sich auf freiwillige, private Altargaben, die den Wunsch des Frommen zu opfern nicht unterdrücken, aber begrenzen und auf die Gebote der Tora ausrichten wollen. Nur unwissentlich begangene Sünden bedeckt das biblische Opfer und auch die nur, wenn Reue es begleitet.  (1)  In diesem Zusammenhang versteht sich die Kritik der Propheten an der Opferpraxis. Sie klagen die Unterordnung von Ritus und Kultus unter die soziale Gerechtigkeitsidee der Tora ein.
Ich habe euren Vätern, als ich sie aus dem Lande herausführte, nichts von Brandopfern und Schlachtopfern gesagt noch geboten, sondern dieses Gebot habe ich euch gegeben: Höret auf meine Stimme, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein, und wandelt ganz auf dem Weg, den ich euch gebiete, damit es euch wohlergehe (Jer. 7,22f).
H. Cohen stellt die Frage, ob das prophetische Ansinnen, das Opfer ethisch umzuformen, nicht der beste Weg gewesen sei, eine religiöse Handlung von götzendienerischem Charakter dauerhaft abzuschaffen.  (2)  M. Buber hat in seiner Bibelübersetzung das Wort ‚Opfer’ bewusst vermieden.  (3) 

Das Besondere der Bibel

Im Unterschied zur allgemeinen Religionswelt steht für die Welt der Bibel nicht nur eine Opferhandlung, sondern auch ein Brudermord an Anfang der Kulturgeschichte. Ihr zufolge geht es in der menschlichen Geschichte um die unabweisbare Antwort auf die Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Abel, der aus freien Stücken das Beste darbrachte, ist für die Bibel der Gerechte, der grundlos ermordet wird.  (4)  Die Erzählung steht für ein Urteil über alle Kulturen, die Unrecht rechtfertigen, und deshalb auch für die Verheißung einer gerechten Welt (Hebr 11,4). In der Spur dieser Verheißung verkündet das Neue Testament den Tod des Messias Jesus als die freie Lebenshingabe des ohne Sünde Gerechten. Sein einziger Leidensweg gilt als Sieg über die Leben zerstörende Macht des Todes und weckt deshalb Glaube, Liebe und Hoffnung auf eine von tödlicher Drohung befreite Welt.

Der Sündenbockmechanismus

Dazu passend betont der französische Kulturanthropologe R. Girard den Unterschied zwischen biblischer Tradition und der Welt des Mythos. Seinen Analysen zufolge verschleiern die religiösen Mythen ein anfängliches Menschenopfer, während die Bibel es als Mord entschleiert.
„Am Ursprung eines jeden Mythos steht ein Sündenbockmechanismus, ein Furor der ganzen Gemeinschaft gegen ein beliebiges Opfer“, mit der „von allen gleichermaßen geteilten Vorstellung, dass das Opfer schuldig ist.“ Das Opfer ist stets ein Fremder, der an sozialen Missständen schuldig sein soll. Sein Opfer, seine Ermordung schmiedet die Gesellschaft zusammen. Die Bibel dagegen denunziert „den Mord als Folge des menschlichen Sündenfalls.“ In ihr ist das Opfer (Abel, Jesus) unschuldig: „Das Christentum ist mitnichten die Opferreligion par excellence; es ist im Gegenteil die einzige Religion, die es ausdrücklich ablehnt, ihre Offenbarung auf den Sündenbockmechanismus zu gründen.“  (5)

Die Debatte um den Monotheismus

Immer wieder werden Stimmen laut, die mit Hinweis auf die blutige Geschichte der biblischen Religionen und die Gewalthaltigkeit biblischer Texte den Monotheismus als die Wurzel blutrünstiger Opfermentalität bezeichnen. Solche Betrachtung rückt die jüdische Religion, obwohl von ihrer Seite systematische Gewaltexzesse nicht bekannt sind, als Urheber des angeblich diktatorischen Monotheismus ins Zwielicht. Moses habe als erster die Unterscheidung von wahrer und falscher Religion, von Gott und Götzen, eingeführt. Das sei die religiöse Ursünde. So gerinnt das Alte Testament zum Urbild religiös-diktatorischer Gewalt.
Übersehen wird hier, dass die biblische Gottesidee ethisch geprägt ist. In ihr ist die Befreiung der hebräischen Sklaven zur Quelle der göttlichen Gerechtigkeitsforderungen geworden. Weil alle Menschen einen gnädigen Schöpfer haben, sind sie zur Brüderlichkeit bestimmt: Hat nicht ein Gott uns alle geschaffen? Warum handeln wir dann treulos, jeglicher gegen seinen Bruder? (Mal 2,10). Deshalb stehen neben dem Judentum (Zionismus) Bewegungen, die für Befreiung und Menschenrechte kämpfen, in der Nachfolge des biblischen Gottes, der sein Volk aus der Sklaverei befreite (amerikanische Bürgerrechtsbewegung).

