Erinnern im Gespräch
Auf dem Weg zu einer Kultur des Gedenkens

von Klaus Müller

„Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal", so Elie Wiesel im Januar 2000 vor dem Deutschen Bundestag. Erinnerung lebendig zu halten ehrt die Toten und eröffnet Zukunft. Denn ohne Erinnerung keine Zukunft.

Das Medium solcher zukunftsöffnender Erinnerung ist das Gespräch. Dass es existiert, das christlich-jüdische Gespräch, heute, ist ein Wunder – angesichts des Grauens der Vergangenheit. Dass Juden und Christen miteinander im Gespräch sind, wahrt die Ehre der Toten und streckt sich aus auf die Zukunft eines neuen gemeinsamen besseren Lebens.

Es gibt Vieles zu entdecken im Gespräch, Elementares und Tiefes.

Fokus in solch erinnerndem Gespräch ist allemal das Heilshandeln Gottes im Horizont der Geschichte Israels. So gut wie jeden Segensspruch begleitet Israel mit dem Hinweis auf das Grunddatum jüdischer Existenz, den Exodus aus Ägypten. Aufgeschrieben in jenem biblischen Buch, das wir Exodus nennen. Heilsgeschehen schlechthin: der Auszug aus Ägypten und wie nichts anderes Brennpunkt der Gottesgeschichte mit seinen Menschen. Das Buch Exodus – ich lerne von Juden im Gespräch ganz elementar: sefer schmot = „Buch der Namen“, Namen von Menschen, von Biographien, Lebensgeschichten – jede einzelne Lebensgeschichte unendlich wichtig, denn jede einzelne Menschenseele, so sagt der Talmud, wiegt die ganze Welt auf. Wo ein Mensch gerettet wird, wird die Welt gerettet. Wo ein einziger Name in Vergessenheit gerät, verliert auch das große Programm der Befreiung seine Kraft. Der Exodus holt den Namen jedes Einzelnen aus der Dunkelheit des Vergessens. Und erst wo jeder und jede einzelne erinnert wird, ist in Wahrheit Exodus.

Im Gespräch, das wir eigentlich in hebräischer Sprache führen müssten, um an die Tiefen der biblischen Worte heran zu kommen, liegt die Wahrheit im Detail. Va-era heißt der Wochenabschnitt über die Passion Israels in der Knechtschaft und die Plagen über Ägypten, denen die Israeliten in der alten Geschichte des Pessachfestes entrinnen. Va-era; zu deutsch: „Und ich, der EWIGE, erschien, offenbarte mich“ - damals den Vätern und Müttern, bevor sie in die Knechtschaft von Ägypten gerieten. Va-era – eine ganz eigenartige hebräische Verbform, kommt in dieser Form ein einziges Mal in der Bibel vor – das zeigt schon seine Besonderheit, ein grammatikalisches Unding, ein Wortfragment, wie wenn wir im Deutschen sagen würden: „Und ich, Gott, offenba….“ Es bricht ab. Offenbarung gerät zur Verhüllung Gottes. Er zeigt sich, indem er sich entzieht; sein Antlitz wendet sich gleichzeitig ins Verborgene. Gott offenbart sich im Fragment.

Pharao meint sich aufschwingen zu können zum Gott des Geschehens. O, das verhärtete Herz des Pharao! Schon die Kardiologen wissen, wie komplex und schwierig dieser Befund ist. Der Midrasch sagt: „Als Gott sah, dass Pharao nach fünf Plagen immer noch verhärtet blieb, verstärkte er noch die Hartherzigkeit, um das volle Strafmaß verlangen zu können.“

