Auf dem Weg zum pluralen neuen deutschen Judentum
von Dieter Graumann

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ändert sich ganz gewaltig – und kaum einer merkt’s. Ihr Gesicht hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch gewandelt – seit so viele jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns gekommen sind. Das Judentum in Deutschland spricht mittlerweile weit überwiegend russisch - und das zu fast 90%!

Das große Thema dieser Zuwanderung und ihrer radikal nachhaltigen Folgen für das Judentum in Deutschland – ist gewiss gewaltig, gewichtig, mächtig, aber natürlich auch ziemlich kompliziert. Was denn auch sonst? Was im jüdischen Leben wäre denn schon jemals einfach gewesen? Aber das Thema ist andererseits auch viel zu wichtig, um sich davor zu drücken. Wie sagt Ernst Bloch: „Wer sich NICHT in Gefahr begibt, kommt darin um.“

Ich selbst glaube jedenfalls fest: Dieser Zuzug ist, alles zusammen genommen, eine echte, eine grandiose Erfolgsstory. Natürlich: Jede Geschichte hat immer auch ihre weniger aufregenden und weniger eindrucksvollen Seiten, ja: sogar auch ihre Schattenseiten. Und: Ob diese ganze Story am Ende wirklich zu einem traumhaft perfekten, geradezu Hollywood-reifen Happy-End führt, sozusagen zu einem „Finale Grande“, kann heute natürlich niemand sicher sagen.

Aber den absolut totalen Erfolg gibt es im wirklichen Leben doch ohnehin nur höchst selten. Allenfalls, und wenn überhaupt, in der Liebe, und sogar und selbst da auch nicht immer für immer.

Und doch: Wenn wir nun Zwischenbilanz ziehen, sehen wir denn doch einen großartigen Erfolg, einen wirklichen Gewinn, persönlich und politisch und menschlich und jüdisch gesehen für alle Beteiligte.

Und gerade aus der Sicht derer, die schon hier waren, ist zu sagen:
Unsere neuen Mitglieder sind für uns alle ein Glück, ein Geschenk, eine Gnade, ein Segen.
Ohne sie wäre unsere Gemeinschaft inzwischen vergreist, verkümmert und fast verwelkt.
Wir wären heute hier längst im Status einer Liquidations-Gemeinschaft und müssten uns womöglich schon bald überlegen, wer denn am Ende das Licht ausschaltet.
Denn: Die neue Zahl schlägt hier rasch in frische Substanz und in neue Zukunft um.
Haben wir so doch überhaupt erst die numerische Basis bekommen, um den Aufbau jüdischen Lebens in Deutschland auf eine ganz neue Ebene katapultieren zu können.
Nur deshalb können wir doch in diesen Jahren eine ganze Serie von neuen jüdischen Gemeinden, von neue jüdischen Zentren und Synagogen bejubeln.

Wir haben so einen frischen, kraftvollen Schub bekommen an Vitalität, an Dynamik, an Substanz, an Zukunft. Unsere neuen Mitglieder haben uns menschlich enorm bereichert und perspektivisch gestärkt. Wir haben sie aber nicht nur gebraucht – nein: wir haben sie auch ausdrücklich gewollt. Gerade deshalb haben wir hier ja auch mächtig und leidenschaftlich darum gekämpft, dass sie kommen konnten und hoffentlich auch noch kommen werden.

Aber gerade auch aus Sicht der nicht-jüdischen Gesellschaft in Deutschland sind die jüdischen Zuwanderer keineswegs eine Belastung, sondern ein großer Gewinn. Juden waren in der ehemaligen Sowjet-Union immer absolute Bildungselite. Mit ihrer tiefen Kultur, ihrem Wissen, ihren besonderen Lebenserfahrungen bereichern die jüdischen Zuwanderer uns alle hier, und ihre Kinder sind oft angetrieben von einem ehrgeizigen Bildungshunger und einer strebsamen Lernbeflissenheit, wie wir sie bei anderen Kindern hier, die oft schon saturierter scheinen, nicht immer ohne weiteres finden.

Und außerdem: Es ist doch nach allem, was war, ein enormes Kompliment, wenn heute wieder jüdische Menschen ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder diesem Land und seinen Menschen hier anvertrauen wollen. Kann es denn überhaupt jemals einen größeren Vertrauensbeweis geben?

