Israel Chalfen
Paul Celan in Jerusalem

Man horcht auf. Eine Stimme hat zu sprechen begonnen, die ist ganz anders als die gewohnten. Die Musikalität des Klanges, die Reinheit der Diktion, die Schlichtheit, bei aller Sicherheit und Kraft des Ausdruckes; das ergreift den Hörer unwiderstehlich und lässt ihn dieser Stimme sich ganz hingeben.
Paul Celan liest aus seinen Werken.
Es war der Abend des 9. Oktober. Der Saal des neuen Journalisten‑Hauses in Jerusalem war übervoll von Menschen, die Celan erleben wollten. Nicht alle fanden Sitzplätze; mancher musste stehend zuhören. Das Interesse für Celan vereinigte hier gar verschiedene Kreise und Menschen. Es waren Bukowiner und deutsche Juden, ehemalige Österreicher und ehemalige Tschechoslowaken, Universitätsprofessoren und Dichter, Künstler und Lehrer, Ärzte und Ingenieure. Ja sogar einige junge Studenten von der Hebräischen Universität waren anwesend, die wohl Mühe hatten, deutsch zu verstehen, die aber von Celan wissen, ‑ und das ist die Hauptsache!
Einleitend haben die Dichter JEHUDA AMICHAI (von vielen als der bedeutendste lebende hebräische Dichter angesehen) und MANFRED WINKLER (ein Bukowiner, der Dichtung in deutscher und letztens auch in hebräischer Sprache veröffentlicht hat) den Gast begrüßt und wenige Worte über den Dichter und Menschen Celan gesprochen. Es war viel Bescheidenheit dabei im Spiele, wie sie wohl dem großen Gast entspricht. Es folgten auch Vorlesungen einiger Übersetzungen von Celans Gedichten, die allerdings bewiesen, dass es im Hebräischen noch nicht zu jenen Neuschöpfungen der Sprache gekommen ist, mit welchen Celan die deutsche Sprache bereichert hat.
Amichai sagt von der Sprache Celans, sie wäre weder das Deutsche der Deutschen noch die Sprache der Bukowina; sie sei Celans eigenes Deutsch. Wenn auch Amichai, der in jungen Jahren aus Deutschland nach Eretz-Israel gekommen und hier als Hebräer aufgewachsen ist, die Rolle der deutschen Sprache für die Juden der Bukowina nicht erfassen kann, so hat er auch wieder recht. Ein jeder wahre Dichter schafft seine eigene Sprache. So war es bei Hölderlin, Rilke und George, - um nur einige große Namen zu nennen. Die persönliche Sprache des Dichters, die von der Umgangssprache sehr verschieden sein kann, macht oft das Verständnis der Gedichte schwierig. Doch Celan hat einmal in einem Privatgespräch, als er gefragt wurde, wie man zum Verständnis seiner Gedichte kommen kann, gesagt: „Bemühen Sie sich vorerst gar nicht um das Verstehen, lesen Sie und lesen Sie immer wieder, fühlen sie sich ein, das Verständnis kommt von selbst.“ Eine Lesung aus Celans Munde hilft sehr viel zu dieser Einfühlung und zum Verständnis, denn Celan ist ein Meister des Wortes, er schafft es und spricht es, wie wenige andere.
Celan hat eine Auswahl aus seinen bisher erschienenen sechs Gedichtbänden gelesen, die die Vielfalt seiner Themen aufzeigt: Er ist nicht nur der Dichter der »Todesfuge«, er ist der Dichter, der das »Du«, das »Gegenüber« sucht, den Menschen im allgemeinen. Aber auch das, was über den Menschen hinaus, in das Transzendentale führt, ist Celans eigenste Sache, die seine künstlerische Gestaltung bestimmt. Seine Dichtung ist ursprünglich aus dem Gefühl gekommen. Aber immer mehr ins Gedankliche, ins Philosophische gelangt. Darum sind auch viele seiner Gedichte in epigrammatischer Form abgefasst, Im Radio-Interview mit Amichai sprach Celan davon, dass seine Gedichte etwas von der »Opazität des Steines« haben. Man wäre aber, als Leser und Hörer Celans, versucht, eher von Kristallen zu sprechen: so sehr leuchten in seinen Gedichten der Gedanke und seine meisterhafte Formulierung. Auch wenn hin und wieder »Schlieren« im Kristall auftreten, verdunkeln sie noch keineswegs sein Licht.
Celan hat es an diesem Abend vermieden, die Gedichte seiner großen Trauer, die am meisten zu seinem Ruhm beigetragen haben, zu lesen. Jedoch das Gedicht ENGFÜHRUNG, das aus einer späteren Reihe stammt, und das ein Hinaus über die Trauer kennt, hat einen Höhepunkt dieser Vorlesung dargestellt. Dieses Gedicht, inspiriert vom Besuch eines Geländes, wo vormals ein Konzentrationslager gestanden hat, ist nicht nur eine gewaltige Vision des furchtbaren Todes, der hier gewütet hat und nicht nur eine ergreifende Identifizierung des Dichters mit den Opfern, die auf diesem
„Gelände mit der untrüglichen Spur“