Im Gespräch werden sich Asymmetrien zeigen. Das Gespräch ist nicht Mono-log, sondern Austausch, Streit, Übereinkunft und Dissens. Gespräch ist Leben. Im Gespräch werden wir Profile zu Tage fördern, die unaustauschbar sind und nicht aufeinander reduzierbar. Im Gespräch werden wir die Asymmetrie einstweilen stehen zu lassen haben, die da lautet: Wo der jüdische Partner des Gespräches nach dem Warum und Wozu jüdischen Geschicks in Auschwitz sucht, legt die christliche Stimme den Finger auf den Mund: „Die Schuld der menschlichen Täter ist zu groß, als dass wir nach einem göttlichen Warum und Wozu überhaupt fragen dürften!“ Meine Frage lautet einstweilen und noch einige Generationen lang: „Warum hat mein Volk geschwiegen oder gar mitgemacht, damals, als Schreien die Not gewendet hätte und Verweigerung mit Haut und Haaren den Handlangern der Vernichtung eine Grenze gesetzt hätte?“

Im Gespräch werden sich Profile bilden und schärfen. Im Gespräch werden wir als Christen gar an das christologische Herz des Gottesglaubens herangeführt weden, freilich nicht so wie die Missionsstrategen von IDEA oder „Jews for Jesus“ meinen, sondern etwa im Sinne jenes indirekten Hinweises auf den leidenden Gott am Kreuz, auf die Gegenwart Gottes im tiefsten Exil seines Volkes – zum Ausdruck gebracht in Elie Wiesels Erinnerung an eine ungemein aufwühlende Szene im Lager – ich zitiere ihn:

„Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgen bedeckte es ganz. Diesmal weigerte sich der Lagerkapo (d.h. der Häftling, der für „schmutzige Arbeit" Vergünstigungen erhielt), als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle.

Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt. „Es lebe die Freiheit!" riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. "Wo ist Gott, wo ist er?" fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. „Mützen ab!" brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. „Mützen auf!" Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch ...

Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüber schritt, seine Zunge war rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: „Wo ist Gott?" Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo ist er? Dort – dort hängt er am Galgen..." An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.“

(Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben ..., 1986, Seite 93/94)

Va-era: „Und Gott offenbart sich“ – als der Mitgehende, der Mitleidende, zeigt sein Gesicht, um es gleichzeitig zu verbergen. Gott im Gehenkten, Gott im Gekreuzigten, Gott in Auschwitz. Gott im Lager der Hartherzigkeit. Am Ort des Vergessens, der Preisgabe des Lebens an die Namenlosigkeit. Dass er da sein kann, macht Hoffnung.

„Im Gespräch“ werden wir uns Korrekturen gefallen lassen, z.B. in der überschwänglichen Deutung des 27.1. als Befreiungstag: „der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, an dem die Lager in Auschwitz 1945 befreit wurden“ sei eine „Zäsur auf dem Weg aus dem Bösen heraus“, hören wir aus jüdischem Munde, noch nicht die schlechthinnige Überwindung alles Bösen. Die Überlebenden waren displaced persons, hin- und hergeschoben auf der Bühne des Weltgeschehens. Selbst im eigenen Staat seit 1948: Zäsur auf dem Weg aus dem Bösen heraus, noch nicht erlangt ist die volle Akzeptanz in der Völkergemeinschaft, immer noch leidend unter dem Verdikt der Mehrheit, die den Staat Israel für den Urtypus des Aggressors im Nahen Osten hält.

Wenn es Frühling wird, liegt der Monat schon wieder hinter uns, in dem im Land der Bibel neu gepflanzt wird. Lasst uns neu die Pflanzungen der Begegnung und des Gesprächs säen und pflegen. Und warum sollen im Heiligen Lande zwischen Israelis und Palästinensern nicht Pflanzen der Hoffnung und der Kooperation gedeihen, Wege zu wahrer Begegnung sich öffnen.

Dass es das Gespräch gibt, ist ein Wunder, nach allem, was gewesen ist. Im Gespräch miteinander den Weg zu suchen, ist zukunftsstiftend. Er ist offen, lädt ein gegangen zu werden.

Prof. Dr. Klaus Müller ist Beauftragter der Ev. Landeskirche in Baden für das Christlich-Jüdische Gespräch.

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