Rachel
Biblisch, rabbinisch und zeitgenössisch
von Ursula Rudnick

Rachel zählt zu den Erzmüttern Israels, neben Sara, Rebekka und Lea. Die Väter Abraham, Isaac und Jakob und die Mütter spielen eine wichtige Rolle in der jüdischen Tradition. Sie sind Bestandteil der jüdischen Liturgie und die Volkstradition weiß viele Geschichten über sie zu erzählen. Die Namen der Mütter Sara, Rebekka, Rachel und Lea werden in öffentlichen und privaten Gebeten genannt. So lautet der Segenswunsch für die Töchter am Sabbats: „Möge Gott dich segnen, wie Sara, Rebekka, Rachel und Lea.“

Rachel in der rabbinischen Tradition

Rachel ist jüngere Tochter Labans, über ihre Mutter schweigt der biblische Text. Rachels Familie lebt in Haran, im Norden des Zweistromlandes. Dort wo auch Abraham und Sara einst lebten, bis Gott sie aufgeforderte, in ein neues Land zu ziehen.
Rachels Geschichte ist eng mit der ihrer älteren Schwester Lea und ihrem Mann Jakob verknüpft. Bis zur ihrer Begegnung mit Jakob erfahren wir in der Bibel nichts über sie. Als Jakob in Haran ankommt, liegt ein weiter Weg hinter ihm, denn Jakob ist auf der Flucht vor Esau, seinem Bruder, den er in Kanaan um den Erstgeburtssegen betrogen hatte. In Haran fragt Jakob die Männer des Ortes nach seinem Onkel Laban: sie zeigen ihm Rachel, die gerade zum Brunnen kommt, um dort die Schafe ihrer Familie zu tränken. Der Brunnen ist durch einen Stein geschützt: Jakob rollt ihn für Rachel fort, dann „küsste er Rachel und weinte laut“, so der biblische Text (Gen. 29.12).  Eine intensive Begegnung. Viele Exegeten hatten Schwierigkeiten diesen Kuss Jakobs und seine intensive Reaktion, sein Weinen, zu deuten.

„Die Rabbinen sagen: „Jedes Küssen ist schamlos, abgesehen von drei Ausnahmen: der Kuss der Amtseinsetzung: „Dann nahm Samuel das Ölfläschchen, goss es auf seinen Kopf, küsste ihn und sagte…“ (1.Sam. 10.1); der Kuss der Vereinigung: „Er tat das und traf ihn am Gottesberg; er küsste ihn. [Aaron Moses]; der Kuss des Abschieds: „Und Orpah küsste ihre Schwiegermutter.“ (Ruth 1. 14). Rabbi Tanhuma sagte: Auch der Kuss der Verwandtschaft zählt hierzu: „Und Jakob küsste Rachel – weil sie seine Verwandte war.““
Hier zeigt sich exemplarisch die Vorgehensweise rabbinischer Ausleger: Ausgehend von einer Beobachtung, die einem Leser anstößig sein könnte: ein Mann küsst eine ihm unbekannte Frau. Die Rabbinen postulieren eine Norm: Jedes Küssen ist schamlos. Dann ziehen sie biblische Beispiele des Küssens heran, für die Aussage nicht gilt. Jakobs Kuss wird legitimiert, indem es als eine berechtigte Ausnahme – als ein Kuss unter Verwandten – beschrieben wird. Der mögliche Stein des Anstoßes wird auf diese Weise aus dem Weg geräumt.

Natürlich stellt sich auch die Frage, warum Jakob weinte: Die Rabbinen finden hierfür zwei Erklärungen. Als Elieser auf Brautschau geht, da brachte er zehn Kamele mit: Jakob legen sie den Satz in den Mund: „Warum bin ich nur ohne wenigstens einen Ring oder einen Armreif gekommen?“ „Ein anderer Grund, warum er weinte ist der, dass er voraussah, dass sie nicht an seiner Seite beerdigt werden würde.“ Hier wird Jakob prophetische Gabe zugesprochen, dass er vorhersieht, dass seine künftige Frau nicht an seiner Seite beerdigt werden wird.
Nicht nur Rachel, auch sein Onkel Laban empfängt ihn mit Freude: küsst und herzt ihn. (Gen. 29.13) Nach einem Monat der Arbeit bei seinem Onkel Laban, weiß Jakob, was er will. Als Lohn für seine Arbeit bei Laban möchte er Rachel zur Ehefrau nehmen und ist bereit, sieben Jahre für sie zu arbeiten. Laban stimmt zu und Jakob dient ihm sieben Jahre. Für ihn vergeht die Zeit wie im Flug, „und es kam ihm vor, als wären`s einzelne Tage, so lieb hatte er sie“, teilt uns die Bibel mit. (Gen. 29.20)

Die Schwestern Rachel und Lea unterscheiden sich: „Aber Leas Augen waren ohne Glanz, Rachel dagegen war schön von Gestalt und Angesicht.“ (Gen. 29.17). Die antike christliche Auslegung allegorisiert das Schwesternpaar und sieht in Lea die Synagoge und in Rachel die Kirche.