Und wenn denn gelegentlich, da und dort auch provozierend, danach gefragt wird, weshalb die neue Mehrheit in unseren Gremien politisch, vor allem in den Spitzenpositionen, noch unter-repräsentiert ist, so kann ich alle beruhigen: Geduld, wartet doch nur noch ein Weilchen. Denn auch hier wird mit Sicherheit das Gesetz der Zahlen zuverlässig wirken, am Ende funktioniert denn doch die kalte Mechanik von Zahl und Mehrheit: Führung braucht Mehrheit, Mehrheit wiederum begründet Führung. Das ist so sicher wie das Amen in der Synagoge.

Inzwischen müssen wir uns aber gemeinsam den Veränderungen und den Herausforderungen, denen wir ausgesetzt sind, auch wirklich stellen - aktiv, offensiv, kreativ und resolut.

Die jüdische Gemeinschaft hier formiert sich ganz neu, sie wächst neu, sie muss auch ganz neu zusammen wachsen. Was wird am Ende entstehen? Eine ganz neue, frische Mischung, sicherlich. Und mehr als das.

Ich glaube, was hier allmählich wächst, das ist: das plurale neue deutsche Judentum der Zukunft. Das ist spannend, das ist eine wundersame Chance, eine gewaltige Herausforderung obendrein – und wir sind sogar schon längst mittendrin.

Dieses Plurale Neue Deutsche Judentum -
es wird bestimmt ganz anders sein als das große deutsche Judentum von früher, das sich so schrecklich deutsch wähnte, das verzweifelt, ja zwanghaft dem immer unerfüllten und immer unerfüllbar gewesenen Traum von deutsch-jüdischer Symbiose nachjagte.
Dieses träumerische, naive - und: gescheiterte -  deutsche Judentum, erfüllt und getragen von der stets einseitig und unerwidert gebliebenen Liebe zu Deutschland, gibt es nicht mehr – und wird es so gewiss nie mehr geben.

Die Stärkung des Judentums in Deutschland muss künftig ganz anders und neu von innen kommen. Es muss seinen eigenen Weg suchen: kreativ, kommunikativ, innovativ, plural und phantasievoll.

Gemeinsam müssen wir uns schwierige Fragen stellen:
Was und wie wollen wir denn überhaupt sein als Juden hierzulande?
Wir müssen hier in Deutschland ganz gewiss nicht das Judentum generell ganz neu erfinden.
Wohl aber müssen wir uns selbst neu finden, uns neu positionieren, uns neu verorten.
Mit Respekt für unsere neue Vielfalt müssen wir uns aufmachen zu einer neuen, gemeinsamen Identitätssuche.

Natürlich bleibt die Bewahrung der Erinnerung an die Shoah für immer unsere gemeinsame Verpflichtung, ja ganz bestimmt auch ein Stück unsere moralische Mission. Und auch die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion werden diese Fackel des Gedenkens ganz sicher weiter tragen: Zwar stammen sie selbst oft nicht, wie wir, aus den sprichwörtlichen „Holocaust-Familien“, sondern haben oft ganz andere, wenn auch gleichfalls dramatische Familienbiografien.

Aber ganz sicher ist: Die Erinnerung an den Holocaust ist inzwischen in das kollektive Gedächtnis und in die gemeinsame Gefühlswelt aller Juden auf der Welt fest eingebrannt – und niemand sollte sich sorgen, oder etwa hoffen, dass dieses Gedenken mit der Zeit verwässert wird.

Wir beobachten vielmehr das genaue Gegenteil: Die Erinnerung wird schwächer, aber das Gedenken wird sogar noch stärker. Das ist eine uralte, starke Tradition und immer wieder intensiv ausgelebte Erfahrung in der langen jüdischen Geschichte.

Freilich:
Das Selbstverständnis der Juden darf sich in Zukunft aber eben doch nicht primär auf Verfolgungsgeschichte und alleine auf den Kampf gegen den Antisemitismus gründen – und schon gar nicht dürfen wir selbst es etwa darauf verengen und begrenzen.

