Sichtbare und weniger sichtbare Spuren – siebzig Jahre nach Kriegsbeginn.
von Salomon Korn

Seit dem Tod meiner Mutter im Dezember 2008 gehe ich frühmorgens in die Synagoge, um dort das Kaddisch der Trauernden zu sagen. Auf meinem Weg fielen mir zunächst schöne Altbauten beidseits der Straße auf. Noch vor einigen Monaten hatte ich im Vorbeifahren deren Detailreichtum nie wahrgenommen. Je öfter ich an ihnen vorüberging und je häufiger ich hinsah, desto schärfer wurde meine Wahrnehmung. Schließlich erblickte ich Fassaden, die dem dahinterliegenden Baukörper kulissenhaft vorgeblendet sind und hinter denen sich unansehnliche Nachkriegsbauten verbergen. Was zu Beginn meiner morgendlichen Spaziergänge harmonische Straßenbilder zu sein schienen, verwandelte sich bei genauerem Hinsehen in Spuren, die der letzte Weltkrieg in Frankfurt hinterlassen hat.

Sein Beginn liegt nun siebzig Jahre zurück. Und dennoch kann wer will,  dessen Langzeitfolgen hinter der Geschäftigkeit des Alltags an vielen Stellen noch heute wahrnehmen: die sichtbaren und weniger sichtbaren Spuren des von Deutschland einst ausgegangenen Zweiten Weltkriegs.

Auf meinem täglichen Weg zur Synagoge fallen mir vor dem einen und anderen Altbau sogenannte „Stolpersteine“ im Bürgersteig auf. Darauf sind Namen jener Frankfurter Bürger und Bürgerinnen jüdischen Glaubens verzeichnet, die bis zu ihrer Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager hier wohnten. Hinter jedem der in den Gehweg eingelassenen metallischen Gedenksteine verbirgt sich eine menschliche Tragödie. Was mag den heutigen Bewohnern durch den Kopf gehen, wenn sie täglich über diese stummen Monumente hinweg das Haus verlassen oder betreten. Rückt dann die sich hier einst abgespielte, auf den „Stolpersteinen“ nur angedeutete Geschichte ihnen buchstäblich auf den Leib? Oder werden diese Menetekel in der Alltagsroutine kaum noch wahrgenommen?

Sichtbare und weniger sichtbare Spuren – siebzig Jahre nach Kriegsbeginn.

Für die deutschen Juden begann dieser Krieg 1933 und erreichte einen ersten Höhepunkt am 9. und 10. November 1938. Mit der Zerstörung von über 1400 Synagogen während und nach der „Reichskristallnacht“ verschwand eine deutsche Baugattung nahezu vollständig aus dem Bewusstsein der Deutschen. Die Schuldigen wurden nie bestraft.

Das 1949 verabschiedete erste Straffreiheitsgesetz für Verbrechen unter dem Nationalsozialismus erging vor allem zugunsten jener Täter, die während der „Reichskristallnacht“ Verbrechen begangen hatten. Unmittelbar nach dem Novemberpogrom war – mit Ausnahme jener, die „Rassenschande“ wegen Vergewaltigungen jüdischer Frauen begangen hatten – kein Täter der „Reichskristallnacht“ zur Rechenschaft gezogen worden. Und nach dem Amnestiegesetz von 1949 blieb ein Großteil der während des 9. und 10. November 1938 begangenen Verbrechen ungesühnt. Mitte der fünfziger Jahre musste fast niemand mehr befürchten, wegen seiner NS-Vergangenheit angeklagt zu werden.

Während zahlreiche Nationalsozialisten über die Amnestiegesetze von 1949, 1951 und das Straffreiheitsgesetz von 1954 wieder zu Amt und Würden kamen und ihre großzügig bemessenen Pensionsansprüche erhielten, machten viele überlebende Opfer bei Beantragung von Wiedergutmachungs- und Entschädigungsansprüchen bittere Erfahrungen: Derselbe Finanzbeamte, welcher vor 1945 die finanzielle Ausplünderung organisiert hatte, trat nun als scheinbar neutraler Sachverständiger in den „Wiedergutmachungs“-Verfahren auf; dasselbe Personal, das einst die „Arisierung“ jüdischen Vermögens und jüdischer Wertsachen im Auftrag des nationalsozialistischen Staates durchgeführt hatte, verzögerte, verschleppte und sabotierte jetzt die materielle „Wiedergutmachung“ an den Opfern des Nationalsozialismus.

Ein Unrechtsbewusstsein im Hinblick auf die „Arisierung“ und millionenfache Ausplünderung  jüdischer Nachbarn war bei der großen Schar der Schnäppchenjäger, Profiteure und „Ariseure“ nicht vorhanden, zumal die „Ariseure“ weder von Gesetzes wegen kriminalisiert noch gesellschaftlich geächtet waren – und es bis heute nicht sind.