Nach sieben Jahren Dienst um Rachel geht Jakob zu Laban und spricht: „Gib mir meine Frau, denn meine Tage sind erfüllt, auf dass ich zu ihr [ein[gehe.“ (Gen. 29.21) Rabbi Aibu beobachtete: Selbst der schamloseste Mensch benutzt nicht eine solche Sprache! Es war jedoch folgendes, das ihn dazu brachte: „Der Heilige, gepriesen sei er, hat beschlossen, dass ich zwölf Stämme hervorbringen soll. Jetzt bin ich 84 Jahre alt und wenn ich sie nicht jetzt zeuge, wann dann?“ Dass Jakob bei seiner Hochzeit 84 Jahre alt war, wird aus einem vorhergehenden Midrasch aufgegriffen. Die ungebührliche Direktheit der Wortwahl Jakobs wird mit seinem hohen Alter und der einsehbaren Dringlichkeit, nun endlich Vater zu werden, begründet.
Laban lädt zum Hochzeitsmahl und bringt am Abend seine Tochter ins Zelt Jakobs. Die beiden schlafen miteinander. „Am Morgen aber, siehe, da war es Lea.“ (Gen.29.25) Wie kann es sein, dass Jakob, der Rachel kannte und liebte, nicht bemerkte, welche Frau da in seinem Zelt war und mit welcher Frau er schlief? Diese Frage lag für die Rabbinen auf der Hand.
Der Midrasch beschreibt folgende Situation: „Jakob fragte Rachel: Wirst du mich heiraten? Und sie antwortete ihm: Ja, aber mein Vater ist ein Trickbetrüger und du wirst ihm darin nicht überlegen sein. Jakob fragte: Wie wird er mich betrügen? Sie antwortete: Ich habe eine ältere Schwester und er wird mich nicht vor ihr verheiraten. Dann sagte Jakob: Was das Betrügen angeht, so bin ich der Bruder deines Vaters. Sie fragte: Aber ist es angemessen für einen gerechten Mann, zu betrügen? Er antworte: „[…[ gegen die Reinen bist du rein, und gegen die Verkehrten verkehrt.“ (2.Samuel 22,27) Also gab er ihr bestimmte Gegenstände, mit denen sie sich ihm zeigen würde. Als aber die Hochzeitsnacht kam, da sagte Rachel zu sich: Jetzt wird meine Schwester gedemütigt werden. So gab sie Lea die Gegenstände. „Am Morgen aber, siehe, da war es Lea.“ Sind diese Worte dahingehend zu verstehen, dass es bis zum Morgen nicht Lea war? Nein, es bedeutet, dass aufgrund der Gegenstände, die Rachel ihr gegeben hatte, Jakob nicht bis zum Morgen wusste, dass es Lea war.“
Die Erklärung der Rabbinen lautet: Es war Rachels freie Entscheidung, dass Jakob Lea heiraten sollte. Rachel hätte ihr Schicksal und das ihrer Schwester ändern können. Es war die Empathie zu ihrer Schwester Lea, die sie dazu motivierte, ihr die Gegenstände zu überreichen, um damit Jakob zu täuschen. Rachel ist hier kein Opfer männlicher Willkür, sondern aktiv Handelnde.

