Antijudaismus im Neuen Testament
von Klaus-Peter Lehmann

Das Problem
Von der Antike bis in die Neuzeit bildete die Lehre von der Verwerfung des alten Bundesvolkes Israel und der Einsetzung der Kirche zum neuen Bundesvolk ein quasi- ökumenisches Band, das alle christlichen Kirchen vereinigte. Angesichts dieses hermetischen Konsenses stellt sich die Frage, ob der Antijudaismus der Kirchen auf ihre Berufungsurkunde, das Neue Testament, zurückgeht. In der theologischen Wissenschaft gehen die Meinungen darüber auseinander. Evangelische und katholische Lehre verwerfen heute jede Form des Antijudaismus.  (1)  Darin liegen Probleme. Müssen das Zeugnis der kirchlichen Berufung und ihre Lehre übereinstimmen? Welche Bedeutung hat der Kanon? Was wäre, wenn er in Teilen antijüdisch ist?

Grenzte sich Jesus mit seiner Lehre gegen das Judentum ab?
Grundsätzlich kann nur in Einzelauslegungen neutestamentlicher Texte geklärt werden, ob antijüdische Aussagen vorliegen oder nicht. Weithin anerkannt ist mittlerweile, dass Altes und Neues Testament von demselben, sich treu bleibenden Gott Israels sprechen  (2)  und dass Jesus sich in seiner Lehre nicht gegen das Judentum und seine Lehrer allgemein wendet, sondern mit bestimmten Auslegungen und Verhaltensweisen auseinandersetzt. Er teilt die Lehre der Pharisäer (Mt 5,18; Mk 12,28-34), kritisiert aber ihre Glaubenpraxis (Mt 23,1-3). Mit ihnen verteidigt er gegen die Sadduzäer die Lehre von der Auferstehung (Lk 20,27-40). Manche sprechen von einer neuen Intimität des Verhältnisses zu Gott bei Jesus und verweisen auf die Gebetsanrede Abba / Vater (Mk 14,36), die eine besondere persönliche Nähe ausdrücke. Ist eine größere Nähe denkbar als die, wenn Juden im Höre Israel sprechen: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen (5Mose 6,4f)? Auch die Verinnerlichung der Gebote wird vielfach als besonderes Anliegen Jesu angesehen. Doch schon Moses hatte mit dem Bild von der Herzensbeschneidung dasselbe Ziel vor Augen (5Mose 10,16).

Waren die Verfasser des Neuen Testaments antijüdisch?
Manche sehen bei den Evangelisten antijüdische Distanzierungsversuche. Sie würden aus Angst vor der Obrigkeit Pontius Pilatus von der Schuld an Jesu Tod freisprechen: Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten. Sehet ihr zu, und das jüdische Volk belasten: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder (Mt 27,24f). Verträgt sich das mit der quasi-diktatorischen Macht des römischen Statthalters? Noch das im 2. Jahrhundert formulierte Glaubensbekenntnis bezeugt: gelitten unter Pontius Pilatus. Statt als Beteuerung lassen sich die Worte des Pilatus auch als Zynismus eines skrupellosen Gewaltpolitikers lesen, der ungewollt ein Bekenntnis ausspricht. Die Worte Sein Blut komme über uns rufen nur wenige Juden, nicht das jüdische Volk. Zudem zitieren sie ein gebräuchliches Bild, mit dem jemand die möglichen Folgen seines Handelns akzeptiert (Hos 12,15). Fraglich bleibt, ob die Verfasser der Evangelien die Frage nach der historischen Schuld an Jesu Tod überhaupt interessiert hat. Ihnen ging es vielmehr darum, die Heilsnotwendigkeit des messianischen Leidensweges (Lk 9,44) und die verborgene Führung in diesem Geschehen zu bezeugen, an dem viele ohne Wissen und Willen mitwirkten (Lk 18,31.34; Joh 19,23f)?
Andere sehen im Neuen Testament verschiedene, einander widersprechende Sichtweisen auf das jüdische Volk verarbeitet, antijüdische, die die Juden mit dem Teufel vergleichen (Joh 8,44; Apk 2,9), und judenfreundliche, wie: Das Heil kommt von den Juden (Joh 4,22). Vieles aber, das für neuzeitliche Ohren  (3)  wie Diffamierung klingt, ließe sich im Rahmen innerjüdischer Streitkultur und Polemik verstehen, wie sie nach talmudischer Überlieferung Brauch war.  (4) 

