ZU CHRISTUS GERUFEN – VON CHRISTEN VERLASSEN
Zur Geschichte der Christen jüdischer Herkunft

von Martin Stöhr

I
Die verlassenen Kinder der Kirche
U. Büttner und M. Greschat verweisen darauf, dass es im Jahr 1935 der Nürnberger Gesetze, in Deutschland etwa 400 000 Menschen gab, die von den Nürnberger Gesetzen betroffen waren; von jenem verlogenen, wissenschaftlich unhaltbaren, aber mächtigen Sortier-Mechanismus, der Menschen in Herrenmenschen und Untermenschen einteilte. In einem Land, das sich Land der Dichter und Denker nennt, ein Land, in dem Tierschutzvereine schon immer viel mehr Mitglieder als Menschenschutzvereine besitzt, in dem dann auch Menschen, Gottes Ebenbilder, nach Gesichtspunkten der Tierzucht bewertet und „ausgemerzt“ werden konnten. Das Ergebnis ist, dass in Deutschland feinsinnige Intellektuelle wie brutale Schläger auf dem gleichen Niveau eines unmenschlichen Denkens, Wegschauens und Handelns sich zusammenfinden. Leben und Eigentum von Mitmenschen wird vernichtet, weil man sie hinunterdefiniert hatte zu „lebensunwertem Leben“.
Es ist sinnvoll, den Opfern eine Stimme und ein Gesicht zugeben. „Der Mitmensch ist die Frage Gottes an mich“, sagte Martin Niemöller. Und Emanuel Lévinas, der jüdische Philosoph aus Litauen (Kowno), sieht in der schieren Existenz und im Gesicht des Nächsten die Gebote „Liebe deinen Nächsten, er ist wie Du!“ sowie „Töte ihn nicht!“ aufstrahlen, die mich zum Hüter meines Bruders, meiner Schwester machen. Jene Gebote also, die der Gott Israels seinem Volk gab, die die Christenheit von Israel empfing. Man kann nicht sagen, dass sie dieses Erbe ernst nahm.
Oder fanden christliche Lehren vom „Gott der Rache“ in der Hebräischen Bibel, von der Schuld der Juden an der Kreuzigung Jesu, vom Christentum als der Religion der Liebe, von der Verwerfung Israels durch Gott soviel Glauben – bei Frommen und Unfrommen - , dass Hitler (auch ein Produkt einer solchen Erziehung) sich zB in seinen Tischreden sein Programm beschreiben so konnte: Es ging ihm darum, die „jüdische Stimme vom Sinai“ und ihre menschlichen TrägerInnen zu beseitigen. Er hielt das Gewissen für eine jüdische Erfindung. Um gewissenlos handeln zu können, mussten die Empfänger und Träger dieser Erinnerung Gottes Konzept zum Leben und Zusammenleben der Menschen konsequent beseitigt werden.
Wenn es um diesen Ort der Messiaskapelle geht, dann geht es um die Stimmen der Menschen, die sich zB hier versammelten, beteten oder zweifelten, die getauft und trotzdem deportiert wurden, die verschwanden oder überlebten. Sie hofften, dass die Taufe hielt, was von ihr in Kirche und Theologie gelehrt und gepredigt wurde: Sie nehme Menschen in den Schutz und die Gemeinschaft vieler MitchristInnen auf. Fast alle diese Hoffnungen wurden bitter enttäuscht.
II
Ein Ort ambivalenter, konzentrierter Geschichte
Die Opfer, die Überlebenden und ihre Nachkommen haben eine Stimme, mehr ein Mitbestimmungsrecht, wenn es darum geht, ein Gewissen nicht nur zu haben, sondern es auch zu benutzen, wenn es darum geht, jene Menschen nicht zu vergessen, die Nachbarn und Kolleginnen, Mitschüler und Kommilitoninnen neben uns waren. Es fragen uns ihre Gesichter: Adam, Mensch wo bist du? Eine Frage, die nicht nach meinem Aufenthaltost fragt, eine Frage, die nicht im Zynismus der Unzuständigkeit untergehen darf.
Der Ort der Messiaskapelle ist aber auch ein Ort der Menschen, die halfen. Ich erinnere nur an das Büro Grüber und seine HelferInnen. Die Bekennende Kirche (BK) richtete 1938 dieses Rettungsbüro Grüber ein. Es hatte in 24 Grossstädten des Deutschen Reiches schliesslich Büros. Schliesslich war die Bekennende Kirche aus zwei Anlässen staatlicher Gewaltpolitik gegründet worden: Einmal wehrte man sich gegen die Einführung des Arierparagraphen in der Kirche und somit gegen die Grundideologie des „Dritten Reiches“, den Antisemitismus. Zum andern gegen die Übernahme des undemokratischen, staatlichen Führerprinzips in der Kirche. Hier zu widersprechen war für viele Aktivisten der BK keine Selbstverständlichkeit war. Seit den Anfängen der christlichen Kirchen gab es in ihrer Mitte einen christlich-unchristlich sich begründenden Antijudaismus und eineüber Generationen gelernte obrigkeitliche Erziehung. Beides musste in einem langen Lernprozess überwunden werden.
Der Ort der Messiaskapelle ist mit seiner Geschichte ein widersprüchlicher Ort. Jeder Erinnerungsort an Opfer des Nationalsozialismus ist ein Ort, der an unterlassene Hilfeleistungen erinnert. Wir haben in Deutschland keine Gedenkstätten oder Orte, die nur an HeldInnen erinnern. Gerade die tapferen, wenigen NonkonformistInnen, die widersprachen und widerstanden, machen schmerzlich deutlich, dass die Wenigen sterben „mussten“, weil die Vielen abseits standen oder wegsahen.