Im Zusammenhang mit diesem biblischen Vers haben die Rabbinen ein Gespräch zwischen Jakob und Lea am Morgen nach der Hochzeit notiert. „Die ganze Nacht über nannte Jakob seine Braut „Rachel“. „Am Morgen aber, siehe, da war es Lea.“ Jakob sagte zu Lea: „Was ist das, du Betrügerin und Tochter eines Betrügers? Habe ich dich nicht die ganze Nacht lang Rachel genannt und du hast auf diesen Namen gehört? Sie antwortete ihm: „Gibt es einen Lehrer ohne Schüler? Hat dein Vater dich nicht einmal Esau genannt und hast du nicht auf diesen Namen reagiert?“
In Rachel und Lea sehen wir Frauen, die nicht passiv sind. Lea ist schlagfertig. Sie erinnert Jakob an seinen eignen Betrug gegenüber seinem Bruder Esau. Rachel fällt eine  Entscheidung von weit reichender Bedeutung. Denn nachdem Lea Jakobs Ehefrau ist, muss Rachel noch einmal sieben Jahre um sie dienen. Sie muss weitere sieben Jahre auf ihren Mann warten und sie wird ihren Mann immer mit ihrer Schwester teilen müssen.
Jakob dient weitere sieben Jahre um Rachel. Sie heiraten. Für Jakob bleibt Rachel seine erste Liebe. Für Lea scheint er wenig Liebe zu empfinden. (Gen. 29.30) Gott greift ein, zugunsten der ungeliebten Lea. „Als aber JHWH sah, dass Lea ungeliebt war, machte er sie fruchtbar; Rachel aber war unfruchtbar.“ (Gen. 29.31) Sie bringt einen Sohn nach dem anderen zur Welt: die Namen ihrer Söhne erzählen Leas Geschichte und ihre Hoffnungen:
Ruben: „JHWH hat angesehen mein Elend: nun wird mich mein Mann lieb haben.“
Simeon: „JHWH hat gehört, dass ich ungeliebt bin, und er hat mir diesen auch gegeben.
Levi: „Nun wird mir mein Mann doch zugetan sein, denn ich habe ihm drei Söhne geboren.
Juda: „Nun will ich JHWH danken.“ (Gen. 29,32-35)

Söhne haben in der Welt von Lea und Rachel eine wichtige Bedeutung. Sie sind die Altersversicherung der Mütter. An ihnen hängen die Erwartungen für die Zukunft der Familie. Keine Kinder zu bekommen, heißt keine Zukunft zu haben.

Rachel sieht die Fruchtbarkeit ihrer Schwester: sie aber wird nicht schwanger. Sie beneidet ihre Schwester. Eines Tages herrscht sie Jakob an: „Schaffe mir Kinder, wenn nicht, so sterbe ich.“ (Gen. 30,1) Jakob ist hilflos. Seine Hilflosigkeit äußert sich im Zorn: „Bin ich doch nicht Gott, der dir deines Leibes Frucht nicht geben will.“ (Gen. 30,2) Der Midrasch lässt dies Gott kommentieren: „Es sagte der Heilige, gepriesen sei er: „Ist dies eine Art einer Frau zu antworten, die verzweifelt ist?“
Und wie heute, gehen Frauen, die sich Kinder wünschen, aber keine bekommen, ungewöhnliche Wege, um dieses Ziel doch zu erreichen. Rachel gibt Jakob ihre Magd Bilha, eine antike Form der Leihmutterschaft, die im vorderen Orient eine übliche Sitte war. Bilha  wird schwanger und gebärt einen Sohn: Rachel betrachtet ihn als ihr Kind und gibt ihm den Namen: Dan. „Gott hat mir Recht verschafft und mich erhört und mir einen Sohn gegeben.“ (Gen. 30,6)
Es folgt die Geburt eines zweiten Sohns durch Bilha: er erhält den Namen Naftali: „Kämpfe Gottes habe ich gekämpft mit meiner Schwester und habe es auch gekonnt. Und sie gab ihm den Namen Naftali, `Kampf`.“ (Gen. 30,8)
Die Söhne Rachels spornen Lea zu weiteren Aktivitäten an: auch sie gibt ihre Sklavin Jakob und es werden ihr zwei Söhne geboren. Rachel hat den Plan leiblicher Kinder zu bekommen, nicht aufgegeben. Sie sieht Leas Sohn Ruben mit dudaim, die Luther als „Liebesäpfel“ übersetzt. Sie heißen auch Mandraken oder Alraunen und gelten als Aphrodisiatikum. Rachel erwirbt die Liebesäpfel. Ihr Preis besteht in einer zusätzlichen Nacht Leas mit Jakob, aus der ein weiterer Sohn hervorgeht: Issaschar. Lea wird noch einen weiteren Sohn zur Welt bringen: Sebulon und schließlich auch eine Tochter: Dina.
Und endlich: auch Rachel wird schwanger: sie bringt Joseph zur Welt und kommentiert seine Geburt mit den Worten: „Gott hat meine Schande weggenommen.“ (Gen. 30,23)