Traditionelle Stellen antijüdischer Auslegung
Trotz solcher Wendungen zu einer judenfreundlichen Sicht in der Auslegung des Neuen Testaments bleiben Texte, die sich einem antijüdischen Verständnis nur schwer entziehen. Paulus polemisiert gegen die Juden, die Jesus nicht als Messias anerkennen, als Menschenfeinde (1Thess 1,15f). Auch das ließe sich rabbinisch lesen: Der Völkerapostel streitet mit der Verkündigung des Messias für die universale Ausbreitung der Gerechtigkeit der Tora, um die nichtjüdischen Völker vom Götzendienst zu befreien (1Thess 1,9). Wer sich dem entgegenstellt, verfällt dem kritischen Urteil des Gottes Israels, weil er Herr und Befreier aller Völker ist (Röm 3,29f).
Matthäus scheint Israel enterben zu wollen, wenn er schreibt: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben, das dessen Früchte bringt. Kritisch angesprochen sind Hohepriester und Pharisäer. Der Zuspruch geht an Zöllner und Dirnen (Mt 21,32; 43-45), die Früchte des Reiches Gottes bringen (Mt 13; Lk 19,8). Es könnte sich um die prophetische Vorstellung vom Rest Israels, übertragen auf die Jesus-Gemeinde, handeln, würde aber die Enterbung Israels bedeuten. Dem Dilemma entgeht nur, wer die Berufung durch Jesus in den Dienst des Reiches Gottes nicht als ausschließende Erwählung sieht. D.h. außerhalb des bleibend erwählten Volkes werden andere zu einem Volk berufen, das das Reich Gottes verkündet.  (5) 
Sieht das Neue Testament die Jesusgemeinden als neues Gottesvolk? 1 Petr 2,9 scheint davon zu sprechen: Ihr seid (das) auserwählte/s Geschlecht, (das) heilige/s Volk, … ihr, die ihr ehemals kein Volk waret, jetzt aber (Gottes) Volk seid. Im Unterschied zur deutschen Übersetzung, die durch den bestimmten Artikel und ‚Gott’ theologisch angereichert ist, und deshalb den Ersatz Israels als Bundesvolk nahelegt, spricht der griechische Text nur davon, dass die Angehörigen der Jesusgemeinden (neben Israel) auch auserwählt, heilig und ‚Volk’ seien. Demnach wäre die Kirche durch den Messias geheiligtes Heiden-Volk, das dem Bundesvolk an die Seite gestellt ist.  (6) 