Die Messiaskapelle verdankt sich der Judenmission, die im jüdischen Leben und Glauben eine gegenüber dem Christentum defizitäre Position sah, die durch eine organisierte Missionierung zu überwinden sei. Es ist eine äusserst zwiespältige Geschichte, die sich hier spiegelt. Die Geschichte einer als (Seelen-)Rettung verstanden Mission und die Geschichte einer weithin verweigerten Rettung lebendiger Menschen. .Diese Kapelle ist keine Anhäufung von Baumaterialien und verwertbaren Kubikmetern, sondern Erinnerungsträger an Menschen, an ihre Geschichten in unmenschlichen Zeiten. Sie verschwinden zu lassen, heisst Menschen noch einmal aus der Gegenwart der deutschen Gesellschaft und Kirche zu verdrängen, deren Auslöschung hierzulande vor 70 Jahren Regierungsprogramm und kaum widersprochene Alltagspraxis war.
Das geschah in einer Zeit, als sich auch gelehrte Theologen, wie zB die Deutschen Christen oder Walter Grundmann, daran gemacht hatten, für Jesus und das Christentum einen Arierausweis auszustellen. Seit die Urchristenheit 144 nach Christus den Reeder und Sponsor der Gemeinde in Rom mit seiner Verwerfung des Judentums als Mutter und Schwester des Christentums ausgeschlossen hatte, lebte trotzdem sein Geist in vielen Gestalten bis in die Gegenwart fort. Dieses Erbe gab vielen ChristInnen ein beruhigtes Gewissen, mit der Mehrheit und der herrschenden Macht in Politik und Medien mitzulaufen:
·      Als das Kind Jakob Petuchowski am 10. Nov. 1938 von seinem Vater aus der Schule abgeholt wurde und über die mit Scherben übersäten Strassen rannte, fragte das Kind, warum sie nicht in eine Kirche flüchteten. Der Vater antwortete: „Das sind Burgen der Feinde!“
·      Als Jochen Klepper in sein Tagebuch (21. Nov. 1938) eintrug: „Koch sprach bitter davon, dass kein Schritt der Kirchen für die Judenchristen erfolgt sei!“
·      Als er fünf Monate später eintragen musste: „Die Kirche fürchtet sich vor dem Staat, nicht vor Gott!“
·      Als das Alte Testament als Judenbuch mit einer Lohnmoral und das Neue Testament mit Friedrich Nietzsche als ein Buch serviler „Sklavenmoral“ der Unterschichten diffamiert wurden.
·      Als die Landeskirchen Nassau-Hessen, Sachsen, Schleswig Holstein, Thüringen, Mecklenburg, Anhalt, und Lübeck im Dezember 1941 – wenige Wochen nach Einführung des Judensterns - dekretierten: „Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart, seiner Volkszugehörigkeit und seinem biologischen Sein eines Juden nichts geändert. Die DEK hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht.“
Wir sitzen heute Abend in einem der viel zu wenigen kirchlichen Räume, die keine „Burgen der Feinde“, sondern eine Zuflucht für Wenige wurde, in einem Raum, in dem eine christliche Communio Sanctorum und ihre Taufen der Recht- und Heimatlosigkeit der „rassejüdischen Christen“ entgegengesetzt wurden – wie kümmerlich und ambivalent auch immer. Die Taufe sollte eine Aufnahme in die christliche Gemeinde sein. Diese Gemeinde definiert sich seit biblischen Zeiten als eine Gemeinschaft, die nach dem Gebot Christi lebt, dass „Einer des anderen Last trägt“ (Gal 6,2). Alle biblischen Gebote, die ganze Tora des Mose fasst Paulus wie Jesus (Mk 12,29f) im Gebot der Nächstenliebe (Rö 13,10) zusammen und folgert: „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen!“ (Gal 6,10).

III
Zuhören
Hören wir einigen Menschen zu, versuchen wir den fragenden, verzweifelten, hoffenden, geschlagenen Gesichtern standzuhalten, Sie sind keineswegs stumm.
III,1
Der frühere Lektor des Rowohlt-Verlages, Franz Hessel, in seiner Kindheit protestantisch getauft, schrieb im Jahr der Nürnberger Gesetze und der Reinigung des Rowohlt-Verlages von Juden, für die Berliner Dichterin Mascha Kaleko einen Vers:
                Wir sind die nichtarischen Christen.
                Sind wir nicht auch ganz nett?
                Als erster auf unseren Listen
steht Jesus von Nazaret.
Der Schriftsteller Franz Hessel sprach eine fundamentale biblische Wahrheit aus. Er wurde von Mascha Kaleko „Heiliger Franziskus“ genannt. Es war keine unerhörte, sondern eine in den Gemeinden derer, die sich nach jenem Juden nannten, ungehörte Botschaft. Warum eigentlich blieb sie in der Christenheit ungehört? Warum wurde Jesus, der Christus, der Messias Gottes aus Israel für alle Völker von seinem Volk Israel getrennt? Das Christentum amputierte sich dadurch selbst von seinem Wurzelboden, wurde weniger irdisch und stärker innerlich, weniger diesseitig und stärker jenseitig, als es die Bibel Jesu, das sog Alte Testament, und seine Gemeinde vernachlässigte, ja verachtete und so tat, als könne man das Neue Testament verstehen ohne das Erste Testament.
Franz Hessels Sohn Stephan Hessel nimmt am französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung Teil, wird verhaftet, zum Tode verurteilt, nach Buchenwald verschleppt, wo er durch eine Verwechslung mit einem toten Häftling überlebt. In KZ Mittelbau Dora wird er noch Sklavenarbeiter im Dienst des deutschen Raketenprogramms des Rüstungsmanagers Albert Speer und des Ingenieurs Werner von Braun. Nach der Flucht geht er in den französischen diplomatischen Dienst und wird Redakteur der Grundrechtscharta der Vereinten Nationen. Sein Text, 1948 fertig, ist auch eine Lehre aus der Verletzung der Menschenwürde, die jüdisch wie christlich in der einmaligen Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen verankert ist. Diese Menschenrechte sind der Stachel im Fleische eines jeden Machthabers und eines jeden Gleichgültigen, den das Geschick seines Nächsten kalt lässt. Hessel jr bündelt die Essenz der UNO-Menschenrechtscharta in dem Satz: „Nur noch solche Staaten und ihre Regierungen sind legitim, die ihre Herrschaft vom Schutz der dignité, der Menschenwürde ableiten.“ Ich erwähne den Stephan Hessel auch deswegen, um deutlich zu machen, wie die Christenheit sich, und vor allem andere, um Recht und Gerechtigkeit, um Menschenwürde und Nächstenliebe  betrog, als sie den grössten Teil ihrer Bibel und ihren ersten Adressaten als quantité negligeable ansah. Und – gut biblisch – die Treue der Eltern trägt in Kindern Früchte.
