Magna Charta der Verantwortung vor Gott und den Menschen.
Der Dekalog in christlicher Perspektive
Ernst Michael Dörrfuß

Unter der Generalüberschrift „Verlorene Maßstäbe“ der Bedeutung nachzuspüren, die die Zehn Gebote für Christen heute haben, heißt zunächst, einige Etappen ihrer Rezeption in der christlichen Tradition nachzuzeichnen, um dann zu skizzieren, wie sie in der Gegenwart zum Sprechen gebracht werden. Dabei wird sich zeigen, dass der Dekalog als Maßstab im Sinn einer allgemein akzeptierten Richtlinie oder Norm für angemessenes christliches Handeln vor Gott und gegenüber Menschen in der christlichen Tradition zu keiner Zeit verloren gegangen ist. Seine Hoch- und Wertschätzung als „Wegweisung der Freiheit“ (Jan Milic Lochman) war allerdings nicht immer und in gleicher Weise selbstverständlich.

I.
Ein Blick auf die Anfänge der Kirchengeschichte macht deutlich, dass dort zunächst weniger der Dekalog, als vielmehr das sogenannte Doppelgebot der Liebe als zusammenfassender Maßstab christlichen Handelns galt, jenes doppelte Gebot der Liebe gegenüber Gott und dem Nächsten also, das Jesus dem Bericht der Evangelien zufolge unter Rückgriff auf zwei biblische Gebote der Tora bzw. des Alten Testaments formuliert (vgl. Mk 12,28-34; Dtn 6,5; Lev 19,18). Die 10 Gebote wurden schon von Paulus (vgl. Röm 2,14-15) und dann z.B. von Justin vor allem dort aufgegriffen, wo sie im Sinn der allen Menschen zugänglichen Naturgesetze rezipiert werden konnten. Augustin interpretierte den Dekalog vom eben genannten Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe her und verstand ihn mit seiner Aufzählung von Pflichten gegenüber Gott und Menschen als Entfaltung der Liebe.
Im Zusammenhang der Begegnung von Christen und Juden trug die christliche Auffassung, allein der Dekalog sei Gesetz Gottes, die übrigen biblischen Gebote der Tora bzw. des Pentateuch aber ohne Relevanz für ein christliches Leben in der Kraft des Heiligen Geistes, mit zum Verzicht auf die Rezitation der Zehn Worte im täglichen Synagogengottesdienst bei.
Seit dem Mittelalter ist die Verwendung des Dekalogs und seiner einzelnen Gebote als „Beichtspiegel“ belegt.
Martin Luther hat den Dekalog einerseits als „der Juden Sachsenspiegel“ bezeichnet, dem für Christen bleibende Bedeutung nur zukomme, sofern er mit dem natürlichen Gesetz übereinstimme. Andererseits legte er die 10 Gebote in seinen Katechismen breit aus und stellte diese Auslegung – im Unterschied zur katholischen und auch reformierten Tradition – der Interpretation des Glaubensbekenntnisses, des Vaterunsers und der Sakramente Taufe und Abendmahl voran. Indem Luther die Bezüge auf den geschichtlichen Ort der 10 Gebote strich, verlieh er der von ihm geteilten Überzeugung Ausdruck, der Dekalog sei allen Menschen ins Herz und Gewissen geschrieben und von der Offenbarung am Sinai letztlich unabhängig. Zugleich gewinnt der Dekalog durch diese Isolierung vom ursprünglichen Kontext etwas gleichsam Statisches und Lehrsatzmäßiges. Luthers die Erklärung der einzelnen Gebote einleitende Formulierung „Wir sollen Gott fürchten und lieben“ verweist auf die Durchlässigkeit des Dekalogs hin zum Liebesgebot.
Gegenüber der lutherischen hat die reformierte Tradition innerhalb des Protestantismus den geschichtlichen Kontext des Dekalogs als Gotteswort vom Sinai hochgehalten, dabei aber notgedrungen dort Allegorisierungen und Spiritualisierungen in Kauf genommen, wo der historische Ort für anstehende Aktualisierungen nicht fruchtbar zu machen war. Indem beispielsweise der ‚Heidelberger Katechismus’ den Dekalog erst im Rahmen seines 3. Hauptteiles – „Von der Dankbarkeit“ – erörtert, unterstreicht er den Charakter des menschlichen Tuns als Antwort auf das zuvor geschehene Heilshandeln Gottes.
Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Katechismusliteratur reüssiert der Dekalog zum Ausgangspunkt und Gliederungsprinzip für die Darstellung christlicher Lebensführung (sogenannte „materiale Ethik“). Die Abfolge der einzelnen Gebote und deren – in der biblischen Überlieferung erzählte, in den unterschiedlichen Traditionen aber verschieden vorgenommene – Aufteilung auf zwei Tafeln führen zu einer Rangordnung. So werden etwa die Pflichten gegenüber Gott den Pflichten gegenüber Menschen vorgeordnet, wobei auch innerhalb der letztgenannten unterschieden und entsprechend gewichtet wird.
Kritik am Dekalog – wie sie etwa im Gefolge der Aufklärung laut wird und sich auch in innerchristlichen Diskussionszusammenhängen findet – richtet sich insbesondere gegen die mit den Geboten angeblich verbundene Aufforderung zur Unterordnung, die in Spannung zur Freiheit des Einzelnen stehe. Kritisiert wird sodann die Herleitung des Dekalogs von einer transzendenten Instanz, weil so menschliche Vernunft beschnitten und das Potential der Einsicht eines denkenden Menschen gering geachtet werde. Neben solcher grundsätzlichen Kritik gibt es Versuche, den 10 Geboten einen neuen Sinn – etwa auf dem Hintergrund der Bergpredigt – zu geben und an ihrer Stelle nach Regeln und Ordnungen für heute zu suchen, zum Beispiel den „zehn Angeboten, die wir von Jesus bekommen“ (Jörg Zink).

