Die Bibel der Juden in der evangelischen Kirche
Die Wiederentdeckung der Hebräischen Bibel in der Reformation
von Bertold Klappert

Evangelische Theologie und Kirche sind im hohen Maße durch die Wiederentdeckung der Hebräischen Bibel bestimmt gewesen.

• Martin Luther entdeckt die Rechtfertigungslehre, der zufolge Gott den Sünder aus reiner Gnade in seine Gemeinschaft zurückholt, bei der Auslegung von Psalm 31,2, wo der Beter zu Gott schreit: „Rette mich durch deine Gerechtigkeit!“ Hier kam nicht die von Luther so gefürchtete richtende Gerechtigkeit zu Wort, der zufolge Gott die Guten belohnt und die Sünder bestraft. Sondern hier entdeckte Luther die befreiende Gerechtigkeit, der zufolge Gott den Sünder ohne Wenn und Aber annimmt und ihm seine Gemeinschaftsgerechtigkeit schenkt.

• Noch intensiver war die Begegnung mit der Bibel der Juden in der reformierten Reformation. Johannes Calvin ging als Humanist nicht nur ganz selbstverständlich auf den Hebräischen Text der Bibel zurück, sondern benutzte auch eifrig die jüdische Auslegungstradition und las diese im Ori- ginal. Allerdings fehlt bei Calvin über diese literarische Begegnung mit dem Judentum hinaus eine dialogische Begegnung mit lebendigen Juden.

• Diese erfolgte dann bei dem leider viel zu wenig bekannten reformierten Reformator Wolfgang Fabricius Capito, der nicht nur eine vielfach aufgelegte Grammatik des Hebräischen schrieb, sondern der auch engen Kontakt zu jüdischen Menschen hielt, nicht zuletzt mit dem damaligen Repräsentanten des deutschen Judentums, Josel von Rosheim, der sogar Capitos Vorlesungen besuchte. Der Kern seiner Theologie bestand in der biblisch begründeten und in seinem Hosea-Kommentar ausführlich entfalteten These: Die Juden /Jüdinnen werden nicht in den Bund Gottes mit der Kirche, sondern umgekehrt werden Christ/ innen in den ungekündigten Bund Gottes mit seinem Volk Israel aufgenommen.

Trotz dieses gewaltigen Aufbruchs hin zur Hebräischen Bibel hat es die Reformation nicht geschafft, auch den Aufbau der jüdischen Bibel von „Tora, Propheten und Schriften“ zu übernehmen. Das ist zum ersten Mal durch die „Bibel in gerechter Sprache“ (BigS) geschehen, etwa gleichzeitig auch in Holland (De Naardense Bijbel 2006).

Die notwendige Rückkehr zu den reformatorischen Anfängen

Umkehr und Neuanfang, wie sie nach der Shoah (bzw. Auschwitz) langsam eingesetzt haben, müssten zu diesen Anfängen der Reformation zurückkehren. Wer weiß noch, dass entsprechend der synagogalen Tradition in den reformierten Kirchen der Waldenser in Italien und Deutschland (Ostfriesland) statt des Kreuzes über dem Altar die 10 Gebote über dem Tisch des HERRN oder neben der Kanzel hingen? Und zwar mit der vollen bei Luther fehlenden, weil befreiungstheologisch ausgerichteten Exodusformel: „der ich Dich aus Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe“? Wer weiß noch, dass Calvin anders als das gesamte Neukirchener Kommentarwerk die Propheten nicht als Überwinder oder Höhepunkt, sondern schlicht als Ausleger der Tora verstanden und noch 1561 eine Synopse zu allen Toraweisungen der 5 Bücher Mose verfasst hat? Wer benutzt, um ein praktisches Bespiel von heute zu nennen, zur Vorbereitung seiner Predigten und Bibelarbeiten den kleinen Talmud von R. Mayer, die Auslegungen von R. Grandwohl, die inzwischen erschienenen Bände von „Predigen in Israels Gegenwart“ oder gar den Genesis- und Exoduskommentar von Benno Jacob oder die Gebetstraditionen im Siddur der Synagoge bis heute? Welcher Prediger erinnert seine Gemeinde am Sonntag daran, welche Texte und Feste in der Synagoge am gestrigen Schabbat gefeiert und gepredigt wurden?