Mascha Kaleko setzt ihrem tapferen Helfer Franz Hessel ein Denkmal, wie diese Kapelle ein Denkmal werden und bleiben kann: Sie widmet dem „Dichter, Heiligen und Lektor“ nach dessen Tod im Exil ein Gedicht:
                Er ruht voll Sanftmut und Melancholie
                in Frankreichs Erde, nahe bei Sanary.
Und redigiert im Schatten edler Palmen
fürs Paradies die allerneusten Psalmen.
III,2
Dietrich Bonhoeffer gehört zu den wenigen in der Kirche, die die Brisanz der sog „Judenfrage“ sahen. Er hatte in den USA nicht nur das Rassenproblem kennen gelernt, sondern auch das Gewicht der in der Unabhängigkeitserklärung verankerten Menschenrechte. Von daher hatte er unmittelbar nach dem staatlich verordneten Judenboykott (1. April 1933) und dem Berufsverbot für Juden (7.4.33) die Aufgabe der Kirche dreifach benannt:
·      Sie hat den Staat nach der Legitimität seines Handelns zu fragen. Legal kann er vieles gesetzlich und per Erlass tun – aber ist es legitim, von der Menschenwürde her, von der Funktion des Staates her, gegen Minderheiten, gegen die Juden oder die als Juden Definierten vorzugehen?
·      Die Kirchehat nicht nur den Opfern aus den eigenen Reihen zu helfen, sondern allen.
·      Sie hat nicht nur die Opfer zu verbinden, sondern auch dem Rad in die Speichen zu fallen, damit nicht immer wieder Menschen zu Opfern werden.
Bonhoeffer nennt auch ein Kriterium, wann diese drei Schritte zu gehen seien: Wenn einer Gruppe Recht fehlt, so dass sie „vogelfrei“ ist oder aber, wenn einer Gruppe zuviel „Recht“ in Form von Gesetzen und Erlassen übergestülpt wird, sodass ihr sozusagen die Luft zum Atmen und Leben fehlt.
Das hier geforderte Widerstandsrecht, das durchaus eine christliche Tradition hat, realisierten wenige in Deutschland und in den deutschen Kirchen. Millionen von Toten und Flüchtlingen wurden zu Opfern einer grossen Koalition von Gleichgütigen und Fanatikern, von Wegschauenden und Gewalttätern.
III,3
An der Lutherkirche in Köln - Nippes arbeitete als hauptamtlicher Organist Julio Goslar. Im Herbst 1935 hielt hier in Berlin, in der Berliner Hochschulbrauerei (Seestrasse), der Staatskommissar im preussischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Hans Hinkel, eine Rede vor SA-Männern- Die Nürnberger Gesetze waren neu, Hans Globke, später ungeschoren Staatssekretär in Adenauers Bundeskanzleramt, kommentiert sie zuverlässig und genau. Kein Artfremder soll durch die Maschen eines gründlich-deutschen Gesetzes fallen. Alle sollen wissen, wer zu uns und wer nicht zu uns gehört, wer zu Recht hier ist und wer gefälligst zu verschwinden hat. Hinkel sagt:
„Es gibt tatsächlich christliche Kirchen in Deutschland, in denen …im Gottesdienst für deutsche Menschen christlicher Konfessionen Vollblutjuden seit Jahren die Orgel
spielen. Ich bezeichne diese Tatsache…,ob es Volljuden, Halb- oder Vierteljuden sind, als schamlosen Verrat am Christentum, gegen den wir Nationalsozialisten das christliche Volk beschützen müssen.“
Im Presbyterium der Kölner Gemeinde hatten die „Deutschen Christen“ (DC) eine Mehrheit, die BK eine Minderheit. Die Mehrheit hetzt gegen den „Kulturbolschewisten“, denn Goslar gehört zur Gruppe der Religiösen Sozialisten, zu der auch Martin Buber, Paul Tillich, Gustav Radbruch, Adolf Grimme, Emil Fuchs gehören. Alle hatten sie schon ihre Stellen verloren. Die Kunst, die Wissenschaft und die Bildungsinstitutionen, für die Hinkel zuständig war, hatten sich mit all ihren Institutionen und Berufsverbänden längst selber gleichgeschaltet. Die Lust an der Anpassung und der Opportunismus für eine Karriereplanung waren ebenso gross wie die Obrigkeitshörigkeit. Die Minderheit der politisch, religiös oder rassisch „Abweichenden“ fand wie in der Industrie, in den Medien, in den Ärzte- und Handwerkskammern, in den Sport- und Gesangvereinen, in den Verwaltungen keine rettende Solidarität.
Die DC-Mehrheit im Kölner Presbyterium liess die Argumente der BK nicht gelten. Diese hatte zu bedenken gegeben, wer getauft sei, sei Christ, also kein Jude. Diese Argumentation unterlief völlig zu Recht die rassistische Definition der Nazis, ihrer Claqueure und Mitläufer in den Wissenschaften und Medien. Auch der lutherische Bekenntnistheologe Walter Künneth wehrte sich gegen das „wurzellose Asphaltjudentum“ und stimmte so überein mit der langen Übung einer Mehrheitsgesellschaft, eine Minderheit auszugrenzen, ohne ihr eigenhändig Gewalt anzutun. Die Nationalsozialisten nahmen sich mit aller Gewalt die Definitionsgewalt, mit der alle Gewalt beginnt und erliessen aufgrund ihrer Blut- und Bodenideologie ihre rassistischen Gesetze. (Nebenbei: Die wirklich reinrassigen Arier, die aus dem Himalaya stammenden, indogermanischen Roma und Sinti wurden so auch zum Tode bestimmt – gleichgültig, ob getauft, ob muslimisch oder nicht getauft) Der „Stürmer“ tobte über die Versuche, mit einem christlichen Verständnis des Jude- bzw Christseins den Rassismus zu unterlaufen. Er berief sich auf Luther – leider zu Recht – und seinem Judenhass. Das Hetzblatt, in allen Dörfern und Städten mit exponierten Schaukästen allen Leuten zugänglich, schrieb gegen Goslar und alle Christen jüdischer Herkunft: „würde heute ein Martinus Luther wieder von den Toten erstehen, er würde den Juden Goslar mit der Peitsche aus der evangelischen Kirche hinaustreiben. Und mit ihm den Judengenossen Pfarrer Geß“. Ich gestehe, ich freue mich über jeden Namen – wie über den des Kölner Pfarrers Geß - von dem berichtet wird, er habe Menschen geholfen, die durch nichts anderes dem Tode verfallen sein sollten, als durch die Tatsache, dass Artfremde und Feinde definiert worden waren. „Jud’ bleibt Jude“ hatten der Stürmer und Teile des Presbyteriums festgestellt.