Opferreligion und Antisemitismus

Unter dem Horizont der Bibel sind Judentum und Christentum Religionen, die das Opfer ablehnen,  (6)  einen Opferkult nicht benötigen und von ihrem Wesen her jede Opferung eines Menschen auch aus politischen oder militärischen Gründen als Sünde betrachten.  (7)  Trotzdem hat auf christlicher Seite der Opfergedanke immer wieder bestimmenden Einfluss genommen.
In der katholischen Theologie gilt der Vollzug der Messe bis heute als Messopfer, als die unblutige Wiederholung des Opfers Christi. In den evangelischen Kirchen gibt es verschiedene Stimmen, die Christi Kreuzestod vornehmlich als Sühneopfer deuten, das gebracht werden musste, um Gott versöhnlich zu stimmen.
 (Die christliche Sühnopfertheologie beruht auf einem kapitalen Übersetzungsfehler ihrer zentralen Bezugsstelle (Röm 3,25). Für das entscheidende griechische Wort ἱλαστήριον = Deckel der Bundeslade (hebr.: כַפֺּרֶת ), das sonst mit ‚Deckel’ oder ‚Gnadenthron’ wiedergegeben wird, steht nur hier ‚Sühnopfer’. Gemeint die goldene Deckplatte auf dem Toraschrein im Heiligtum Israels, dem Zelt der Begegnung. Von ihr her spricht Gott zu Moses (2Mose 25,21). Christus ist nicht Sühnopfer, sondern gnädige Begegnungsstätte der nichtjüdischen Völker mit dem Tora-Wort des Gottes Israels.)
Außerdem belebt jederart christliche Opfertheologie den Antisemitismus. Das umso mehr, da im Christentum das Bewusstsein von Jesu Unschuld im Bild des Opferlamms unauslöschbar ist. Verkoppelt mit dem Opfergedanken fragt dieses Bewusstsein umso nachdrücklicher nach den Schuldigen an seinem Tod. Der Sündenbockmechanismus ist wieder etabliert und mit ihm ein Lektüre des Neuen Testaments, die in den Juden die Schuldigen an Jesu Tod sucht. Eine Kirche der Opferreligion wird zum ewigen Antisemiten. Die geschichtliche Parallelität zwischen Messopfertheologie bzw. Hostienverehrung und Judenverfolgung ist erwiesen. Die Blutspur, die das Christentum mit dem Sühnekreuz in die Geschichte pflügte, bleibt erschütternd.  (8)
Das Neue Testament sieht in der Hingabe Christi ins Leiden nicht den Vollzug eines Opfers, sondern einen Akt der Liebe Gottes, durch den er nichtjüdischen Menschen den Zugang zu seinem gerechten Gnadenwort eröffnet. Das Dogma von der Liebe Gottes zu den Menschen im Leidensweg seines Sohnes ist als Abgrenzung gegen jede Theologie, in der Jesus zum Opfer gemacht wird, zu verstehen. Es schließt den Sündenbockmechanismus aus der kirchlichen Lehre aus.

Opfer im säkularen Zeitalter

Mehrere säkulare Projekte erscheinen wie Fortschreibungen alter Opferreligionen, weil sie mehr oder weniger ausdrücklich Opfer fordern. Dazu gehören die Nation, der Fortschritt und das System gesellschaftlicher Konkurrenz. Mit der Konstituierung moderner Nationalstaaten ging die Ideologisierung des Krieges (Heldentod fürs Vaterland) und die Mithaftung des ganzen Volkes einher (allgemeine Wehrpflicht; Massenvernichtungsmittel als Kriegswaffen) einher.  (9)  Auch wenn der Heroismus angesichts der offenbaren Grauen der modernen Kriegsführung kaum Nährboden mehr findet, das darunterliegende Netz von obrigkeitlichem Gehorsam und sozialer Konkurrenz funktioniert weiterhin. Solange die Idee der Leistungsgesellschaft und das System der Konkurrenz allgemein akzeptiert werden, werden auch die damit verbundenen Opfer des gesellschaftlichen Verdrängungswettbewerbs zwar nicht begeistert, aber resigniert als schicksalhaft und damit quasi als Opfer hingenommen.

Anmerkungen:

(1) J. H. Hertz, Pentateuch und Haftaroth III, Zürich 1984, S. 42ff
(2) H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 204
(3) „Die Begriffe des Opferwesens findet man gewöhnlich durch den allgemeinen Terminus ‚Opfer, opfern’ wiedergegeben… Dadurch ist ein eigentümlich kultisch-theologischer Sachverhalt der Allgemeinheit der Religionsgeschichte gewichen… In Wahrheit gehen fast alle hebräischen Opferbegriffe auf das Verhältnis des Opfernden zu seinem Gott… der Sinn des Opferns ist es nun, darin sich selbst Gott zu nähern“ (M. Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, Beilage zum ersten Band, S. 19). 
(4) Die Gabe der Erstlinge drückt nach jüdischem Verständnis eine ethische Haltung aus. 
(5) R. Girard, Die verkannte Stimme des Realen, Wien 2005, S. 13, 126. An anderer Stelle bezieht Girard das Judentum in dieses Urteil ein.  
(6) Jüdische und christliche Kommentare legen die Erzählung von der „Bindung Isaaks“ (1Mose 22) durchgehend als Abschaffung des Menschenopfers aus. Deshalb ist die christliche Benennung „Opferung Isaaks“ fatal.
(7) Welche Religion hat wie die Bibel die politische Abschaffung der Kriege zum Inhalt ihres Glaubens und Hoffens? (Jes 2,1-5; 11,1-10). Wo haftet wie in der Bibel das Auge so akribisch an den Schwachen als Opfern von Machtpolitik? (2Mose 22,20-25; 2Sam 3,12-16). Wo wird wie in der Tora vor Eintritt in einen Krieg ein Sühneritual vorgeschrieben statt heroische Aufmunterung? (2Mose 30,11-16).      
(8) Zu diesem Abschnitt vgl. H. Foth, Christi Opfertod und der christlich – jüdische Dialog, Blickpunkte 4/2009, S. 9-12 
(9) Auch für die dynastischen Kriege bemerkte Kant, dass dem Herrscher „viele Tausende zu Gebot stehen, sich für eine Sache, die sie nichts angeht aufopfern zu lassen“ (Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe XI, S.209).

 

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