Wir Juden sind eben nicht nur Opfer, und nicht einmal in erster Linie Opfer, sondern vor allem Träger einer außergewöhnlich wertvollen, kostbaren Religion, Tradition, Geschichte, Gedankenwelt und Kultur. Dieses Bewusstsein muss bei allen wachsen, wieder ganz neu wachsen – gerade aber auch erst einmal bei uns selbst.

Shoah und Antisemitismus bleiben natürlich für immer für uns ganz wichtige Themen, ja: absolute Herzenssache. Aber niemals dürfen sie zur ERSATZIDENTITÄT werden – schon gar nicht etwa zur ERSATZRELIGION.

Das Judentum verfügt schließlich über eine eigenständige, außergewöhnliche Stärke. Judentum ist eine religiöse, eine philosophische, eine moralische, eine emotionale, eine spirituelle Kraftquelle. Das müssen wir überall, gerade aber unseren jungen Menschen, vermitteln. Gerade auch den Kindern unserer neuen Mitglieder, die das Judentum dann ihrerseits, andersherum als früher, von sich aus in ihre Familien transportieren. Und es selbst später weitertragen sollen, wie es nun immerhin schon über 100 Generationen von Juden vor uns getan haben.

In einer solchen Zeit der Veränderung muss sich natürlich dann auch irgendwann einmal die politische Vertretung der Juden in Deutschland, der ZENTRALRAT, eines fernen Tages eventuell neu besinnen und die eigene Rolle dann offen und selbstkritisch und frisch überdenken. Dabei wissen wir natürlich selbst ganz genau, dass es hier eine frische Wunsch-Veränderungsperspektive geben muss - irgendwann.

Vom tristen, ewig ungeliebten Dauermahner und vom chronisch brummigen Dauer-Warner zum putzmunteren Antreiber und Impulsgeber,
Phantasie statt Rituale,
weniger sauertöpfische Übellaunigkeit und mehr frischer Einfallsreichtum,
weniger oberlehrerhafte, moralinsaure Besserwisserei und mehr offener, aber durchaus auch kontroverser Dialog,
weniger Empörungsmaschinerie, weniger Empörungsroutine und mehr quicklebendige Kreativität,
entschlossener Einsatz für die gemeinsame jüdische Einheit mit Phantasie und Begeisterung und mit Leidenschaft, gepaart mit glaubwürdigem Respekt für unsere neue Vielfalt und deren Wurzeln,
nicht nur immerzu laut hinaus schreiend, wogegen wir Juden sind, sondern auch einmal endlich: wofür eigentlich,
endlich heraus aus der bleischweren Rolle des Moralwächters, heraus aus der Dauer-Mecker-Ecke und auch aus der so unendlich traurigen Opferrolle überhaupt
und mitten hinein ins bunte Feld von leidenschaftlicher Debatte, von frischer Diskussion, von lebendiger Kultur und dem neugierigen Forschen nach den vielen, wertvollen, positiven Schätzen, die das bunte Judentums auch heute anzubieten hat.

Hier gibt es also für uns selbst Veränderungsbedarf, aber auch die gemeinsame Veränderungsperspektive, die wir alle uns nur wünschen können.

Allerdings: Von Ignatz Bubis haben wir alle aber auch gelernt: Dass wir Juden hierzulande auch gelegentlich den offenen, auch harten Streit, die Kontroverse, den Konflikt in Kauf nehmen und dann aber auch wirklich annehmen müssen: Kämpferisch, resolut, mit Herz und Feuer und Leidenschaft und ohne Furcht. Das ist nicht immer so schrecklich bequem, ein behaglicher, lauwarmer Kuschel-Kurs wäre schon oft viel komfortabler.

Aber wir machen nicht, was wir tun, um Popularitätswettbewerbe zu gewinnen. Wer immer nur lächelt, wird niemals zubeißen können. Und wer niemals zubeißen kann, der wird am Ende auch nicht respektiert. Und ehrliches Engagement tut manchmal eben auch weh – allen Beteiligten. Damit werden wir, und andere, wohl leben müssen.

Wir Juden in Deutschland wollen ganz gewiss keine Krawallmacher sein. Und wir müssen mit Sicherheit auch keine Konflikte suchen. Vielmehr gilt: Die Konflikte suchen und finden uns schon, und das sogar noch viel öfter, als uns das oft lieb wäre.