Genau vier Jahre nach dem ersten Judenboykott schreibt die Deutsche Ev. Kirche am 1. April 1937 In Sachen „nichtarischer  Kirchenmusiker“ können wir feststellen, wir sind „nahezu gänzlich judenrein!“ Oberkonsistorialrat Oskar Söhngen, Musikdezernent der Ev. Kirche, sieht die Kirche „in der frohem Überzeugung, dass sie dem neuen Deutschland Adolf Hitlers einen wichtigen Dienst zu leisten schuldig und berufen ist.“ Sie sieht sich „an einem neuen Anfang ihrer Geschichte.“ Der „neue Anfang“ für Goslar ist Zwangsarbeit. Für einen anderen Kölner Pfarrer jüdischer Herkunft, Ernst Flatow, aus einer alten jüdischen Familie in Berlin, endet seine Pfarrertätigkeit mit Berufsverbot, Denunziation durch einen Amtsbruder, Deportation aus Lobetal in ein Vernichtungslager, wo er ermordet wird.
III,4
Von ihm stammt das Gedicht, das Hans Prolingheuer zitiert. Er hatte es von Freunden Flatows am Vorabend seiner Deportation erhielt. Es erhielt jetzt 1942 die Überschrift, die genauestens die Situation der bedrohten, damals sog. Judenchristen beschreibt: „Ausgetan aus dem Lande der Lebendigen“:
Der Nebel lag wie Blei
                und rührt sich nicht…
                Geschrei verrät die Krähe.
                Den Nichts enttaucht,
                reifüberhaucht,
                verblasst, was in der Nähe.
                Tot ist das Land.
                Ich bin verbrannt
Und gehe.
                Kommt nicht ein Glockenklang
                fernüber hergesandt?
                Und liegt nicht Sonne auf den Nebelflächen?
                Sie schwärmt und wärmt von oben her,
                sie geistert überm Schwadenmeer,
                kann’s nicht durchbrechen.-
                Die Stille weicht,
                der Klang ist verstummt.
                O Land, wie bist du vermummt!
                Todfremd!
                Todstill!
                Todwehe!
III,5
Claire von Mettenheim, eine Frankfurter Christin jüdischer Herkunft, notiert in ihr Tagebuch am 21.7.1943: „Aber nun will ich Dir doch von meinem Kummer erzählen, der mich 6.4…am Schreiben hinderte. Wir hatten besprochen, wann wir das Abendmahl nehmen und – da es in der Kirche verboten (oder geheim verboten) war, dass Rassejuden es nehmen dürfen – ob wir unter den augenblicklichen Umständen Veidt in Verlegenheit bringen könnten damit. Vater trifft Veidt an dem Abend in einem Konzert  und sagt ihm von unsren Erwägungen. Veidt wird nachdenklich, will sich’s überlegen – wir können es ja in der Wohnung nehmen(!) – hat aber bis heute noch nichts von sich hören lassen. Nun – ich würde unter diesen Umständen denken, denn wenn ich nicht in die Gemeinde gehöre – was bleibt dann von Kirche, Taufe, Sakrament, und Bibel?“ Veidt war im Bruderrat der BK in der Evangelischen Kirche von Nassau-Hessen.
III,6
Im Gedenkjahr an Felix Mendelssohn-Bartholdy ist nicht nur an ihn zu erinnern, sondern auch
an einen seiner Nachfahren, an Arnold Mendelssohn, Kirchenmusikdirektor in Darmstadt,
lange Jahre Vorsitzender des Verbandes evangelischer Kirchenchöre. Er verlor 1933 seine
öffentliche Ehre und seine Arbeitsmöglichkeiten. Seine Verbandsmitglieder, die
evangelischen Chöre sangen weiter, als sei nichts geschehen. Der Vorfahre Moses Mendelssohn hatte die jüdische Erfahrung schon 1780 beschrieben: „Ich ergehe mich des Abends zuweilen mit meiner Frau und den Kindern. Papa, fragt eins, was ruft uns jener Bursche dort nach? Warum werfen sie mit Steinen hinter uns her? Was habe wir ihnen getan?...Ja, liebster Papa, spricht ein anderes, sie verfolgen uns immer in den Strassen und schimpfen, Juden, Juden! Ist denn dieses so ein Schimpf bei den Leuten, ein Jude zu sein? Ach, ich schlage die Augen nieder und seufze mit mir selbst: Menschen! Menschen, wohin habt ihr es kommen lassen?“ Dass Menschen von heute die Frage zu beantworten zu haben, das ist ihre Pflicht und das Recht der Opfer. Der aus Deutschland verjagte Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr fasste denselben Sachverhalt in die nüchternen Worte und stellt dieselbe Frage:
                „Nicht weil wir besonders verschworen sind
                bloss weil wir halt geboren sind.“
IV
Zur Taufe
Unsere Evangelische Heilig – Geist - Gemeinde in Bad Vilbel, auf dem Heilsberg, wurde nach 1945 als Flüchtlingsgemeinde von Menschen gegründet, die in der Judenhilfe, wie zB Adolf Freudenberg, sich bewährt hatten. Sie baute ein Altersheim für überlebende ChristInnen jüdischer Herkunft. Diese Gemeinde begrüsst im Taufgottesdienst laut und gemeinsam jeden Täufling mit den feierlichen Versprechen:
                Wir heissen Dich willkommen
                In der Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus.          