II.
Gegenwärtiges Nachdenken über die Bedeutung des (biblischen) Dekalogs als Magna Charta von Grundwerten, die gerade in der säkularen und säkularisierten Welt der Gegenwart Gewicht hat, greift auf neuere Erkenntnisse exegetischer Arbeit an den biblischen Texten zurück und nimmt ihren Ausgangspunkt vor allem bei einer präziseren Wahrnehmung und akzentuierteren Reflektion des ursprünglichen Kontextes der 10 Gebote.
Diese wurden der biblischen Tradition zufolge dem Volk Israel am Sinai nach der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten gegeben. In seiner biblischen Fassung betont das Erste Gebot (vgl. Ex 20,2; Dtn 5,6) den damit verbundenen Charakter des Dekalogs als Ausdruck der Erwählung und Zuwendung des Gottes, der sein Volk befreit hat und ihm mit dem Geschenk der Zehn Gebote die Möglichkeit eröffnet, in Freiheit bei ihm zu bleiben. Von diesem Ursprung her werden die Zehn Gebote Weisung zum Leben, die die Breite und Fülle der individuellen und der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge im Blick hat. Weil von Gott seinen Menschen zugut gesetzt und gegeben, haben die 10 Gebote einen bleibenden, dem Leben dienenden Wert. Der steht nicht nur allem Pluralismus des Beliebigen entgegen, sondern setzt auch jeder trivialisierenden Übertragung der zehn Gebote auf andere Lebensbereiche und ihrer Transformation im Sinn eines Regelwerkes für willkürliche Zusammenhänge Grenzen. Von seinem Ursprung her steht der Dekalog quer zu allen Versuchen, ihn als Instrument von Unterdrückung oder blinden Gehorsam fordernder Belehrung zu gebrauchen.
Dass das Zehnwort vom Sinai sich ursprünglich und bleibend an das Volk Israel richtet, gilt es immer wieder in Erinnerung zu rufen.
Dass der Dekalog in der Wüste, also im ‚Niemandsland’ gegeben wurde, hat in der rabbinischen Diskussion zur Überlegung geführt, seine Geltung sei (ursprünglich) nicht allein auf Israel beschränkt gewesen. Einer anderen Überlieferung zufolge schwieg während der Verkündung der Zehn Worte durch Gott die ganze Schöpfung, hörte also der Verkündigung des Dekalogs zu.
Wenn Christen sich im hier beschriebenen Sinn auf den Dekalog beziehen, werden sie sich dabei an Israel als sie tragende Wurzel gebunden und gewiesen wissen. Sie setzen sich also nicht an die Stelle Israels, sondern wissen sich als Teil der Völkerwelt eingebunden in die Geschichte Israels.
Als von Gott gesetzte Weisung zum Leben regelt der Dekalog in ebenso elementarer wie einprägsamer Weise weite Bereiche der Gottesbeziehung und der Beziehung zwischen Menschen, ohne dabei Vollständigkeit zu beanspruchen. So schützt er das gemeinschaftliche Leben von Menschen gegen gemeinschaftswidrige Über-, Ein- und Zugriffe. Er schützt neben der Gemeinschaft auch die Integrität des und der Einzelnen – und „schirmt den Menschen vor der gefährlichen Dynamik seines Wesens“ (Gottfried W. Locher).
Als Lebensweisung Gottes entziehen sich die Zehn Gebote immer wieder neu dem moralisierenden Zugriff jeder Form von Zeitgeist. So erweisen sie ihre Kraft als ein die Zeiten überspannendes und sie verbindendes Zeugnis des Glaubens an den befreienden Gott und seine menschenfreundliche Weisung, die das Leben und dessen Rechte schützt. So kann der Dekalog schließlich als Konkretisierung des Grundprinzips der Liebe zu einer Lebensgestaltung aus dem Glauben interpretiert werden.
Weil seine Gebote offen sind für Interpretation und Aneignung auf dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen der jeweiligen Situation bleibt der Dekalog Maßstab und Richtschnur für ein angemessenes Handeln vor Gott und gegenüber Menschen und so für die Gestaltung individueller und gesellschaftlicher Wirklichkeit.