zu Asche verbrannten, sondern es vollzieht auch die Einschaltung des Geschehens in die Sicht der Geschichte, der des Jüdischen Volkes einerseits und der Zeitgeschichte anderseits. Der Dichter weiß wohl um das Vergessen, das die Menschheit über das Geschehene werfen will, aber er weiß auch, dass nicht die Ausrottung durch brutale Gewalt im Sinne der jüdischen Geschichte liegt. Es gab einst das Volk der Psalmen und des heldenhaften Widerstandes. Es gibt noch eine Zukunft:

»Also
stehen noch Tempel. Ein
Stern hat wohl noch Licht.
Nichts
nichts ist verloren.

Ho-
sianna. «

Celan schloss mit dem bekannten „DENK DIR“, dem Bekenntnis zu Israel und seinem Siege im Sechstage-Krieg.
Wir aber, seine ergriffenen Zuhörer, möchten ihm, außer Worten tiefsten Dankes, noch zurufen:
„……..du bist –
bis zuhause“

(Die Stimme, November 1969)
Zitiert nach: Ilana Shmueli, Thomas Sparr edd., Paul Celan Ilana Shmueli Briefwechsel Frankfurt/Main 2004, S. 149 -152

Jehoshua Tira, Ein Gespräch mit Paul Celan

In unserer Zeit versucht die Dichtung mit letzter Kraft, den Kampf um ihr Bestehen fortzusetzen. Tatsächlich ist die Dichtung jetzt gezwungen, sich am Rand des Lebens festzu­halten, doch ist dieser Rand ‑ in Wahrheit ‑ das Zentrum, das heißt der Nabel der Welt. Daher muss die Dichtung neu erstrahlen.
Vorstellungen solcher Art brachte mir gegenüber der jü­disch ‑ deutsche Dichter Paul Celan zum Ausdruck, der zur Zeit im Lande ist.
Paul Celan, der als einer der größten deutschsprachigen Dichter unserer Zeit gilt und der mit seinem künstlerischen Stil bis an die Grenze der Abstraktion vorstößt, bleibt die­sem Gestaltungsprinzip auch im Gespräch über die Dich­tung treu. Er formuliert seine Ideen, während er zugleich seine innere Empfindung ertastet: den Weg des Dichters im Gegensatz zum Mann der Kritik und des methodischen Denkens, der sich an die festgelegten Formeln der Analyse gebunden sieht.
Indem Celan über diesen Rand spricht, der eigentlich das Zentrum und der Nabel der Welt ist, erklärt er, dass die Dichtung an allen Geschehnissen der Welt festhalte und dass alles, was geschehe, dem dichterischen Schaffen seinen bewussten oder unbewussten Stempel aufdrücke. Es sei an­gesichts der Ereignisse unserer Zeit sehr schwer, all dem einen angemessenen dichterischen Ausdruck zu verleihen. Von daher erklärt sich, nach Celans Auffassung, die dem dichterischen Schaffen eigentümlich gewordene Reduktion: das Element der Lakonie, fast bis zur Epigrammatik, unter Verzicht auf das, was bei Paul Valery »die allmähliche Vertiefung« genannt wird. In diesen Worten kann man, wenn man will, den Schüssel zu Paul Celans eigener Dichtung finden, der mit seiner reduzierten Sprache Wunderbares sowohl auf dem Gebiet der Sprache als auch auf dem Gebiet der künstlerischen Gestaltung geleistet hat. Im Kraftfeld wechselsei­tiger Beeinflussung, die so typisch für die Dichtung der Welt in allen Sprachen geworden ist, spielt Celans Werk in vielen Ländern, auch in Israel, eine wichtige Rolle in der Entwicklung der modernen Dichtung.