                Wir alle sind Kinder unseres himmlischen Vaters,
und wir alle sind Erben seiner Verheissung.
Wir heissen Dich willkommen.
Ich höre hier eine Erinnerung an die gültig bleibenden Verheissungen Gottes an sein Bundesvolk und an die Kirche. Ich höre die Zusage, dass die in der Taufe konstituierte Gemeinschaft mit der ganzen Christenheit, konkret dieser Gemeinde, den Getauften „Schutz und Schirm vor allem Bösen“ (wie die alte Segensformel der die Taufe nachholenden Konfirmation sagt) verspricht. Ich höre weiter, dass alle Menschen Kinder des „himmlischen Vaters“ sind, gleichgültig, woher sie kommen. Ich höre in diesem Willkommensgruss auch ein Verständnis der Taufe, das Verbindlichkeiten der Gemeinde einfordert und eine Absage an alle Rituale der Gewohnheit enthält.
Die zB hier in der Messiaskapelle gefeierten – kann ich sagen: „gefeierten“? – Taufen waren überwiegend Erwachsenentaufen. Kaum eines der neuen Mitglieder der Gemeinde Jesu Christi wurde in der neuen Gemeinde verbindlich und schützend willkommen geheissen. Nicht nur DC-Pfarrer, auch Pfarrer anderer Orientierung verrieten die Konsequenzen der Taufe.
Werner Sylten, (1893 – 1942), Mitglied der BK, Leiter einer Heimschule für Mädchen, religiöser Sozialist, wegen seiner Herkunft aus dem jüdischen Volk entlassen, wie und mit Helmut Gollwitzer illegaler Ausbilder illegaler Vikare, 1938 aus Thüringen ausgewiesen, wurde Mitarbeiter des Büro Grüber, bis er verhaftet, ins KZ verschleppt und 1942 in Hartheim bei Linz ermordet wurde. Er hielt dieses Schicksal – es war kein „Schicksal!“, sondern das Verhalten seiner Kirche – mit den Worten fest: „Neue Hiobspost“
                Nun schloss der Kreis sich, und ich steh’ draussen.
                Wie oft in diesen Jahren ahn ich es und litt darüber…
                Ich bin schon tot, wiewohl ich dieser Erde
                noch kurze Zeit verhaftet bin.
V
Die Trennung von dem Juden Jesus
Eine Geschichte aus Breslau vom Oktober 1933 ist vielen bekannt. Da unterrichtet der staatsfromme Pfarrer die Gemeinde, dass alle Juden den Gottesdienst zu verlassen hätten. Niemand geht, er wiederholt die Aufforderung ein zweites, ein drittes Mal. Da verlässt der einzige Jude die Kirche, Jesus steigt vom Kreuz und geht aus der christlichen Gemeinde, die sich nach ihm nennt. „Der Juden König“ so hatte der bekennende Judenhasser Pontius Pilatus ihn verspottet und zu denunzieren gehofft, als er ihn ans Kreuz nageln liess.
Was bleibt von einer judenfreien, dann auch Jesus-Christus-freien Kirche? Wenn wir diese Frage als bohrende Frage nach dem, wozu es eine christliche Gemeinde gibt, vergessen, dann sind wir orientierungslos, in einem nicht medizinischen Sinne dement. Wir wissen: Wer sein Gedächtnis verliert, verliert seine Orientierung. Mit dem Apostel Paulus gesprochen: Wer vergisst, dass er durch Gottes globale Liebe zu all seinen Ebenbildern in den Ölbaum Israel eingepfropft ist, dass dieser Ölbaum lebendig ist, der schneidet sich von seine eigenen Wurzeln selber ab. Wen wundert es, dass die Kirche, die sich derart selbst verstümmelt und  wurzellos macht, jämmerlich verdorrt – ein Anblick, der leider empirisch feststellbar ist. Statt in Israel zu wurzeln, implantierte sich die die rasch wachsende Kirche in das Römische und Byzantinische Weltreich mit ihren Hierarchien, Machtansprüchen und mit ihrer Verrechtlichung. Sie gewann Macht und Mehrheit, einen schützenden Staat, der oft genug seine Schutzfunktion so verstand, dass er Vormund von Unmündigen zu sein beanspruchte. Es ist ebenso schön wie bequem, einen Vormund zu haben – vor allem wenn man sich diese Unmündigkeit und Tatenlosigkeit noch mit der Haltung der Überlegenheit garniert oder bewaffnet, gegen die offensichtlich schon Paulus nach Rom schreiben musste: Sei nicht stolz. „Nicht du trägst die Wurzel. Die Wurzel (Israel) trägt dich!“ (Rö 11. 18).
Da die Kirchen wie Israel eine öffentliche Versammlung sind, ist das was in den Kirchen gelehrt und getan wird, auch folgenreich für die nichtkirchliche Öffentlichkeit. Das Gift der religiösen Judenfeindschaft präparierte und fütterte den säkularen Judenhass.
„Die Wahrheit wird euch freimachen“ – das ist ein markantes Wort des Juden Jesus (Joh 8,32) und für ihn ist Wahrheit das, was Gottes Wort und Tat entspricht im Reden und Tun der Menschen. Pontius Pilatus fragt den gefesselten, gedemütigten und gefolterten Jesus zynisch: „Was ist Wahrheit?“ Nietzsche nennt diesen Satz den „einzig wahren Satz im Neuen Testament“, weil er so klug und skeptisch-überlegen klingt. Aber seine Frage soll ihm die Wahrheit vom Leib halten und die Machtfrage kaschieren. Die Machtfrage als Handlungskriterium verlangt, beunruhigende Geister gegen Roms Imperium auszuschalten. Der Wahrheit, die das Leben, Zusammenleben und Überleben von Mitmenschen gestalten soll, nicht standzuhalten, das ist eine Lebensphilosophie, die die Mitmenschen im Stich lässt. So werden sie ausgegrenzt, diffamiert, beleidigt oder gleichgültig übersehen, weil sie anders leben, anders zweifeln, anders glauben, anders kochen oder anders singen.
