Imre Kertész in seinem autobiografischen Werk „Dossier K – Eine Ermittlung“ zu Auschwitz und Kreuz

Du hast vorhin gesagt, dass der Roman eines Schicksallosen als eine Provokation der Macht aufgefasst werden kann. denkst du dabei an das „Thema“ an sich – oder die Art und Weise seiner Aufarbeitung?
An die ganze Frechheit, die das bloße Zustandebringen, der Stil und die Unabhängigkeit dieses Buches darstellten. An den Zündstoff, der in der Sprache steckt, die den Rahmen des Erlaubten sprengt, die feige Unterwürfigkeit von sich weist, die jede Diktatur der Kunst, der Erkenntnis vorschreibt.
Im Galeerentagebuch stoße ich auf eine Formulierung einer deiner wichtigsten Erkenntnisse aus dieser „Zwischenzeit“: „Ich komme mit ‚diesem Thema‘ – so höre ich – zu spät. Es sei nicht mehr aktuell. Man hätte ‚dieses Thema‘ viel früher gebraucht, vor mindestens zehn Jahren usw. Ich dagegen musste wieder einmal erkennen, dass mich nichts wirklich interessiert als einzig und allein der Mythos Auschwitz… Ganz gleich, woran ich denke, immer denke ich an Auschwitz. Auch wenn ich scheinbar von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir. Im Vergleich dazu erscheint mir alles andere als Schwachsinn… Auschwitz und alles was damit zu tun hat (aber was hat schon nichts damit zu tun?), ist das größte Trauma der Menschen in Europa seit dem Kreuz…“ Siehst du das heute noch genauso?
Mutatis mutandis, ja.
Warum, was hat sich geändert?
Alles. Die Welt, die Politik, du, ich.
Würdest du heute noch in ein und demselben Satz von Auschwitz und dem Kreuz sprechen?
Mehr denn je. Denn eben in diesem Zusammenhang erschließt sich die verhängnisvolle Bedeutung von Auschwitz für die Menschen, die in der ethischen Kultur Europas aufgewachsen sind. Eines der Gesetze, die in dieser Kultur in den Zehn Geboten festgelegt sind, heißt: Du sollst nicht töten. Wenn also der Massenmord zur täglichen Praxis, ja, man könnte sagen, zur Alltagsarbeit werden kann, dann müssen wir uns entscheiden, ob die Kultur noch Geltung hat, deren illusorisches Wertesystem man uns hier in Europa allen von der Elementarschule an lehrt: Mördern wie Opfern gleichermaßen.
Du entwirfst eine grauenhafte Vision: Mit dem Ranzen auf dem Rücken trotten Millionen Kinder zur Schule, um sich später auf dem Vorplatz der Krematorien, an einer als Massengrab ausgehobenen Grube als Täter und Opfer wiederzutreffen... Sind wir endlich da angekommen? Geht es darum in unserem Gespräch?
Anscheinend kommt man rasch bei der Frage des Mordes an, wenn man über Kultur und europäische Werteordnung zu sprechen beginnt.

Imre Kertész, Dossier K., Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2008, S. 205-207

Imre Kertész in seinem autobiografischen Werk „Dossier K – Eine Ermittlung“
zu dem Satz Theodor Adornos