Jakobs Familie ist groß: Er ist der Ehemann zweier Frauen und der Vater von elf Söhnen und einer Tochter, dazu hat er einen großen Besitz. Das vormals herzliche Verhältnis zu seinem Schwiegervater ist getrübt. Da hört Jakob Gottes Stimme, die ihn auffordert in das Land seiner Herkunft zurück zu ziehen. Jakob verrät seinem Schwiegervater nichts von seinen Plänen, sondern bricht ohne Ankündigung und ohne Abschied auf. Laban verfolgt ihn, denn er stellt fest, dass neben seinen Kindern und Enkeln auch seine Hausgötter, die Teraphim, verschwunden sind. Er stellt Jakob zur Rede: die Situation ist bedrohlich und nicht ungefährlich. Jakob lädt seinen Schwiegervater ein, das ganze Lager zu durchsuchen und verspricht den Tod des Diebes. Laban durchsucht das Lager, aber er findet nichts. Später stellt sich heraus, dass Rachel die Teraphim unter ihrem Sattel verborgen hat. Sie wurden nicht gefunden, weil sich zur Begrüßung ihres Vaters nicht von ihrem Kamel erhoben hatte, mit der Entschuldigung, ihre Periode zu haben. Der Midrasch kommentiert dies apologetisch: Die Absicht Rachels war nobel, denn sie sagte: „Was, wir sollen aufbrechen und den alten Mann [Laban] in seinen Irrtümern lassen!“
Auf dem Weg nach Kanaan begegnet Jakob Gott und kämpft mit ihm. Gott segnet und gibt ihm einen neuen Namen: Israel, Gottesstreiter. Jakob versöhnt sich mit seinem Bruder Esau. Er lässt sich in Sichem nieder, wo er ein Grundstück für seine Familie erwirbt. Eines Tages hört er erneut die Stimme Gottes, der ihn auffordert nach Bet-El zu ziehen, um dort einen Altar für Gott zu errichten. Jakob macht sich mit seiner ganzen Familie auf den Weg und zieht nach Bet-El, wo er den Altar erbaut. Seine Frau Rachel ist schwanger und auf dem Weg nach Efrata setzen die Wehen ein. Die Geburt ist schwer und Rachel wird sie nicht überleben. Als „sie im Sterben lag, da gab sie ihm den Namen Ben-Oni, Sohn meiner Kraft, meines Unheils. Doch sein Vater nannte ihn Ben-Jamin, ein rechter Sohn.“  Rachel wird auf dem Weg nach Efrata, Bethlehem, begraben und Jakob stellt eine Stele an ihrem Grab auf.“ Von ihr sagt der biblische Text: „Das ist die Stele des Rachelgrabes bist heute.“ (Gen,35.17-20) Das Grab von Rachel wird bis von Frauen, die sich Kinder wünschen, aufgesucht.
Es gibt auch heute dort einen besonderen Ort, der an Rachel erinnert und der von vielen Frauen aufgesucht wird, die keine Kinder bekommen.
Der Midrasch fragt: „Was war Jakobs Grund Rachel auf dem Weg nach Ephrata zu begraben? Jakob sah voraus, dass die zum Exil Verurteilten von hier vorbeiziehen würden, daher begrub er sie dort, so dass sie um Gnade für sie beten würde […[“ Hiermit schlagen die Ausleger eine Brücke zur Erwähnung Rachels im Buch des Propheten Jeremia. Jeremia, der im 6. Jahrhundert vor der Zeit lebt, hat die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und die Deportation nach Babel erlebt. Das Land wurde durch den babylonischen Herrscher Nebukadnezar verwüstest: die Wirtschaft liegt am Boden und der Bevölkerung, die im Lande blieb, geht es schlecht. Jeremia spricht ihnen Trost zu. Gott verheißt ihnen Trost: „So sagt Gott: Horch in Rama ist Wehklagen und bitteres Weinen zu hören. Rachel weint um ihre Kinder, sie will sich nicht trösten lassen wegen ihrer Kinder, denn keines ist mehr da. So sagt Gott der Herr: Verwehre deiner Stimme das Weinen und deinen Augen die Tränen. Denn es gibt Lohn für deine Arbeit: – so Gottes Spruch – die Kinder werden aus dem feindlichen Land zurückkehren. Es gibt Hoffnung für deine Zukunft: - so Gottes Spruch – die Kinder werden zurückkehren in ihre Heimat.“ (Jer. 31,15-17)
Geschichtlich trennen 800 Jahre die Erzmutter Rachel von der Rachel, die die Zerstörung des Tempels erlebt hat. Und dennoch wurde in der jüdischen Auslegung in der klagenden Rachel, die Gott tröstet, die Erzmutter Rachel gesehen.