Mit der Reformation über die Reformation hinausgehen

Aber wir müssen nicht nur zurück, sondern mit der Reformation auch über die Reformation hinausgehen: Wir dürfen die Säuglingstaufe nicht mehr als Ersetzung der jüdischen Beschneidung, sondern müssen sie im Zusammenhang mit der jüdischen Proselytentaufe verstehen. Wir dürfen das Abendmahl nicht mehr aus der Antithese zum jüdischen Passahmahl, ja als ein „Gegenmahl“ Jesu zum Passahmahl (G. Theissen) missverstehen. Sondern wir müssen unsere Abendmahls- und Eucharistie-Feiern (beide Worte stammen aus der jüdischen Passahmahltradition!) wieder im Zusammenhang mit dem aus allen Sklavereien herausweisenden und so Befreiung stiftenden synagogalen Passahmahl verstehen, ohne selber usurpatorisch ein verchristlichtes Passahmahl feiern zu wollen.

Wir müssen weiter um die Revisionsbedürftigkeit und -notwendigkeit unserer kirchlichen Bekenntnisse aus biblischer und jüdischer Perspektive wissen und behutsame Reformulierungen vornehmen. Und wir müssen damit aufhören, die traditionelle Trinitätslehre patriarchal als Lobpreis an „Vater, Sohn und Geist“ zu verengen, anstatt sie als Auslegung des 1. Gebotes und, was besonders zu betonen ist, als Auslegung des namens des Gottes Israels und der Völker zu verstehen. Wir würden dann nicht mehr mit dem Alttestamentler R. Smend (Göttingen) sagen können: „An die Stelle des Namens Jahwe … ist im Neuen Testament der Name Jesus Christus getreten“ (1970).

Das NAMENsbekenntnis regiert die GOTTesaussage

Wir würden dann auch unsere Eingangsvoten in unseren Gottesdiensten verändern bzw. präzisieren. Wir beginnen meistens: „Im Namen Gottes, des Vaters …“ Oder „Im Namen des dreieinigen Gottes …“ Wir müssen unsere Gottesdienste mit der Heiligung des NAMENS des Gottes Israels beginnen: „Im NAMEN des einen GOTTes (5. Mose 4,6), des Vaters im Sohn durch den Heiligen Geist“(so die Fortschreibung des Rheinischen Synodalbeschlusses von 1980 in der Arbeitshilfe von 2009). Darin würden wir als ökumenische Gemeinde vom Beginn unserer Gottesdienste an deutlich machen, dass die trinitarische Lebendigkeit und Wirklichkeit des EINEN Gottes, der seinen NAMEN in der Geschichte seiner Taten vom Exodus bis zur Auferweckung des Gekreuzigten ausgelegt und in die Tat umgesetzt hat, den ganzen Gottesdienst von Anfang bis zum Ende bestimmt.

Wir würden dann den Gottesdienst nicht mit der ständig freihändig geänderten Gottesformel „GOTT segne dich und GOTT behüte dich …“, sondern mit der Namensformel des aaronitischen Segens (4. Mose 6,24–27) beenden. Im Namen Jesu Christi dürfen und sollen wir „Meinen, JHWHs NAMEN auf die Gemeinde Israel legen, damit ICH selbst sie segne“(4. Mose 6,27). Diesen Segen spreche ich in den Gottesdiensten wie folgt: „Der NAME segne Dich …; der EWIGE lasse Sein Angesicht leuchten über Dir …, der HERR hebe sein Angesicht auf Dich …“ Damit bringe ich zum Ausdruck: Alle Bei- Namen sind Auslegungen des einen NAMENS des Gottes Israels und der Völker.

Wir würden dann auch unsere Gebete reformulieren bzw. präzisieren. Wir würden nicht mehr einfach mit der Anrede „Gott“ oder „Guter Gott“ oder „Ewiger Gott“ beginnen. Wir würden von Martin Buber her auf den einen, weder männlich noch weiblich festgelegten Namen antworten: „du, barmherziger und gerechter GOTT“. Oder: „DU, ewiger, dreieineiniger GOTT“. Wir würden das Vater Unser nicht beten, indem wir mit der Gottesformel beginnen: „GOTT, Vater und Mutter für mich und mächtig im Himmel“ (Matthäus 11,25 nach der Übersetzung der BigS), sondern wir würden in Antwort auf die NAMENs-Offenbarung an Israel beten: „DU, mütterlicher und väterlicher GOTT im Himmel“.

Keine Ersetzung des Israel-Namens

Rudolf Smend hatte mit der gesamten judenfeindlichen exegetischen und dogmatischen Tradition bis heute nicht nur davon gesprochen, dass der alttestamentliche Name Gottes durch den Namen Jesu ersetzt würde. Er hatte auch mit der judenfeindlichen Tradition seit dem 2. Jahrhundert gesagt, „dass an die Stelle der beiden Namen Jahwe und Israel im Neuen Testament der Name Jesus Christus getreten ist“ (1970).