Wenn wir selbst aber nicht für uns sind – wer soll denn dann überhaupt noch für uns sein? Den couragierten, kämpferischen Einsatz für uns selbst können und dürfen und werden wir niemals einfach an andere delegieren. Wir freuen uns zwar über jeden Freund und jeden Verbündeten von Herzen. Aber die mächtigen Gefühle, die uns bewegen – und das sind als Juden in diesem Land noch immer zu oft zu komplizierte Gefühle – haben eben doch nur wir selbst, sie treiben, sie bewegen, oft quälen sie uns sogar. Und gar nicht so selten beherrschen sie uns noch mehr als wir sie.

Unsere neue Zukunft hier wird und muss natürlich auch die neue Vielfalt im Judentum in Deutschland widerspiegeln: Pluralität ist neue jüdische Normalität. Es wird daher eine ganz bunte, lebendige, frische Mischung sein aus sehr Vielem: aus Deutschem natürlich, aber auch aus Russischen, aus Ukrainischem, Israelischem und Anderem, sie wird orthodox sein und progressiv, konservativ und liberal, traditionell und modern. Egal, jedenfalls- plural. Und : Hauptsache – Jüdisch! Denn jüdisch wird sie sein und jüdisch muss sie sein.

Und die neue Pluralität im Judentum lebt, wie das neue jüdische Leben eben inzwischen plural geworden ist – speziell hier in Deutschland, wo uns die sehr diversen Wurzeln und die wertvollen Traditionen unserer neuen Mitglieder ganz besonders stärken und nun eine frische, neue Zukunft versprechen.

Wir haben von der Pluralität auch überhaupt gar nichts zu befürchten. Außerdem: Wir können ja auch nicht als jüdische Gemeinschaft immer wieder laut und kämpferisch die Pluralität in der gesamten Gesellschaft einfordern – und eben genau diese Pluralität innerhalb unserer eigenen Gemeinschaft dann plötzlich etwa verweigern. Das wäre absolut inkonsequent und unglaubwürdig.

Und Pluralität – statt Uniformität -  ist ja gerade oft ein Zeichen und ein Indikator für die Frische, die Lebendigkeit, die Lebenskraft, die Energie, die Vitalität, die Zukunftsfähigkeit einer Gemeinschaft.

Vielfalt müssen wir nicht etwa ertragen, so wie man einen Schnupfen nun mal erträgt, weil es eben sein muss - nein wir sollten gemeinsam die neue jüdische Vielfalt im Land als kreativ und kraftvoll empfinden und würdigen und schätzen, als ein munteres Schwungrad, das uns alle lebendig hält,  und uns alle enorm bereichert.

Freilich: Was uns verbindet, muss natürlich allemal immer viel stärker als alles, was uns trennen mag. In Würdigung unserer Vielfalt  müssen wir daher auch das Gemeinsame hüten und pflegen und schützen und beschützen. Denn: Die zentrifugalen Kräfte, die uns Juden in Deutschland politisch auseinander treiben, und manchmal auch auseinander treiben wollen, werden stärker. Unsere Gemeinschaft ist viel größer geworden. Aber auch viel heterogener.

Es wird in den nächsten Jahren einer enormen, gewaltigen Kraftanstrengung bedürfen, um die jüdische Gemeinschaft politisch zusammen zu halten. Zusammen halten und zusammen führen ist hier auch allemal mühsamer, aber denn doch so viel wichtiger als bloßes zorniges Zuspitzen.

Wir Juden in Deutschland wollen politisch aber mit einer Stimme sprechen. Wir dürfen uns nicht aufspalten. Wir müssen unsere Kräfte bündeln. Bei uns muss politisch zusammen bleiben, was politisch zusammen gehört. Dann, und nur dann, behalten wir auch unsere politische Kraft. Gemeinsam, als Einheit in der Vielfalt, haben wir alle aber alles zu gewinnen: Die Vielfalt im Sinn und das Gemeinsame im Herzen. Das müssen wir alle verstehen, verinnerlichen und auch vorleben.

Unterdessen stellen wir fest:
Juden können sich in Deutschland inzwischen immer mehr tatsächlich auch heimisch fühlen, allen ärgerlichen Aufregungen und hässlichen Irritationen zum Trotz, wie sie leider immer wieder und denn doch viel zu häufig auftreten - und mit denen ich mich heute einmal gar nicht beschäftigen werde.