Zeitgenössische Auslegungen

Sind aus der Antike fast nur Tora-Auslegungen von Männern überliefert, so gibt es seit einigen Jahrzehnten auch Auslegungen von Frauen aus allen Strömungen des Judentums: der Orthodoxie, dem konservativen Judentum sowie dem Liberalen Judentum. Manche der Auslegerinnen haben ein dezidiert wissenschaftliches Interesse, andere bevorzugen den Weg an einer kreativen Auslegung, einer modernen Form des Midrasch. Unter den Auslegerinnen finden sich solche, die ein dezidiert feministisches Anliegen haben, anderen ist diese Perspektive nicht wichtig. Im Folgenden stelle ich drei verschiedene Auslegungen mit je unterschiedlichen Akzenten vor.
 
Avivah Gottlieb Zornberg
Die erste Auslegung stammt von Avivah Gottlieb Zornberg. Sie wurde 1944 in Großbritannien geboren und gehört zum orthodoxen Judentum. Ihr Vater war Rabbiner und sie erhielt eine sehr gründliche jüdische Ausbildung. In Cambridge promovierte in Literaturwissenschaft. Seit Ende der 60er Jahre lebt sie in Jerusalem, wo sie zunächst englische Literatur an der Hebräischen Universität unterrichtete. Seit 1980 lehrt sie auch Tora in verschiedenen modern orthodoxen Einrichtungen der Erwachsenenbildung.
Ihre Auslegung der Wochenabschnitte des Buches Genesis – Der Beginn des Begehrens sind von ihrer literaturwissenschaftlichen Ausbildung geprägt. Der Fokus ihrer Auslegung des Wochenabschnitts Wajeze liegt auf Jakob, aber sie thematisiert auch die Beziehung zwischen Jakob und Rachel.
Zornberg beschreibt Jakob als den ersten Liebenden der Tora. Er begehrt im Sinne einer romantischen, allumfassenden exklusiven Liebe. Nach Zornberg gehört zu dieser Liebe zugleich das Bewusstsein der Unmöglichkeit einer solchen Liebe. Und deshalb weint Jakob als er zu Rachel in Liebe entbrennt: schon dann weiß er, dass er von ihr getrennt werden wird, dass Rachel nicht an seiner Seite beerdigt werden wird. Aber auch zu Lebzeiten muss er sie teilen: Jakob, von dem die Bibel erzählt, dass er Rachel mehr als Lea liebt, hat gegenüber Lea Verpflichtungen. In seinem Leben wird es kaum Raum für eine romantische Liebe, wie er sie ersehnt geben.
Zornberg nimmt viel aus der rabbinischen Literatur, wie auch aus der mittelalterlichen Exegese auf. Sie zitiert den Maharal, auch bekannt als Rabbi Löw aus Prag. Er lässt Rachel, also die Rachel, die um ihre Kinder weint, weil sie ins Exil getrieben werden, fragen: „Was haben meine Kinder getan, dass Du ihnen eine solche Bestrafung auferlegst? Ist es deshalb, weil sie Götzen angebetet haben? Götzen werden Zarah – eine rivalisierende Ehefrau genannt – dann schau mich an. Ich liebte meinen Mann Jakob und er arbeitete sieben Jahre für mich und am Ende gab ihm mein Vater meine Schwester zur Ehefrau und ich unterdrückte meine Liebe für meinen Ehemann und gab meiner Schwester die Code-Wörter [die ihr ermöglichen würden, sich als mich auszugeben.] Ich bin Fleisch und Blut, du dagegen bist ein barmherziger König – um wie viel mehr solltest du dich ihrer erbarmen. Und Gott erkannte die Wahrheit ihrer Worte: „Es wird eine Belohnung für deine Arbeit geben.“ Eine andere Version liest hier: „Um deinetwillen, Rachel, will ich Israel an seinen Ort zurückbringen.“
Anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte macht Rachel Gott deutlich, dass es doch nicht sein kann, dass Gott weniger barmherzig sein kann als die eifersüchtige Ehefrau, als die Rachel selber war. Mit dieser Argumentation hat sie Erfolg und Gott erbarmt sich seiner Kinder, lässt sie aufgrund der Bitte Rachels aus dem Exil zurückkehren.
Aviva Gottlieb Zornberg deutet die Beziehung von Jakob und Rachel exemplarisch: Die Welt ist nicht, wie sie sein sollte. Sie ist voll von Trennung. Wäre es anders, dann hätte Jakob nur die Frau geheiratet, die er liebte. Jakob muss stattdessen zwei Frauen heiraten, weil seine Familie eine Wahrheit über die Welt zum Ausdruck bringen soll: die Tatsache von gebrochenen Perspektiven, „broken perspectives“. Jakob und Rachel erfahren die scharfkantigen Ecken der Wirklichkeit: ihr Leben weicht weit ab von ihren Wünschen und Sehnsüchten. Und doch: Exil, Verrenkung, Trennung sind nicht ausschließlich. Neben ihnen gibt es Einheit, Zusammenhalt und Kontinuität.