III.
Beispielhaft verdeutlichen lässt sich das eben Formulierte am „Elterngebot“ des Dekalogs, das kaum zufällig nicht nur der jüdisch-rabbinischen Tradition als das am schwersten zu erfüllende Gebot gilt. Das Elterngebot steht als nach katholisch-lutherischer Zählung viertes, nach reformierter (und jüdischer) Zählung fünftes Gebot gleichsam an der Nahtstelle zwischen den die Beziehung zu Gott und den die Beziehung zu Mitmenschen thematisierenden Geboten.
Wie der ganze Dekalog ursprünglich zuerst an erwachsene Männer und Frauen gerichtet, zielte das Elterngebot darauf, älter und alt werdenden Eltern ein ausreichendes Auskommen zu sichern, „ehren“ – ganz wörtlich: ‚Gewicht geben’ – schloss also insbesondere die materielle Versorgung ein; auch im Neuen Testament wird diese ursprüngliche Intention des Gebotes greifbar (vgl. Mk 7,1-13).
In der alttestamentlichen Weisheit auf den Gehorsam von minderjährigen Kindern gegenüber ihren Eltern ausgeweitet – Martin Luther wird später (wie übrigens auch der Catechismus Romanus) jede Obrigkeit in die Gehorsamspflicht einbeziehen – sind dem Gebot der Elternehrung in der jüdischen und auch der christlichen Tradition durchaus Grenzen gesetzt. Nach Mk 4,22; Lk 14,26 bezeichnet der Ruf in die Nachfolge eine solche Grenze. In einschlägigen rabbinischen Debatten wird diese Grenze durch das Sabbatgebot bezeichnet, das zu übertreten Eltern ihren Kindern nicht befehlen dürfen. Am elterlichen Befehl, dem Gebot der Bewahrung des Sabbat zuwider zu handeln, endet das kindliche Gehorsamsgebot – was in der Konsequenz bedeutet, dass Gott selbst dem Elterngebot eine Grenze setzt.
Vor dem hier nur knapp skizzierten Hintergrund kann das Elterngebot gerade auch in heutigen Diskursen zum Umgang mit älter werdenden und alten Eltern Maßstab sein. Dabei geht es nicht einfach um eine direkte Übertragung seines Ursprungssinns auf heutige Verhältnisse, wohl aber um eine an der ursprünglichen Intention des Gebotes orientierten Auslegung und Aktualisierung, z.B. im Blick auf das zwischen den Generationen aufrechtzuerhaltende Gespräch, der Vereinsamung wehrender Fürsorge und die Klärung der Verhältnisse zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern, in der beide Seiten zu ihrem Recht kommen können und das Leben der Generation der Kinder ebenso wenig auf Kosten der Generation der Eltern geht, wie das Leben der Älteren zu Lasten der Jüngeren – oder aber der folgenden Generationen – gehen darf.
Dem Elterngebot des Dekalogs nachzuspüren heißt einen Maßstab zu gewinnen, der das Gewicht des Gebotes betont, es aber nicht zur erdrückenden Last werden lässt und an sorgfältig auszulotende Grenzen der Tragweite des Gebotes erinnert.