Das Wort „Die Wahrheit wird euch freimachen“ hat die Universität Freiburg über ihr Portal in Stein gemeisselt. Es sollte ein Motto sein für eine Institution, die sich der Erforschung der Wahrheit widmet. Als die staatlich verordnete Wahrheit aber so aussah, dass – nach der Nazidefinition -  jüdische Studenten und Professoren, zB der getaufte Jude Edmund Husserl, zu verschwinden hatten, da fragte kaum einer, was die Wahrheit der Verschwundenen sei, schon gar nicht, was ihre Lebenswirklichkeit werden würde. Fragte man zu intensiv danach, dann würde eine humane, eine verbindliche Antwort erwartet, eine gelebte, eine widerständige, eine mutige, eine lebensrettende Antwort.
Dabei war die junge Kirche einst gewachsen, weil sie attraktiv das zu leben versuchte, was in den Heiligen Schriften Israels und in dem nach und nach entstehenden Neuen Testament zu hören und zu lesen war. Der Spötter und Kritiker der jungen Christenheit, Kelsos, bringt es auf den Punkt: Sie hängen einer „barbarischen jüdischen Lehre“ und einer „banalen Ethik“ an, weil sie sich an der Liebe orientieren, weil sie sich nonkonformistisch weigern, dem Staat, der mit seiner Spitze, dem Kaiser, Göttlichkeit, beansprucht servile Untertanen zu sein. Sie versuchen getrennt und doch zusammen mit dem Gottesvolk Israel auf Gottes Erde tatkräftige Zeuge seiner Liebe und Gerechtigkeit, seiner Freiheit und Hoffnung zu sein.
Was bedeutet es, dass heute die ChristInnen jüdischer Herkunft in fast allen Gemeinden vergessen sind? Warum interessierte man sich so wenig oder so spät erst für ihre Geschichte(n)? Sie wurden doch nicht auf eine geheimnisvolle Weise entrückt. Sie wurden von Menschen denunziert, abgeholt, gequält oder getötet, die in ihrer übergrossen Mehrheit wie sie selbst getauft waren. Könnte es nicht sein, dass die erst in den letzten Jahren begonnene Nachforschung nach den „verlassenen Kindern der Kirche“ deswegen solange vermieden wurde, weil man Angst hatte, sich selbst, der eigenen, judenfreien Gemeinde zu begegnen, sich selbst also persönlich und gemeindlich hätte ins Gesicht sehen müssen? Dass man dabei hätte entdecken müssen, dass das eigene Gesicht der Selbsterhaltung, auch der der Kirchenstrukturen, mehr zugewandt war als den gesetzlich, wissenschaftlich und medial Ausgegrenzten? Dass die Nachfolge Christi an staatlich gesetzten Grenzen Halt machte?
VI
Zur Judenmission
 „Judenmission begann mit Jesus” sagt die RGG von 1959. Das war für Jesus, zeit seines Lebens ein ebenso aktives wie kritisches Mitglied der jüdischen Gemeinde, selbstverständlich, lief aber nicht unter dem Namen Judenmission mit seinen Konnotationen der jüngsten Geschichte. Wie die Propheten und Lehrer in Israel – alle diese Titel hat Jesus von Nazaret – wie Paulus und Petrus ging er auch zuerst zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 10, 6). Das Christentum war ein Zweig im zweigreichen Baum des lebendigen Judentums. Da gab es keine Judenmission. Da gab es eine vielgestaltige Hoffnung auf das messianische Reich, das Freiheit, auch von der demütigenden Unterdrückung durch die Römer, erhoffte genau so wie auf Gerechtigkeit für Arme und Rechtlose, auf eine Welt, in der Krankheit und Tod überwunden sind wie Gewalt und Krieg. Da gab es lebendige Auseinandersetzungen über den richtigen Weg in der Nachfolge des Gottes, über den Weg zu den nichtjüdischen Völkern, über die aktuelle Bedeutung der biblischen Überlieferungen an Israel zB über Kaschrut und Beschneidung, eine Tora, die als Bundeszeichen der Treue Gottes Israel gegeben ist, aber nicht den Gojim, den aus den Volkern zum Gottesvolk hinkommenden Menschen.
Da gab es Übertritte zur messiasgläubigen Gemeinde derer, die Jesus für den biblisch verheissenen Messias halten, der mit seinem Tun und Verkündigen einen antizipatorischen Anfang des Reiches Gottes realisierte und Umkehr predigte. Da gab es aber auch jenen grösseren Teil der jüdischen Gemeinde, die in Jesus nicht den Christus Gottes sehen konnte Es gab Bewegungen hin und her – von der Gemeinde, die dem Gott Israels nachfolgte zu der Gemeinde, die demselben Gott nachfolgte, weil sie ihn und seinen Willen in dem Gesalbten Gottes den Beginn des Messianischen Reiches erkennen konnten. Und umgekehrt. Organisiert hat das niemand – oder später doch? Gab es, als die Christenheit zu Macht und Mehrheit gekommen war, nicht Zwangstaufen und Zwangsdisputationen, in denen weltliche und kirchliche Autoritäten zusammenspielten, um die Welt zu einen unter dem Motto „Ein Reich – Ein Glaube?“
Die jüdische Gemeinde legt bis heute der christlichen eine Frage vor: Wäre Jesus von Nazaret der Israel und der Welt verheissene Messias. müsste dann nicht die Welt erneuert sein? Müssen wir nicht den prophetischen Verheissungen glauben, nach denen das messianische Reich mehr ist als was das Christentum brachte? Kein Leid und Geschrei, keine Tränen über verhungernden Kindern, keine Gewalt und Schwerter zu Pflugscharen, Brot und Wein für alle, Friede in und mit der Natur? Der christliche Glaube fragt, ob mit dem mit der Auferweckung Jesu begonnenen neuen Leben nicht die antizipierende Vorwegnahme der Regeln und Früchte des Reiches Gottes schon auf die danach dürstende Erde geholt werden dürfe?