Ellen Frankel
Von der promovierten Judaistin Ellen Frankel stammt das Buch The Five Books of Miriam. A Woman`s Commentary on the Torah, das 1998 in San Francisco erschien. In diesem Buch geht es nicht darum, die Bibel neu zu schreiben, sondern die Wochenabschnitte unter der Perspektive von Gender zu betrachten Aus dem Wochenabschnitt greift Frankel jeweils einen oder mehrere Verse heraus. In Anlehnung an den rabbinischen Midrasch, der die Stimmen zahlreicher Ausleger vereint, webt sie einen Teppich unterschiedlicher Perspektiven. So gibt es Töchter, die eine Frage an den Text bzw. die in ihm geschilderte Situation haben. Dann gibt es Rabbiner der Vergangenheit und die Weisen unserer Zeit. Letztere stehen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Darüber hinaus fügt Frankel auch die Stimmen biblischer Frauen ein. Dabei greift sie nicht auf Zitate aus der Bibel zurück, sondern lässt die biblische Person aus ihrer Imagination heraus sprechen.

„Unsere Töchter fragen: Warum läuft es in Bezug auf die Liebe nicht glatt für Jakob?
Die Weisen unserer Zeit lehren: Romantische Liebe ist eine Erfindung der westlichen Kultur, eine moderne Erfindung, wie die Dieselmaschine oder der Füllfederhalter. Traditionelle Kulturen überlassen solch wichtige Entscheidungen nicht dem Zufall oder den wenig stabilen Leidenschaften der Jungen. Diese Dinge werden durch die ältere, weise Generation arrangiert.
Unsere Töchter entgegen uns jedoch: Aber in diesem Wochenabschnitt finden wir jedoch einen Fall von romantischer Liebe – sogar auf den ersten Blick! Denn es steht geschrieben: „Jakob liebte Rachel.“ (Gen. 29,18) In der Tat, als Jakob seine Cousine Rachel am Brunnen des Dorfes begegnet, da überfallen ihn die Gefühle so stark, dass er ganz allein den Stein vom Brunnenloch wegrollt. Hätte der Erzähler nicht so einen trockenen Ton, so würden wir diese Szene komisch finden: Entbrannt mit plötzlicher Leidenschaft, entwickelt dieses zarte Muttersöhnchen augenblicklich übermenschliche Kraft, um seine Liebste zu beeindrucken.
Die schlaue Rebekka antwortet: Die Szene soll ironisch sein. Anders als die vorausgegangenen Eheschließungen in unserer Familie – Sara und Abrahams, Isaaks und meine – war diese Ehe von Anfang an mit einem Fluch belegt. Weil es der Brauch des Ortes verlangte, dass die ältere Tochter vor der jüngeren verheiratet wird, bekam Jakob zwei Frauen, Schwestern, die zu bitteren Rivalinnen um die Liebe ihres Mannes wurden. Wäre Jakob noch unter unserem Einfluss gestanden hätte, dann hätten wir ihn mit Lea verheiratet und hätten so Labans Schwindel und die verhängnisvolle Rivalität verhindert. Aber auf sich allein gestellt, zeigte sich mein armer Sohn als ziemlich ungeschickt in Liebesdingen.
Die Rabbinen klären: Die Tora ächtet später die Heirat eines Mannes mit zwei Frauen, kein Zweifel in Reaktion auf diese unglückliche ménage à trois.
Die Weisen unserer Zeit entgegnen: Nein, dieses Gesetz existierte bereits als die Tora ediert wurde. Die Geschichte von Lea und Rachel wurde hier nur eingefügt, um das Gesetz zu rechtfertigen.
Lea und Rachel bemerken: Wie auch immer, niemand konsultierte uns!“
Die Übersetzerin fügt hinzu: Das biblische Gebot lautet: „Eine Frau und ihre Schwester nehme nicht, um ihre Scham aufzudecken, neben ihr zu ihren Lebzeiten, so dass Eifersucht entsteht.“ (Levitikus 18,18)

