Wer war schuld an Jesu Tod? - Judas
von Klaus-Peter Lehmann

Der Mythos von Judas, dem Verräter

In der populären Vorstellungswelt und im allgemeinen Sprachgebrauch steht der Name Judas klischeehaft für den Inbegriff des Bösen. Als Jünger Jesu, der seinen Herrn den Römern überlieferte, gilt er als Urbild des Verräters, der für Geld alles zu tun bereit ist. Für die Kirche, die Jesus als Gottes Sohn, der mit Gottvater wesenseins sei, lehrt, wurde Judas zum Vollstrecker des Gottesmordes (>Gottesmordlüge), zum Ausbund aller erdenklichen Niedertracht. In dieser antijudaistischen Tradition verschmolz Judas mit dem Judentum. Als seine teuflischen Nachfolger würden die Juden den Gottesmord angeblich durch >Hostienfrevel wiederholen. Bis ins 20. Jahrhundert stand Judas für ‚den Juden’, wie der Volksmund mit Sprachblüten wie ‚Judaskuss’ und ‚Judaslohn’ bezeugt.

In der frühen Kirche formte sich dieses Klischee von Judas. Es durchzieht die Geschichte des Abendlandes. „Alle Söhne der Synagoge sind unter dem Teufel Judas – bis sie neu geboren werden unter Jesus Christus“ (Augustinus, 4./5. Jh.). „Judas, der Teufelsgehilfe, hat seinen verruchten Namen dem ganzen Judenvolk vererbt“ (Papst Gelasius I., 5. Jh.).

Die schlimmsten Höllenqualen muss Judas leiden: „Dem Vordern war viel schlimmer als das Beißen der Krallen Griff, denn oftmals ist der Rücken von seiner ganzen Haut entblößt geblieben. ‚Die Seele, die dabei am meisten leidet, ist Judas, der Verräter’, sprach mein Meister. ‚Der Kopf ist drinnen, die Beine zappeln draußen“ (Dante, Die Göttliche Komödie, 14.Jh.).

„Weil das Judenvolk Jesus nicht als Messias anerkennt, sind sie nicht mehr Nachkommen Abrahams, sondern Mischlinge von Heiden, die ihren Namen von Judas Ischarioth herleiten, dem Verräter des Herrn Christus“ (J. Buxtorf, 17. Jh.).

Populäre Legenden spinnen für Judas einen schaurigen Lebenslauf. Als Mischung aus Kain und Ödipus erschlägt er seinen Bruder und Vater, beschläft seine Mutter und erhängt sich schließlich schriftgemäß (Mt 27,6).

Abscheu und Schadenfreude erregende, drastische Darstellungen von Judas’ Tod finden sich in der Arena-Kapelle von Padua und in der Unterkirche von San Francesco in Assisi. Dem Erhängten hängen, aufs Detail versessen gemalt, seine Gedärme aus dem Leib.

Im Zeitalter des Kapitalismus wandelt sich das Judas-Klischee zur Karikatur des ‚Wucherjuden’ (>Jüdischer Wucher). Er wird zum Anbeter des Mammons, der unersättlich geldgierig mit den Priestern um möglichst viele Silberlinge für seinen Judaslohn schachert. (Alsfelder und Frankfurter Passionsspiele).

In der deutschen Sprache hat sich das Klischee von Judas in Wortprägungen kristallisiert, die für sich sprechen: Judaskuss, ein wahrer Judas, ein Judasbruder, Judaslohn und Judasnatur sind sprichwörtlich. Der Neonazi-Führer M. Röder verhöhnte noch 1978 Dietrich Bonhoeffer als „einen Judas, der sein Vaterland verraten hatte.“

Judas in den Evangelien

Historisch Greifbares gibt es von Judas Ischarioth nur wenig. Sein Name ist eine Gräzisierung des hebräischen Jehudah. Den Beinamen ‚Ischarioth’ deuten viele als Hinweis auf seine frühere Zugehörigkeit zu den ‚Sikkariern’, den ‚Dolchmännern’ (Apg 21,38). So bezeichneten die Römer die Zeloten, die zum Aufstand gegen ihre Besatzung aufriefen. Im Jüngerkreis Jesu war er seinem Herrn besonders nah (Joh 13,26) und führte offenbar die Kasse (Joh 12,6; 13,29). Doch er verriet ihn für 30 Silberlinge an die Behörden in Jerusalem und erwirkte seine Festnahme, die zur Kreuzigung führte. Später erhängte er sich aus Reue (Mt 27,3-10).

Es ist zweifelhaft, ob die Evangelien die des Judas vornehmlich als schändlichen Verrat deuteten. Das griechische Wort (παραδιδόναι) für sie bedeutet in der Hauptsache dahingeben, überliefern, ausliefern. „Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle „dahingegeben / παρέδωκεν / tradidit“ (Röm 8,32). Man könnte sagen, Judas ist Gehilfe bei Gottes Tun.

Für die Schriften des Neuen Testaments steht die Passion Jesu im Erfüllungshorizont aller prophetischen Verheißungen (Apg 3,18) und im Heilsratschluss Gottes (Apg 2,23). Der Evangelist Johannes geht so weit, dass bei ihm Jesus, der gehorsame Sohn Gottes, den Ratschluss des Vaters über sich selber von Judas ausführen lässt. Indem Jesus den Judas zur geplanten Tat ausdrücklich fortschickt (Joh 13,27), setzt er durch ihn die Verherrlichung des Menschensohnes in Gang (Joh 13,31). So sind der leidende Sohn und der für das Heil der Völker handelnde Vater eins. Judas erscheint als unwissentlicher Schrittmacher des göttlichen Heilsplanes. Ist er auch der treue Jünger, der faktisch an Jesu Seite starb, als dieser in den zur Brechung der Sündenmacht notwendigen Tod des Menschensohnes ging (Lk 9,22; 18,31-34)?  (K. Barth, KD II/2, S. 532)

Die Evangelien sehen Judas auch als Verräter (Lk 6,16), auch als vom Satan Besessenen (Joh 13,2.27). Aber die gesellschaftlich-soziale Frage nach der menschlichen Schuld an Jesu Tod bewegt sie offenbar nicht. Sie ist zwar historisch interessant und bedeutsam. Doch hat sie die biblische Ebene der Bezeugung von Gottes geheimnisvollen Wegen zur Erfüllung seiner Verheißungen für Israel und die Völkerwelt verlassen. Denn die biblischen Schriften wollen uns sagen, dass die Anschläge des Bösen gegen Gottes Erlösungshandeln ohnmächtig bleiben. Letztlich muss der Satan ihm dienen.

Dem sog. Judas-Evangelium zufolge besaß Judas eine höhere Einsicht in den göttlichen Heilsplan, aus welcher heraus er seinen Verrat beging. Nach den kanonischen Schriften bedient sich Gott souverän der Unwissenheit aller, um sein Ziel zu erreichen (Jes 55,8; Lk 23,34; Apg 3,17; 17,30)

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