Israel erinnert sich, dass es auch falsche Messiasse gibt und gab, Jesus selber hat auch darauf hingewiesen: (Mt 24, 5). Da gab es den klugen Rat des Pharisäers Gamaliel in der Frage des so umstrittenen messianischen Reiches und den sich langsam in und neben den jüdischen Gemeinden bildenden christlichen Gemeinden: „Wenn Gott in der Jesusbewegung am Werk ist, dann kann man es nicht hindern. Dann hat es Bestand. Ist es nicht von Gott, dann geht es unter wie die Aktivitäten von manch einem, der sich selbst zum Messias ausrief oder sich ausrufen liess. Und Gamaliel weist auf die zeitgenössisch bekannten falschen Messiasse (ApGesch 5, 34-42) Theudas und Judas hin.
Der Artikel über Judenmission in der RGG ist völlig unbeleckt von den Erkenntnissen, die nach der Ermordung des europäischen Judentums in der Christenheit langsam erst entdeckt wurden. Da wird noch 1959 davon berichtet, dass die wachsende „Kluft“ der auseinander gehenden Wege von Kirche und Israel durch die jüdische Seite verursacht wurde. Sie schloss sich ein in ein „Ghettosystem“, als ob die Einrichtung von Ghetti nicht christlichen Gesetzen geschuldet gewesen wäre. Aber den Ghettomauern voraus gingen im Judentum „die vollendete Verkehrung des Prophetismus in Talmudismus“. Es entstand  eine „wachsende Feindschaft gegen die Juden“. Deren Gründe, zB im Vorwurf des Gottesmordes, der negativen Benennung der Tora als „starres Gesetz“, der Abwertung des AT – diese Gründe wurden nicht genannt.
Im Zeitalter des Pietismus und der Erweckungsbewegung kam es dann zur organisierten Judenmission. 1808 wurde in Grossbritannien die Gesellschaft gegründet „for promoting Christianity among the Jews“. 80 Jahre vorher hatte J. H. Callenberg in Halle das Institutum Iudaicum gegründet. Es schickte „Sendboten“ aus, die verzichteten auf kirchliche oder staatliche Rückendeckung. Sie waren als Wanderprediger arm wie die übergrosse Mehrheit der damaligen Juden, sie versuchten auf Augenhöhe die Jesusbotschaft weiterzusagen. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Zwangsmassnahmen wurde auf jede Verführung und Gewalt verzichtet, wurden Sprache und Gebräuche der Juden gelernt. Das Ganze geschah aber in einem Geist wie in einem Umfeld, das überzeugt war, über die einzig wahre Religion zu verfügen. Das hatte zur Folge, dass die Juden gegenüber den Christen immer in einer überholten Position gesehen wurden. Ihnen sollte dorthin geholfen werden, wo die Christen schon waren.
1822 wird die „Berliner Judenmission“ gegründet. Judenmission wurde von der Heidenmission dadurch unterschieden, dass man die gemeinsame Basis der jüdischen Bibel und ihre Botschaften der messianischen Hoffnung und der Weisungen für ein Gott gefallendes Leben hatte. Der „Erfolg“ blieb gering, besonders als die notwendige Hilfe für die Verfolgten in der Nazizeit weitgehend ausblieb (weniger bei der rumänischen und skandinavischen Judenmission. In Deutschland trübte ein völkisches Denken den Blick auf Juden wie auf Christen jüdischer Herkunft; das erleichterte es dem Staat, die Judenmission als „Verunreingung der Rasse“ zu denunzieren und ihre Gesellschaften zu verbieten). Die NS-Regierung verbot nie, Juden zu taufen, obwohl viele Pfarrer und Kirchengemeinden meinten, sich an ein solches Verbot halten zu müssen. Wirksam blieb das ideologisch und staatlich gestützte Klima der Distanz und Feindschaft zum Judentum.
Einige Pfarrer und Gemeinden hielten sich nicht an den staatlichen Willen, der sich seinerseits auf die weit verbreitete Judenverachtung stützen konnte. Für diesen Nonkonformismus muss man wirklich sagen: Gott sei wahrhaftig Dank für diesen Mut, der nicht im Taufen bestand, sondern im Widerspruch zum Staat und zu einer denunziatorischen Praxis der Nachbarn, Behörden  und Betriebe. In der Segensgemeinde wurden zB zwischen 1933 und 1945 über 700 Menschen jüdischer Herkunft getauft. Frau G. Lachenicht und ein Arbeitskreis aus vielen Gemeinden arbeiteten wie das landeskirchliche Archiv an der Erforschung ihrer Schicksale. Für die Nazis war die christliche Taufe kein Schutz, die Getauften aus jüdischen Familien zu respektieren. Das Erschreckende ist, dass auch für die Kirchen die Taufe kein Anlass war, sich um ihre bedrohten Mitglieder zu scharen und sie zu retten.
Ein jüdischer Historiker zur Zeit, als die Kreuzzugsfahrer schon einmal in der Vernichtung der jüdischen Gemeinden von Worms, Speyer, Mainz und Köln die Ausrottung der Ungläubigen und Christusmörder probten, schrieb in der damals grössten christlichen Stadt Köln: „Wer einen Christen fand, wurde gerettet“. Christen waren im christlichen Abendland offensichtlich knapp. Der Wenigen ist zu gedenken – auch durch den Erhalt dieser Kapelle, in der die Geschichte von Gefährdung und Hilfe, von Hoffnung und Enttäuschung, von einem Ruf zu Christus und von einem Verrat an diesem Ruf zu konzentriert zu Hause war.
Eine Ausstellung mit Biographien von Opfern, Tätern und „Neutralen“ sowie Veranstaltungen sollen die Vergangenheit nicht vergehen lassen, sondern zum Anlass nehmen, mitten in einer multikulturellen und multireligiösen Stadt dem Geist nachzuspüren, der damals menschenfeindlich oder in Ausnahmen menschenfreundlich war, um ihn als Gottes und Jesu Christi Heiligen Geist in heutigen Situationen zu leben.
Aus theologischen Gründen verbot sich nach einer Generation die Ev. Kirche in Deutschland die Judenmission. Der Anstoss kam von der Rheinischen Kirche, ihrem Synodalbeschluss von 1980, der in aller Form eine Absage an jede Form von Judenmission enthält.