Das theologische Problem – es geht um die Existenz der Kirche
Über zwei Jahrtausende haben antijüdische Theologie und Frömmigkeit nicht nur das Verhältnis der Kirche zu Israel bestimmt, sondern auch die Übersetzungen der Bibel geformt. Kein Wunder, dass es keinen christlichen Konsens darüber gibt, ob das Neue Testament frei von Antijudaismus ist oder nicht. Aber die Klärung dieses Problems ist nicht nur von historischem Interesse, sie hat grundsätzliche theologische Bedeutung.
Für jede Kirche, auch für die Synagoge, sind die biblischen Schriften mehr als die historische Quelle ihrer Religion. Sie sind autoritativer Kanon für Verkündigung und Lehre, für Glaube und Leben. Wäre das Neue Testament auch nur in Teilen judenfeindlich, würde Antijudaismus unwiderruflich zum Inhalt kirchlicher Verkündigung und christlichen Glaubens gehören. Die Kirche wäre eine Gemeinschaft, zu deren Wesen die Gegnerschaft zum Judentum gehört. Ihre Existenz als solche wäre zutiefst fragwürdig.
Die damit angedeutete Krise greift tiefer als die der Reformation. Denn noch nie war das Berufungszeugnis der Kirche, das Neue Testament, und damit ihre Existenzmöglichkeit so grundsätzlich in den Zweifel gezogen. Der Zweifel geht nicht von Auschwitz aus, sondern von dem, was sich unter dem Blickwinkel der Verheißungen der Schrift nach Auschwitz zeigte und was evangelische und katholische Kirchen anerkannt haben: die bleibende Erwählung Israels. Dieser Glaubenssatz schließt Antijudaismus für alle weiteren Glaubenssätze aus. Der Kirche bleibt nichts anderes als ihre Hoffnung auf die Reinheit ihres Berufungszeugnisses zu setzen.
„Ich möchte mich immer noch nicht befreunden mit der These von einem Antijudaismus im Neuen Testament, noch habe ich die Hoffnung, dass sich entsprechende Stellen anders lesen lassen als durch die antijüdische Brille. Aber dass seit dem 2. Jahrhundert die theologische Lehre des Christentums ein einziges Attentat auf den Glauben der Juden war, lässt sich leider nicht leugnen… Die Integrität des Christentums ist zerstört. Es ist mit ihm zu Ende, oder: Es muss neu anfangen.“  (7) 
Vielleicht geht es darum, ob der Messias Jesus durch seine Apostel aus der Völkerwelt Heiden berufen und zu einer Gemeinschaft, zu seinem Leib, gesammelt hat, die seinem Volk Israel Errettung von unsern Feinde (Lk 1,71; Apg 15,16) bringt. Wird es eine Kirche geben, die Israel freundschaftlich zugewendet und von Herzen her wohl gesonnen ist, weil sie von der Tora und ihren Verheißungen spirituell gefangen genommen ist? Diese Frage kann die Kirche im Ringen um den Heiligen Geist, nach Jes 63,11f dem auf die Befreiung Israels sinnenden Geist, nur selber beantworten.
  
(1) Das gilt nicht für die orthodoxen Kirchen. Dementsprechend betrifft der Problemhorizont dieses Artikels nur Katholiken und Evangelische, unter denen in den 60er Jahren eine starke Bewegung des Umdenkens einsetzte, für erstere mit dem 2. Vatikanischen Konzil, für letztere mit der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag.
(2) Es kann also auch nicht von einer Weiterentwicklung des Gottesbildes vom Alten zum Neuen Testament gesprochen werden.
(3)  Christliche Leser biblischer Texte haben das Problem bei der Lektüre draußen zu stehen und jüdische Kritik an anderen Juden als Kritik an Juden und so wie von selbst als Allgemeinurteil über die Juden zu verstehen.
(4) Anklänge daran finden sich auch im Neuen Testament. Siehe z.B., mit welchen Weherufen (Mt 23,13-36) die schriftgelehrten Pharisäer bedacht werden, von denen gleichzeitig gesagt wird: Alles nun, was sie euch sagen, tut und befolget (Mt 23,3).
(5) Die Idee einer messianischen Befreiung, die von außerhalb des erwählten Volkes auf dieses zukommt, kennt schon das Alte Testament. In Jes 45,1-7 wird der Perserkönig Kyros als Messias angesprochen, weil er Israel aus dem Exil befreit.
(6) Diese Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche greift auf das Alte Testament zurück. Im Blick auf den Auszug Israels aus Ägypten lesen wir 2Mos 12,38: Auch viel fremdes Volk zog mit ihnen. ‚Fremdes Volk’ kann sich auf  jüdisch Gewordene beziehen, die beschnitten sind und auch das Pesach mitfeiern, wie auf mitziehende Unbeschnittene (2Mos  12,48). Dazu vgl. F. W. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie, Bd. 2, Gütersloh 1994, S. 160, 163.
(7)  F.W. Marquardt, Was meint: So Gott will und er lebt? Begegnungen, Zeitschrift für Kirche und Judentum, Nr. 3, 2008, S. 9.

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email