Sichtbare und weniger sichtbare Spuren des Krieges: weniger sichtbar, ja, oft unsichtbar für die noch lebenden einstigen Profiteure und deren Nachkommen, schmerzlich sichtbar für die überlebenden Opfer und deren Nachkommen, mit allen daraus entstandenen, transgenerationell wirksam gebliebenen seelischen Folgen.

Ich war elf Jahre alt, als ich an jenem Sommertag des Jahres 1954 in den Keller unseres Hauses im Frankfurter Westend hinabstieg. Eine Kiste mit Büchern weckte mein Interesse. Ich wühlte darin herum, bis ich ein Buch aufschlug, dessen Bilder mich auf abstoßende Weise anzogen: Ausgemergelte Gestalten in längsgestreiften Anzügen und Mützen schoben Leichen auf fahrbaren Gestellen. Männer hatten mit überlangen Zangen Skelette gepackt, die sie hinter sich herzogen. Vor Verbrennungsöfen standen Häftlinge: aus dem Buch heraus starrten sie mich an. Was fraß sich damals in die schutzlose Kinderseele?

Später habe ich gehört und gelesen, dass nicht nur Nachfahren der überlebenden Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen mit Traumata kämpfen müssen. Auch Erfahrungen in „Täterfamilien“ hatten in Kindern pathogene Spuren hinterlassen. Es hat in Deutschland einer nahezu fünf Jahrzehnte dauernden „Latenzzeit des Schweigens“ bedurft, bis über dieses unter dem Verdacht der Schuldaufrechnung stehende Thema angstfrei gesprochen werden konnte.

Von einigen meiner nichtjüdischen Freunde hatte ich erfahren: ihre Väter waren als Soldaten und Offiziere überzeugte Nationalsozialisten gewesen. Unserer Freundschaft tat dies keinen Abbruch – im Gegenteil: Ihre kritische Distanz zur Vergangenheit der eigenen Familie und ein rationaler  Umgang damit ist einer der Gründe für unsere Freundschaft. Daraus erwachsene seelische Schäden habe ich bei ihnen nie wahrgenommen – vermutlich wegen ihres aufrichtigen Zugangs zur eigenen Familiengeschichte. Gegenteiliges habe ich vor einigen Jahren bei einer etwa fünfzigjährigen Frau erlebt. Während eines Abendessens in kleinem Kreis erzählte sie von ihrem Vater, einem hohen, einflussreichen SS-Offizier. Seine Vergangenheit hatte er ihr gegenüber hinter eisigem Schweigen verborgen. Auch nach einer 15jährigen, immer noch fortdauernden Psychotherapie – so schilderte sie uns in sympathischer Offenheit – hielt ihre psychische Deformation an, sei es ihr nicht gelungen, aus dem kalten Schatten des übermächtigen Vaters herauszutreten.

Die meist verdrängten Spuren des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens in den Seelen von Nachkommen der Opfer, Profiteure und Täter – siebzig Jahre nach Kriegsbeginn.

In der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg sind auf knapp 1,7 Millionen Karteikarten Täter, Tatorte und Zeugen verzeichnet. Gegen 106.000 Beschuldigte ist wegen NS-Verbrechen ermittelt worden, aber es gab nur 6.498 Urteile. Die Fahnder von Ludwigsburg sammeln sämtliches Material über nationalsozialistische Gräueltaten und bemühen sich, mutmaßliche Verbrecher ausfindig zu machen. Sind die Vorermittlungen abgeschlossen, wird das zusammengetragene Beweismaterial an die zuständige Staatsanwaltschaft geleitet. So auch jüngst im Fall von Iwan „John“ Demjanjuk. Im Juli 2009 wurde er wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen in München angeklagt.

Der in Kürze anstehende Prozess gegen den fast 90-jährigen Demjanjuk hinterlässt bereits heute einen bitteren Nachgeschmack. Gleichgültig, wie das Verfahren gegen ihn ausgehen mag: wie die große Mehrheit der Nazi-Verbrecher hatte er ein insgesamt gutes Leben. Die meisten Überlebenden des von Deutschen verübten nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens dagegen leiden bis heute an Traumatisierung, seelischen Schäden und leben nicht zuletzt in materieller Not.

Es gibt zu denken, wenn dem Ukrainer Demjanjuk mit großem Aufwand der Prozess wegen mutmaßlichen Massenmords in Deutschland gemacht wird, Massenmörder, Profiteure und Nazirichter in ihrer Mehrheit nie vor Gericht gestellt wurden.

Siebzig Jahre nach Kriegsende hat die Gerechtigkeit nur schwache Spuren hinterlassen, während  neonazistische Hetze im Internet umso deutlichere hinterlässt .