VII
Noch einmal zuhören, bitte!
Zum Schluss hören wir noch einmal, auf die nicht zu hören so viele Ausreden in der christlichen und in der säkularen Geschichte benutzt wurden. „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Menschheit, wer einen Menschen tötet, tötet die ganze Menschheit“ heisst es im Talmud. Ein Buchhalter der im Ev. Kirchenkreis Köln kritisiert die Taufen von Juden mit den Worten „Kann man es einem bewussten Deutschen zumuten, sich in der Kirche neben einen getauften Juden zu setzen“?. Die zum Gemeindepfarramt nicht zugelassene Vikarin Ina Gschlössl schrieb 1932: „Wer heute (gegen die Juden) hetzt, mit Gewalttat droht, der hat sich morgen mit der Schuld für Totschlag und Roheit belastet:“ In einem Brief des Kölner Rabbiners Zvi Asaria heisst es in Erinnerung an 1938: Die Pogromnacht am 9.11.38 hat alles ausgelöscht, woran der Jude „im Hinblick auf seine christlichen Mitbürger jemals geglaubt hatte.“ Er habe an das Wunder geglaubt „von seinen christlichen Mitbürgern geschützt zu werden.“ Werner Sylten formuliert in seinem Abschiedsbrief an seinen Sohn Reinhard: „Schau genau hin. Wer dankbar ist, werde nicht bitter. Ihr seid stets von so viel Liebe umgeben gewesen, dass das in Euch immer neue Liebe weckte, Ihr Liebe ausstrahltet. Die Welt braucht viel, viel Liebe!“ Friedrich Justus Perels (1910-1945), der Justitiar der BK hält in seinem letzten Brief fest: „Man muss glauben wie Abraham, Moses und Jakob und wie diejenigen im Evangelium, an denen der Herr Wunder tut. …Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit.“ Friedrich Weißler (1891-1937), hatte Freisler 1933 sofort entlassen. 1936 hatte die Gestapo ihn im Verdacht, die tapfere Denkschrift der BK gegen Rechtsbrüche und Antisemitismus der Regierung ins Ausland geliefert zu haben. Er war, da er im öffentlichen Dienst Berufsverbot hatte, der Kanzleichef der Leitung der BK. Aber, als die Gestapo den Verdacht auf ihn lenkte, liess ihn die BK auch fallen. Sie beurlaubte ihn, beendete das Dienstverhältnis. Er wurde vogelfrei und illegal im eigenen Land, bald verhaftet, nach Sachsenhausen mit den Vikaren Koch und Tillich gebracht. Er wurde gefoltert, dann aufgefordert, auf dem Appellplatz laut zu rufen: „Ich bin ein Jude!“ Er rief: „Ich bin ein Mensch!“ Er wurde geschlagen und zu Tode getrampelt.
„Ich bin ein Mensch“ – ein Menschensohn, wie es im NT heisst, ein Adamssohn, ein Kind Gottes, ein Ebenbild des Lebendigen Gottes. „Da ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau – ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Die Begründung für diese Einheit der Menschheit gegen jeden Antisemitismus, Rassismus, Ausländerverachtung oder Sexismus heisst in der Christenheit: „Ihr sei alle auf Christus getauft!“ (3,27)

B E N U T Z T E   L I T E R A T U R :
1.     Dietrich Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage (1933), In: GS Bd 2, München 1959, S.44-53.
2.     Adolf Freudenberg (Hg) Rettet sie doch! Franzosen und die Genfer Ökumene im Dienste der Verfolgten des Dritten Reiches, Zürich 1969.
3.     Paul Gerhard Aring, Christliche Judemission. Ihre Geschichte und Problematik dargestellt und untersucht am Beispieel des evangelischen Rheinlandes. Neukirchen-Vluyn 1980,
4.     Mascha Kaleko, Der Gott der kleinen Webfehler, Berlin 1981,
5.     Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. Berlin 1987,
6.     Peter von der Osten-Sacken, Christen und Juden in Berlin. Begegnung mit einer verlorenen Zeit. In: G.Besier (Hg),450 Jahre evangelische Theologie in Berlin, Göttingen 1989, S.547-599.
7.     Walter Jens, Juden und Christen in Deutschland, Stuttgart 1989,
8.     Hartmut Ludwig, Als Zivilcourage selten war. Die evangelische Hilfsstelle „Büro Pfarrer Grüber“, ihre Mitarbeiter und Helfer im Rheinland 1938 bis 1940. In: Mut zur Menschlichkeit. Hilfe für Verfolgte während der NS-Zeit. Köln 1993,
9.     Siegfried von Kortzfleisch, Ralf Meister-Karanikas (Hg), „Räumet die Steine hinweg“. Beiträge zur Absage an die Judenmission, Hamburg 1997,
10.  Hermann Düringer / Hartmut Schmidt (Hg) Kirche und ihr Umgang mit Christen jüdischer Herkunft. Dem Vergessen ein Ende machen (hier vor allem der Beitrag von Monica Kingreen). Frankfurt/m. 2004,
11.  Ursula Büttner/ Martin Greschat, Die verlassenen Kinder der Kirche, Göttingen 1998,
12.  Manfred Gailus, Wolfgang Krogel (Hg), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006,
13.  Viola Schrenk, „Seelen Christo gewinnen“. Die Anfänge der preußischen Judenmission. SKI Bd 24, Berlin 2007,
14.  Hildegard Frisius, Marianne Kälberer, Wolfgang G. Krogel, Gerlind Lachenicht, Frauke Lemmel, Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche in Berliner Kirchengemeinden, Berlin 2008;
15.  Marlies Flesch-Thebesius, Hauptsache Schweigen. Eine Familiengeschichte.´, Frankfurt 2008.
16.  Hartmut Ludwig, An der Seite der Entrechteten und Schwachen, Zur Geschichte des „Büro Pfarrer Grüber“ (1938 bis 1940) und der Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945. Berlin 2009,

Vortrag am Sonntag, den 8. März 2009 in der Messiaskapelle Berlin

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