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“
Aber gerade in deinem Fall ist die Diskrepanz zwischen einem widerlichen Gegenstand und der feierlichen Verklärung auffallend.
Das ist nicht das Problem des Schriftstellers, sondern das des Moralisten. Der im Dichter den Voyeur des Grauens sieht und ihm mit seinem Falsett verbietet, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben. Sind wir am richtigen Punkt?
Nach meiner Auffassung kommen wir, wenn wir über Kunst und Diktatur sprechen, nicht um Adornos Satz herum.
„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ Aber warum sprechen wir im Zusammenhang mit der englischen Flagge darüber, in der es zufällig gar nicht über Auschwitz geht?
In unserem Gespräch geht es auch nicht um Die englische Flagge, sondern um dein Leben, das du in deinem Werk immer wieder gestaltest. Warum? Schließlich sagst du doch selbst:“Wozu die Erfahrung? Wer wird durch uns sehend? Zu leben, dachte ich, bedeutet, Gott eine Gefälligkeit zu erweisen.“
Sagt der Erzähler in der Englischen Flagge, der aber nicht zu verwechseln ist mit mir, der ich ihn sprechen lasse. Aber was hat das mit Adorno zu tun?
Dass du zwischen den Satz Adornos und dein eigenes Schreiben ein überirdisches, metaphysisches Moment setzt; direkt ausgedrückt, dass du von Gott sprichst, wo Adorno allein die Schande sieht.
Du, das sind äußerst heikle Fragen….
Gut, dann stelle ich sie einfacher: Was ist deine Antwort auf Adornos berühmten – oder berüchtigten – Satz?
Schau, ich habe viel aus Adornos Schriften zur Musik gelernt, als diese endlich auch in Ungarn erschienen, aber das ist schon alles. Mehr habe ich nicht von ihm gelesen.
Du beantwortest meine Frage nicht. Was hältst du von Adornos berühmten Satz, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben?
Nun, wenn ich es ganz direkt ausdrücken soll, ich halte diesen Satz für eine moralische Stinkbombe, die die ohnehin schlechte Luft noch mehr verpestet.
Das ist zweifellos eine sehr direkte Formulierung. Würdest du sie begründen?
Ich kann nicht nachvollziehen, dass ein Geist wie Adorno annehmen kann, die Kunst würde auf die Darstellung des größten Traumas des 20. Jahrhunderts verzichten. Sollen wir die Gedichte Celans oder Miklós Radnótis als barbarisch betrachten? Das ist ein schlechter Scherz, sonst nichts. Und was den ästhetischen „Genuss“ angeht: Erwartet Adorno von diesen großen Dichtern, dass sie schlechte Gedichte Schreiben? Je mehr du diesen unglücklichen Satz drehst und wendest, desto unsinniger wird er. Für wirklich schädlich aber halte ich eine darin zum Ausdruck kommende Tendenz: Es drückt sich nämlich ein verqueres elitäres Denken darin aus, das im Übrigen auch in anderer Form um sich greift. Was ich meine ist, dass der Satz einen Alleinanspruch auf das Leiden anmeldet, den Holocaust gleichsam beschlagnahmt. Und diese Tendenz trifft sich seltsamerweise mit der Ansicht der „Schlussstrich“-Befürworter, also derer, die den Erfahrungsbereich Auschwitz für sich abweisen und auf eine eng begrenzte Gruppe von Menschen beschränken wollen und auch die Erfahrung selbst mit dem Aussterben der letzten Überlebenden der Konzentrationslager als tote Erinnerung, als ferne Geschichte betrachten möchten.

Imre Kertész, Dossier K., Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2008, S. 119-121

Imre Kertész in seinem autobiografischen Werk „Dossier K – Eine Ermittlung“ zu der Frage Selbsttötung nach dem Überleben des Holocaust

Im Galeerentagebuch, beschäftigst du dich viel mit dem Selbstmord, als irritierte es dich, dass Überlebende wie Borowski, Améry oder Primo Levi dieser Verlockung schließlich nachgegeben haben.
Glaubst du, Verlockung ist hier das richtige Wort?
Diese Frage würde ich lieber an dich richten. Manche deiner Tagebuchnotizen lesen sich fast wie eine Rechtfertigung. Und dabei denke ich gar nicht an jene vielzitierte Selbstreflexion, in der du exponierst, dass dein Leben im Grunde dadurch gerettet wurde, dass du aus der Nazidiktatur geradewegs in die stalinistische Diktatur gefallen bist und daher gar nicht erst in die Versuchung der Hoffnung kamst wie die anderen, die in der freien Welt lebten. Mir fallen eher so versteckte Bemerkungen auf wie: „In gewissen Fällen ist Selbstmord nicht zu billigen: Er stellt gewissermaßen eine Respektlosigkeit dar gegenüber denen, die in Not sind.“
Ja, nach Auschwitz am Leben zu bleiben ist – nun ja… ein wenig banal. Sozusagen erklärungsbedürftig.
Am Ende deines Améry-Essays nennst du Améry einen Heiligen des Holocaust.
Sein Leben hatte sich erfüllt, er hatte Zeugnis abgelegt, und er wusste genau, wann er zur Apotheose übergehen musste…
Du beneidest ihn doch nicht?
Der Bewunderung ist immer etwas Neid beigemischt. Jedenfalls hat er seinem Leben eine Form verliehen, zu der ich nicht genug Kraft hatte.

Imre Kertész, Dossier K., Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2008, S. 180-181

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email