Unsere Töchter fragen: Warum sind Bilha und Zilpa aus unseren Gebeten und unserer Erinnerung verschwunden? In vielen populären jüdischen Gebeten und Liedern, auch in Echad mi iodea (Eines, wer weiß es?), das die Lesung der Pessach-Haggada beendet, sprechen wir von den vier Erzmüttern – Sara, Rebekka, Rachel und Lea. Aber gibt es nicht zwei mehr? Bilha und Zilpa sind die Mütter von vier der zwölf Stämme. Es ist einzuräumen, dass diese vier Stämme Dan, Naftali, Gad und Ascher eine nicht so bedeutende Rolle in der israelitischen Geschichte spielen, wie die Stämme Juda, Levi, Ephraim und Benjamin. Aber repräsentieren sie nicht dennoch ein Drittel des Volkes von Israel? Warum sind ihre Mütter abwesend in unseren Gebeten?
Hagar, die Fremde antwortet: Wie ich, so waren diese Frauen nur Konkubinen, Ehefrauen zweiter Klasse. Jedoch, anders als mein Ischmael, der vom Bund ausgeschlossen wurde, erbten Bilhas und Zilpas Söhne den Bund gemeinsam  mit ihren Halb-Brüdern. Jedoch hat die jüdische Tradition sie noch schlechter als mich und Ischmael behandelt. Wenigstens wird unsere Geschichte jedes Jahr an Rosch Ha-Schana gelesen, aber die arme Bilha und Zilpa sind vollständig aus dem Gottesdienst verschwunden.
Ester, die Verborgene weint: So viele aus unserem Volk wurden im Laufe der Jahrhunderte verloren! Nicht allein dass Bilha und Zilpa aus unserer Mitte verschwanden; ebenso verschwanden ihre vier Stämme, die zu den zehn verlorenen Stämmen zählen, die verschwanden, als das nördliche Königreich Israel von den Assyrern erobert wurde und die Bevölkerung zerstreut wurde. Aber in den messianischen Zeiten werden sie sich alle gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern versammeln, und alle sechs Mütter Israels werden jubeln.“

Sandy Eisenberg Sasso
Die dritte Auslegung stammt von der Rabbinerin Sandy Eisenberg Sasso. Sie wurde 1974 als rekonstruktionistische Rabbinerin ordiniert und ist heute Senior-Rabbi der Gemeinde Beth-El Zedeck in Indianapolis. Sie zählt zu den ersten Frauen, die in den USA als Rabbinerin ordiniert wurden. Eisenberg Sasso greift in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts Wajeze die Auseinandersetzung der Schwestern auf. Im Zentrum ihrer Auslegung steht der biblische Satz: „Kämpfe Gottes habe ich mit meiner Schwester gekämpft und habe es auch gekonnt!“ (Gen. 30,8)
Denn nicht nur Rachels Mann, Jakob kämpfte mit Gott und trotzte ihm einen Segen ab, auch Rachel erlebt einen solchen Kampf, der für sie ein Streit mit Gott ist. Jakob gelingt es seinem Gegenüber einen Segen abzuringen? Gelingt das auch Rachel? Eisenberg Sasso bejaht es. Im biblischen Text erhält Rachel die Liebesäpfel von ihrer Schwester. Der Midrasch zeigt eine Versöhnung aller Frauen Jakobs im gemeinsamen Gebets: „Alle Frauen Jakobs: Lea, Rachel, Zilpa und Bilah vereinten ihr Gebet mit dem Jabokk und gemeinsam baten sie Gott, den Fluch der Unfruchtbarkeit von Rachel fortzunehmen. Am Neujahrstag, wenn Gott Gericht über alle Bewohner der Erde hält, erinnerte sich Gott an Rachel und schenkte ihr einen Sohn.“
„Rachel und Lea lehren uns, dass Versöhnung ein Kampf bedeutet, nicht nur mit äußeren Feinden, sondern auch mit uns selber. Sie verlangt, dass wir das betrachten, was wir im anderen Teil von uns hassen […] Rachel erinnert uns daran, dass wir uns gemeinsam mit anderen auf der spirituellen Reise befinden, dass unser Charakter inmitten der Anforderungen und Versuchungen des Lebens gebildet wird. Sie lehrt uns, in jeder Begegnung die Gegenwart Gottes zu finden und dieser Begegnung einen Segen abzutrotzen.“