Die Namensvergessenheit im Blick auf den GOTT Israels hatte nämlich zugleich auch zur Israelvergessenheit im Blick auf das Volk dieses GOTTes geführt. Mit verhängnisvollen theologischen, aber auch gesellschaftlich- politischen Konsequenzen. So konnte man metaphysisch (übernatürlich) von Gott reden, ohne von der weitergehenden Treuegeschichte Gottes gegenüber seinem Volk Israel bis heute zu sprechen. So kann man heute zu Recht die Menschenrechtsverletzungen Israels in Jerusalem und Palästina anprangern. Auch ich habe bei meinem letzten Jerusalem-Besuch im Oktober 2009 mit Bestürzung festgestellt, wie der arabisch-palästinenische Teil Jerusalems mehr und mehr jüdisch aufgekauft wird. Auch ich habe auf meiner Fahrt vom Flughafen nach Jerusalem vorbei an Ramallah mit Trauer gesehen, wie der leider nötige Zaun bzw. die leider unverzichtbare Mauer zwischen Israel und Palästina völkerrechtswidrig über weite Strecken der palästinensischen Gebiete verläuft. Aber ich habe dann, nach Deutschland zurückgekehrt, ebenso feststellen müssen: Nur ein ganz kleiner Teil unserer deutschen Bevölkerung, die sich so gerne israelkritisch zu äußern versteht, weiß, dass die iranische Atomrüstung zur Auslöschung ganz Israels zu 2/3 auf dem high-tec-Export aus der Bundesrepublik Deutschland beruht und hier erneut gilt: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.

Lichter und Wahrheiten in den Religionen

Eine an der Reformation geschulte und auf „die eine Bibel in zwei Testamenten“ hörende und vom Lernen mit und vom Judentum herkommende Evangelische Theologie und Kirche wird über den jüdisch-christlichen Basisdialog hinaus, der sich zum christlich-muslimischen Dialog öffnen muss, auch den Dialog mit den anderen Weltreligionen suchen. Dabei kann ihr die eigene Bibel Mut machen, diesen Dialog nicht religionspluralistisch von einem allgemeinen Religionsbegriff aus, sondern im Zusammenwirken von Zeugnis und Dialog zu führen, im Wissen darum, dass auch die eigene Bibel diesen weisheitlichen Dialog bereits geführt hat: mit den kanaanäischen Hochreligionen des EL/ höchsten Gottes, mit der ägyptischen Weisheit oder mit der babylonischen und persischen Tradition der Gerechtigkeit und des Rechts, mit der hellenistischen Weisheit, die vom Kreuz Christi begrenzt, aber nicht beseitigt wird.

Da Jesus Christus „das Licht ist, das allen Menschen leuchtet“ (Johannes 1,9), da die Geisteskraft JHWHS, des Ewigen, seit der Schöpfung und erneuert durch Pfingsten ausgegossen ist auf alles Fleisch, können und dürfen, ja müssen wir außerhalb der Kirche mit Lichtern in der Schöpfung, mit kulturellen, philosophischen, politischen, gesellschaftlichen und auch mit religiösen Wahrheiten im Weltgeschehen rechnen, die uns von außen her ökumenisch fragen, unsere kirchlich-christomonistische Enge infrage stellen und uns auf den bisher nicht erkannten größeren Reichtum der Bibel als eines adventlichen Buches verweisen. Und mit der Bibel auf den Messias Jesus, den verheißenen Gesalbten des EWIGEN, des Gottes Israels und der Weltvölker, in welchem alle Schätze der Weisheit versammelt sind (Kolosser 2,3).

Die eine christliche Bibel in zwei jüdischen Büchern

Die evangelische Kirche lebt, wenn sie um ihre Herkunft aus der Reformation weiß, von der Bibel der Juden, von unserem „Ersten Testament“ im unlösbaren Zusammenhang mit dem Neuen Testament. Sie muss dabei wissen, dass auch das Neue Testament „ein jüdisches Buch“ (Barth 1938) ist und dass „das Evangelium eine Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“ (L. Baeck 1938) darstellt. Sie hat aber diese„eine Bibel in den zwei Testamenten“ nicht etwa hinter sich nach dem heute oft gehörten und gern vernommenen Motto: Die Bibel haben wir genug durchforscht, lassen wir uns nun der Archäologie der Bibel zuwenden. Die Evangelische Kirche hat die Bibel der Juden zusammen mit dem jüdischen Neuen Testament noch immer vor sich: als ein entscheidend aus der Zukunft adventlich auf uns zukommendes Buch, das uns die Möglichkeit gibt und vor die Notwendigkeit stellt, uns den Herausforderungen des christlich-jüdischen, des christlich-islamischen, des feministischen Dialoges heute zu stellen und unsere gesellschafts- politische Verantwortung im 21. Jahrhundert wahrzunehmen.

Bertold Klappert em. Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel
Quelle: Junge Kirche 2/2010

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