Das Gefühl, hier nicht nur Bleibe sondern wirklich Zuhause empfinden zu können, kam für viele von uns selbst häufig überraschend:
Der entscheidende Impuls mag zwar individuell höchst unterschiedlich gewesen sein, aber zur eigenen Verblüffung wuchs in den letzten Jahren die Einsicht bei uns behutsam mehr und mehr:
Wir sind hier doch wieder zuhause.
Und es verbleibt allerdings noch reichlich Raum zum weiteren Anwachsen und zur weiteren Festigung dieses noch höchst frischen und fragilen Gefühls.

Sind wir Juden hier somit jetzt gerade im Übergangs-Stadium, im Zustand des Provisoriums? Nun wissen wir aus der langen jüdischen Geschichte: Selten im Leben gibt es etwas Dauerhafteres als ein Provisorium.

Und unsere besondere Erfahrung sagt uns auch: Wir müssen gelegentlich einiges ändern, manchmal sogar auch ein klein wenig uns selbst, gerade um die jüdische Substanz zu bewahren.

Das gilt generell natürlich, aber auch im sehr Speziellen, zum Beispiel auch für den ZENTRALRAT, über den in diesen Wochen doch so häufig und auch so heftig geschrieben wurde. Denn: Auch den Zentralrat werden wir am Ende nur bewahren können, nicht: obwohl, sondern INDEM wir ihn gemeinsam entschlossen ein Stück verändern.

Wir Juden in Deutschland sind also kräftig unterwegs und mitten in einem spannenden Wandel.

Wir sind sozusagen doppelt unterwegs: Auf dem Weg zum pluralen neuen deutschen Judentum – und zugleich schon seit einiger Zeit im Transit auf dem Weg zur vielfach beschworenen Normalität.

Freilich: Eine Sache ist, allem ungeduldigen Drängen zum Trotz, ganz bestimmt noch nicht normal, wenn ständig hektisch und nervös danach gefragt wird, ob sie denn normal sei. Eine verordnete Normalität wird es jedenfalls bestimmt niemals geben. Wenn man nicht mehr nach ihr fragte, nie mehr nach ihr fragen müsste – dann, ja dann erst wäre sie wirklich erreicht. So weit sind wir aber denn doch noch nicht. Denn: Nach den schweren Brüchen, den schmerzhaften Verletzungen, die noch so lange schmerzen werden, dem Menschheitsverbrechen schlechthin wird es noch dauern und muss es sogar noch dauern – alles andere wäre gerade un-normal.

Das Judentum der Zukunft hier wird jedenfalls geprägt sein von sehr viel mehr bunter, munterer , frischer Pluralität nach innen und von neuer, stetig anwachsender Normalität im Verhältnis zur nicht-jüdischen Gesellschaft in Deutschland. Es wird also sein: Pluraler und normaler.

Diese Veränderung erreichen wir gewiss nicht auf einen Schlag oder an einem womöglich sogar präzise zu bestimmenden Datum. Auf einen festen Fahrplan mit fixen Ankunftszeiten werden alle peniblen - soll man sagen: typisch deutsch-pedantischen? - Ordnungsfanatiker leider verzichten müssen. Es ist auch mehr ein ganz gleitender Übergang - kein paukenschlagmäßig einsetzendes "fortissimo", vielmehr ein ziemlich sachtes, feines "glissando".

Die frische Etappe auf der langen, so dramatisch windungsreichen und schicksalsträchtigen Reise des Judentums in Deutschland hat daher doch schon längst begonnen. Gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit – und allen düsteren Ereignissen um den 9. November 1938 und dem noch viel Schlimmeren, was dann erst noch folgte, zum Trotz - gibt sie uns nun begründete Hoffnung auf eine erneuerte Zukunft. Diese neue Zukunft wird nun freilich nicht einfach blind über uns hereinbrechen. Sie wird vielmehr am Ende genau das sein, was wir selbst nun gemeinsam aus ihr machen werden.

Dieter Graumann ist Vizepräsident des Zentralrates der Juden. Er hielt diese Rede anläßlich der Gedenkstunde zum 9. November 2009 in der Paulskirche in Frankfurt am Main

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