Auseinandersetzung, Kampf mit anderen, aber vor allem mit sich selber, sind für Sasso Eisenberg ein grundlegender Bestandteil des Lebens. Die Geschichte von Rachel, Lea und Jakob zeigt, dass Versöhnung möglich ist. Versöhnung unter Menschen und Versöhnung zwischen Gott und Mensch. Auch Eisenberg-Sasso zitiert den Midrasch, in dem Rachel an Gott appelliert, dem Volk zu verzeihen. „Wenn ich, ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, das aus Staub und Asche geformt ist, nicht neidisch auf meine Rivalin war und sie nicht der Scham und der Verachtung ausgeliefert habe, warum solltest du, Herrscher, der ewig lebt und der gnädig ist, neidisch wegen Götzenanbetung sein und meine Kinder exilieren? Sogleich regte sich die Gnade des Heiligen, des Gesegneten und Gott sagte: „Um deinetwillen, Rachel, will ich Israel an seinen Ort zurückbringen.“
Wegen Rachels Gebet werden Gott und die Kinder Israels miteinander versöhnt. An Rosch Haschana, einer Zeit der Nachdenklichkeit und Umkehr, wird Jeremia 31,15-17 gelesen. Gott verheißt Rachel die Rückkehr ihrer Kinder aus dem Exil. Die Rückkehr aus dem babylonischen Exil erfolgte. Die jährliche Lektüre am Neujahrsfest zeigt die Notwendigkeit der Erinnerung an diese Versöhnung und die Notwendigkeit, sie zu wiederholen. Eisensenberg-Sasso schreibt: „wir sehen in Rachel in Modell der Versöhnung. Rachels Tränen … sind Gefäße der Vergebung und der Heilung. Sie bringen ihre Kinder zurück…“

Prof. Dr. Ursula Rudnick, Leibniz Universität Hannover, ist Studienleiterin des Mitgliedsvereins „Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen“.


Midrash Rabbah. Genesis II. London/ New York, 1983 (3). S. 645.

ebd.

A. a. O. S.. 646.

„Lea ist euer Volk und die Synagoge, Rachel dagegen ist unsere Kirche.“ Justin (Dial. 34,3.5) Leas schwache Augen werden als Blindheit gedeutet. Das Motiv der Schwestern, von denen die eine sieht, die andere jedoch blind ist, spielte in der christlichen theologischen Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Es erscheint in Form von Ecclesia und Synagoge in der Kunstgeschichte: die Ecclesia  ist prächtig gekleidet, steht aufrecht und herrscht. Synagoga hat einen geknickten Stab, eine Binde vor den Augen als Ausdruck ihrer Blindheit und die Tora fällt ihr aus der Hand.

„Unser Vater Jakob war 63 Jahre alt, als er den Segen erhielt, und er verbrachte weitre 14 Jahre zurückgezogen im Land… und weitere sieben Jahre arbeitete er für die Mütter. Also heiratete er im Alter von 84 Jahren.“ A. a. O., S. 618.

B. Meg. 13b; BB 123a.

A. a. O., S. 650.

A. a. O., S. 658.

Luther verschweigt an dieser Stelle den Gotteskampf. Er übersetzt: „Über alle Maßen habe ich gekämpft mit meiner Schwester, und ich habe gesiegt.“

A. a. O., S. 679.

A. a. O., S. 761.

Aviva Gottlieb Zornberg Genesis. The Beginning of Desire. Philadelphia, 1995.

A. a. O., S. 207.

Zornberg, S. 213f.

Eikha Rabbah P`tikhta. Midrash Rabba. New York, 1983. 7:49.

Zornberg, S. 215.

Ellen Frankel The Five Books of Miriam. A Woman`s Commentary on the Torah. San Francisco, 1998, S. 51f.

A. a. O., S. 56f.

Midrash Hagadol, zitiert in Louis Ginzburg. The Legends of the Jews. I, Philadelphia, 1968, S. 197.

Sandy Eisenberg Sasso. „Vayetze“ In: Elyse Goldstein (Hg.). The Women`s Torah Commentary. New Insights from Women Rabbis on the 54 Weekly Torah Portions. Woodstock: Jewish Light Publications, 2000, S. 83f.

Sandy Eisenberg Sasso. „Yayetze“ In: Elyse Goldstein (Hg.). The Women`s Torah Commentary. New Insights from Women Rabbis on the 54 Weekly Torah Portions. Woodstock: Jewish Light Publications, 2000, S. 83f.

 

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