Dem Jahresbericht von „jugendschutz.net“ zufolge wächst die braune Online-Szene. Das Internet wird immer attraktiver für rechtsextreme Propaganda, weil sich günstig und mit geringem Aufwand viele Menschen, vor allem Jugendliche, erreichen lassen. Seit dem Start der Videoplattform You Tube stellen Nazis zunehmend Videos ins Netz: Hitler-Reden oder indizierte Hass-Musik konnten auf diese Weise für jeden zugänglich gemacht werden. Plattformen finden sich seit geraumer Zeit immer wieder Videos mit rassistischen, antisemitischen oder volksverhetzenden Inhalten. (?)

Die virtuellen Spuren des Antisemitismus im Worldwideweb – 70 Jahre nach Kriegsbeginn.

Deutschland ist eine stabile Demokratie. Undenkbar, dass sich wiederholen könnte, was zwischen 1933 – 1945 im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich geschah. Doch Deutschland ist, gemessen an den meisten seiner westlichen Nachbarn, eine junge Demokratie – eine, in der als Folge einer Geschichte permanenter Krisen und militärischer Niederlagen das Nationalbewusstsein nach wie vor von Fragilität gekennzeichnet ist – der Fahnenpatriotismus, ein häufig beschworener kritischer Patriotismus und Appelle, die in forcierter Vaterlandsliebe münden, sind Belege dafür. Die im Raum stehende Frage lautet daher: wie wird sich angesichts dieses immer noch ungefestigten Nationalbewusstseins die Mehrzahl der Deutschen gegenüber religiösen, ethnischen und nationalen Minderheiten verhalten, wenn in Zukunft die Wirtschafts- und Finanzkrise bedrohlicher werden sollte? Wird dann eine wachsende wirtschaftliche Instabilität Auswirkungen auf die mentale Stabilität der Deutschen und auf ihr bisheriges Demokratiebewusstsein haben? Lassen die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl nicht auf erste Anzeichen von Gleichgültigkeit und politischem Verdruss schließen, wenn es darum geht, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten demokratische Mündigkeit und Verantwortung für das Gemeinwesen zu zeigen?

Siebzig Jahre nach Kriegsbeginn wächst erneut Verunsicherung: Wohin gehen wir?

Wenn ich nach dem täglichen Morgengebet die Synagoge verlasse, führt mein Weg mich zuweilen an dem Haus Liebigstraße 27 b vorbei. In den Gehweg davor sind neun „Stolpersteine“ eingelassen. Mehrere jüdische Familien haben vor dem Krieg oder während der ersten Kriegsjahre in diesem Haus gewohnt, darunter von April 1941 bis zum 18. August 1942 das Ehepaar Elise und Meier Grünbaum. Kurz vor ihrer Deportation versteckten die Grünbaums das Letzte, was ihnen geblieben war, hinter einer Wandverkleidung: Briefe, Dokumente, Fotos und Ausgaben des Jüdischen Nachrichtenblattes. Elise und Meier Grünbaum wurden am 18. August 1942 mit mehr als tausend anderen Juden von der Frankfurter Großmarkthalle aus nach Theresienstadt deportiert und dort am 3. beziehungsweise 22. September 1942 ermordet.

Ende der achtziger Jahre stießen Handwerker bei Sanierungsarbeiten an einem Fenster auf die Schriftstücke. Auf einer undatierten Notiz von Meier Grünbaum, vermutlich aus dem Jahre 1942, heißt es: „Leute, ich bin ja so unglücklich, Ihr wisst gar nicht wie unglücklich ich bin! Ich war doch immer ein rechtschaffener Mann und nun habe ich so ein Leben! Was soll ich noch leben, am besten ich wäre tot. Leute, wo kann ich Rat suchen. Leute, ich bin ja so unglücklich.“

67 Jahre nach der Ermordung des Ehepaares Elise und Meier Grünbaum, 70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und 71 Jahre nach dem 9. November 1938 nehme ich auf meinem morgendlichen Weg zur Synagoge Spuren der „Reichskristallnacht“ und Spuren des Krieges wahr. Gleich jenen schönen Altbaufassaden, die mit den hinter ihnen liegenden unansehnlichen Nachkriegsbauten auf den ersten Blick eine Einheit zu bilden scheinen, sind diese Spuren als Teil unserer täglichen Wahrnehmung weitgehend unsichtbar geworden.

Wer unter der Oberfläche des Alltags sie und ihre Langzeitfolgen dennoch sehen will, kann sie in unmittelbarer Nachbarschaft, im Stadtbild aber auch weit darüber hinaus nach wie vor erkennen.

Ansprache, gehalten am 9. November 2009 in der Westendsynagoge Frankfurt am Main

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