Paul Celan wurde im Jahre 1920 in Czernowitz geboren, machte seine ersten Schritte als Dichter in seiner Geburtsstadt und wurde durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges weit verschlagen, bis nach Paris, wo er seinen Wohnsitz nahm und an der „Ecole Normale Supérieure“ Germani­  stik unterrichtet. Er ist der französischen Hauptstadt verbunden, in der er schon sein Studium, anfangs das der     Medizin und später das der Philologie, absolviert hat. Seine Bindung an die französische Kultur ist stark, da er bereits in seiner Kindheit und Jugend in Czernowitz (damals unter rumänischer Herrschaft) unter ihrem Einfluss stand. Ins Deutsche übertrug er manches aus den Werken Paul Va­lérys, Rimbauds und einer Reihe weiterer moderner Dich­ter. Er hat auch Werke der neuen russischen Dichtung übertragen: so Alexander Block, Sergej Jessenin und Ge­dichte Ossip Mandelstamms (sic), die er für äußerst wichtig hält.
Unter seinen Übertragungen finden sich außerdem Sonette von Shakespeare und Gedichte des Italieners Unga­retti. Man könnte den Einfluss der Dichter, die er übersetzt hat, auf ihn wohl genauer untersuchen. Obwohl er selbst der Meinung ist, er sei keiner bestimmten literarischen Strö­mung zuzuordnen, scheint doch die Dichtung Paul Valérys einer seiner Ausgangspunkte zu sein. Die Dichtung Jean Cocteaus oder Préverts rum Beispiel gilt ihm überhaupt nicht als Etappe der Weltdichtung. Dagegen markiert die Dichtung Paul Valérys oder Ossip Mandelstams für ihn einen Gipfelpunkt, von dem aus sich neue Strömungen ver­zweigen könnten.
Kann man in seiner dichterischen Weltanschauung etwas wie Kosmopolitismus finden? Er sieht sich eingebunden im Innersten der deutschen Dichtung, lebt ihre Sprache und Probleme. Er behauptet, dass es im heutigen Deutschland, nach der Hitlerzeit, mehr Unruhe gebe als an jedem ande­ren Ort. Die deutsche Sprache habe während der Nazizeit vielerlei Erschütterungen erfahren. Sei in der Zeit Hitlers das Irrationale kultiviert worden, so versuche die deutsche Sprache heute nüchtern und knapp zu sein. Die deutsche Gegenwartsdichtung wolle sich selbst definieren, daher ent­halte sie mehr Spannung und Unruhe als andere ‑ es sei wie nach einem Erdbeben. Einen vergleichbaren Vorgang gebe es zum Beispiel in der französischen Kultur nicht, die sich in ruhigeren Gewässern entwickele.
Eines seiner Gedichte, die  „Todesfuge“, das als eine der ausdrucksstärksten Manifestationen über die Shoah gilt, be­gründete Paul Celans Ruhm.