IV.
Mit den Ehrentiteln „Wegweisung der Freiheit“ (Lochman), „Die zehn großen Freiheiten“ (Ernst Lange) oder „Magna Charta der Verantwortung von Juden und Christen“ (Frank Crüsemann) versehen, verbindet sich mit den 10 Geboten auch und gerade im Blick auf die Gestaltung menschlichen Lebens vor Gott und im Miteinander von Mitmenschen ein bleibend hoher Anspruch, der sich an die Gemeinschaft und den Einzelnen gleichermaßen richtet. Zugleich eröffnet der Dekalog Pfade der Interpretation und Aktualisierung und lädt ein zu entdecken, wo und wie konkret sich solche Ehrentitel denn bewahrheiten können. Einem Verständnis der Zehn Gebote als einschlägiger Pflichtethik oder lästiger Pflichtübung stehen die genannten Ehrentitel aus guten Gründen entgegen. Sie zielen nicht auf blinden Gehorsam, sondern auf die Bewahrung des unlösbaren Zusammenhangs von Freiheit und Inanspruchnahme.
Immer wieder neu zu entdecken gilt es, dass die 10 Gebote den Menschen Maßstäbe in die Hand geben, die in der Untrennbarkeit der Beziehung des Menschen zu Gott und zu seinen Mitmenschen gründen. Sie bieten Kriterien zur Beurteilung von Vergangenheit und formulieren Maßstäbe für ein gegenüber Gott und gegenüber den Mitmenschen verantwortetes Leben in der Gegenwart, wobei festzuhalten bleibt: „Es ist gut, zu tun, was in den Zehn Geboten steht. Aber nicht alles, was gut zu tun ist, steht in den Zehn Geboten“ (Jürgen Ebach). Zugleich eröffnet der Dekalog Zukunft, indem er auf in Freiheit zu verantwortende und zu gestaltende Pfade der Gerechtigkeit und des Friedens weist.

Literatur:
Frank Crüsemann, Das Zehnwort vom Sinai. Magna Charta der Verantwortung von Juden und Christen, in: ders., Wie Gott die Welt regiert. Bibelauslegungen, München 1986, 62-80.
Ernst Michael Dörrfuß, „... nicht im Himmel“. Anmerkungen zur (jüdischen) Auslegungsgeschichte des Elterngebots (Ex 20,12 und Dtn 5,16), in: Christl Maier / Klaus-Peter Jörns / Rüdiger Liwak (Hgg.), Exegese vor Ort. FS Peter Welten, Leipzig 2001, 65-79.
Jürgen Ebach, Keine Engel, keine Sklaven – Gebote für befreite Menschen, in: Zehn Worte der Freiheit. Aktuelle Bibelauslegungen zu den zehn Geboten, hg. i.A. des DEKT von Susanne Natrup, Gütersloh 1996, 52-72.
Hans-Georg Fritzsche, Art. Dekalog, IV. Ethisch, in: TRE 8, 1981, 418-428
Ernst Lange, Die zehn großen Freiheiten (1969), in: G.-F. Pfäfflin/H. Ruppel (Hgg.), Ernst-Lange-Lesebuch. Von der Utopie einer verbesserlichen Welt. Texte, Berlin 1999, 212-217.
Gottfried W. Locher, Das Problem der Autorität der Zehn Gebote, Bern 1968.
Jan Milic Lochman, Wegweisung der Freiheit. Abriß der Ethik in der Perspektive des Dekaloges, Gütersloh 1979.
horst Georg Pöhlmann/Marc Stern, Die zehn Gebote im jüdisch-christlichen Dialog. Ihr Sinn und ihre Bedeutung heute. Eine kleine Ethik, Frankfurt a.M. 2000.

Ernst Michael Dörrfuß, Jahrgang 1960, Dr. theol., Pfarrer und Kirchenrat, seit 2009 Leiter des Pastoralkollegs der Evang. Landeskirche in Württemberg, vorher Gemeindepfarrer und an den Universitäten in Berlin und Tübingen beschäftigt. Langjährige Vorstandstätigkeit bei „Studium in Israel e.V.“, Vorsitzender des Gemeinsamen Ausschusses „Kirche und Judentum“ von EKD, VELKD und UEK

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