Durchweg erkennt man in seiner Dichtung, der Dichtung eines Menschen, der die Shoah am eigenen Leibe miterlebt hat, den starken Einfluss der Schreckenserlebnisse. Seiner eigenen Definition getreu, dass die Dichtung eine Wider­spiegelung der Ereignisse ist, die dem Dichter widerfahren, kann man - so sagt er ‑ nur in diesem Maße das jüdische Element seiner Dichtung finden. Seine Inspirationsquellen aber sind mehr allgemein menschlicher als jüdischer Natur. Zwar hat er in seiner Jugend Hebräisch gelernt und gelangte mit seiner Lektüre hebräischer Literatur bis zu Bialik und Tschernichowski, wurde dann aber stärker vom Werk Kafkas beeinflusst, das so viele lyrische Passagen enthält, ja sogar mehr enthält als das: nämlich das Gedicht des Lebens, das niemals niedergeschrieben wurde. Dennoch finden sich in Celans Dichtung jüdische oder biblische Themen und auch sprachliche Eigentümlichkeiten aus dem Jiddischen. Wenn er über Jüdisches oder Israel spricht, ist er reserviert und zeigt keine Ergriffenheit, wahrscheinlich deshalb, weil das Thema einen zurückhaltenden Ton fordert. Auch wenn er von anderen Themen spricht, verfällt er in einen ähnlich verhaltenen Ton. Doch weiß man nicht, ob ihn seine erste Begegnung mit dem Staat Israel nicht innerlich aufwühlt. In Paris hat er großes Interesse an Israel gezeigt, besonders im Mai und Juni des Jahres 1967. Er weist nachdrücklich darauf hin, dass er als Besucher nach Israel gekommen ist – eine Tatsache, die vielleicht etwas von den inneren Windungen seiner Seele verrät. Die neue hebräische Dichtung kennt er überhaupt nicht, will aber versuchen, sich ihr während sei­nes Besuches in Israel zu nähern.
Was die zukünftige Entwicklung der Dichtung weltweit betrifft, so ist er nicht der Meinung, dass sie sich in einer Krise befinde. Die Zeit, in der wir leben, sei sicher schwierig für den schöpferischen Menschen. Der Dichter schreibe heute nur für einige wenige, doch sei dies auch schon in früheren Epochen so gewesen. Er ist nicht der Ansicht, dass es unver­ständliche Dichtung gebe. Die Wege der Poesie seien verbor­gen, doch habe sie ihre jeweilige Zeit immer stark beeinflusst.
Die Dichter unserer Zeit müssten mehr um Ausdruck und Sprache ringen. Es gebe Dichter in Deutschland, die den Versuch machten, computermäßig zu schreiben. Er selbst zählt sich nicht dazu. Er kehrt zu seinem ursprünglichen Ausgangspunkt zurück: dass nämlich die Dichtung den Kampf um ihre Existenz mit letzten Kräften fortführen und dass sie dabei neu erstrahlen muss, will sie vom Rand zum Nabel der Welt vorstoßen.
Eines der Gedichte Paul Valérys die von Paul Celan über­ setzt wurden, beginnt so:
Wer, so der Wind nicht, er nur, weint hier, zur Stunde, die
allein ist mit Diamanten, mit fernsten? ... Wer? Und wie
so nahe mir, die selber so nah am Weinen ist?'
(Aus »La jeune Parque«, »Die junge Parze« (GW 4,115). [Anm. d. Hg.])
(Aus: Ha'aretz, 17. Oktober 1969. Übersetzung Lydia Böhmer)
Zitiert nach: Ilana Shmueli, Thomas Sparr edd., Paul Celan Ilana Shmueli Briefwechsel Frankfurt/Main 2004, S. 144 -148

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