Der Jesus der Evangelien als Ausleger der Tora
Auslegung im Kontext des Judentums
von Klaus Wengst

Nach den Evangelien hat Jesus die Tora weder abgeschafft noch überboten. Er hat sie ausgelegt. Um das zu zeigen, beschränke ich mich im Wesentlichen auf einen Ausschnitt aus dem Matthäusevangelium, der in der christlichen Auslegungsgeschichte immer wieder für das Gegenteil benutzt und dementsprechend auch unter die Überschrift „Antithesen“ gestellt wurde: Mt 5,21-48. Doch bietet Jesus hier keine „Antithesen zum Gesetz“, sondern Auslegungen der Tora.

Ich gehe so vor, dass ich zunächst nachzeichne, in wie starker Weise Jesus – nicht nur im Matthäusevangelium – die fraglose Geltung der Tora herausstellt, dass ich dann das sechsmal in Mt 5,21-48 gebrauchte Schema bespreche und schließlich an einem Beispiel inhaltlich auf die Auslegung eingehe.

Die unbedingte Geltung der Tora

Dass die Tora fraglos gilt, bringt der matthäische Jesus in 5,17-20, den ersten drei Versen der leseleitenden Einleitung zum Abschnitt 5,21-48, massiv zum Ausdruck. In V. 17 verneint er zweimal, es sei Ziel seiner Sendung, „die Tora und die Propheten zu annullieren“. Ziel seiner Sendung ist im Gegenteil, sie „zu bestätigen“, „aufzurichten“, „zu verwirklichen“. Die wörtliche Übersetzung der positiven Aussage ist „erfüllen“. Sie steht im antithetischen Gegenüber zu „auflösen“, „annullieren“. Letzteres wird in V. 19 noch einmal aufgenommen. Dort steht auf der positiven Seite anstelle von „erfüllen“ das Tun und Lehren. Damit gibt Matthäus einen Hinweis, wie er das „Erfüllen“ versteht. So entspricht es auch dem hebräischen Sprachhintergrund und der rabbinischen Verwendung. In ihr ist die übliche Entgegenstellung „annullieren“, „zunichte machen“ und „aufrichten“, „zustande bringen“, „verwirklichen“ (batal und qum, jeweils im Piel). So heißt es Mischna Avot 4,9: „Wer die Tora in Armut verwirklicht, wird sie am Ende in Reichtum verwirklichen; und wer die Tora im Reichtum zunichte macht, wird sie am Ende in Armut zunichtemachen.“

Kein Jota und kein Strichlein vergeht, auch das kleinste Gebot gilt

Der folgende Vers 18 unterstreicht die bleibende Geltung der Tora dadurch, dass von ihr kein einziges Jota vergeht. Dem entspricht, was Rabbi Schim’on ben Jochaj lehrte: „Das Buch Deuteronomium stieg hinauf, warf sich hin vor dem Heiligen, gesegnet er, und sagte vor ihm: ‚Herr der Welt, Du hast in Deiner Tora geschrieben: Jedes Testament, das teilweise ungültig ist, ist ganz ungültig. Und sieh doch, Salomo will ein Jod aus mir herausreißen!‘ Der Heilige, gesegnet er, sagte zu ihm: ‚Salomo und tausend wie er vergehen, aber von dir vergeht kein Wort‘“ (Jerusalemer Talmud, Sanhedrin 2,6).

Nach Mt 5,18 wird nicht nur „kein einziges Jota“, sondern auch „kein einziges Strichlein aus der Tora vergehen“. Das mit „Strichlein“ übersetzte Wort (keraía) kann sich auf die Zierstriche beziehen, die in Torarollen seit der Antike bis heute an bestimmten Buchstaben angebracht werden und für das Lesen ohne jede Funktion sind. In der Geschichte von Mose im Lehrhaus Rabbi Akivas stehen diese Zierstriche für die mündliche Tradition (babylonischer Talmud, Menachot 29b): Mose trifft Gott am Sinai dabei an, wie er selbst diese Zierstriche in einer Torarolle anbringt. Auf seine Verwunderung darüber bekommt er zur Antwort, dass Rabbi Akiva aus jedem Strichlein „Halachot über Halachot“ entwickeln wird. Beim anschließenden Aufenthalt im Lehrhaus Rabbi Akivas versteht Mose nichts, obwohl dort doch nichts anderes geschieht, als dass Mose ausgelegt wird; er beruhigt sich, als er zu hören bekommt: „Das ist Halacha des Mose vom Sinai.“ Die mündliche Tora erhält so dieselbe Autorität wie die schriftliche von Gottes Handeln am Sinai her. Dass „kein Strichlein aus der Tora vergeht“, würde also über die unbedingte Geltung der schriftlichen Tora hinaus auch die der mündlichen feststellen. Das ist für das Matthäusevangelium alles andere als abwegig. In Mt 23,2 stellt Jesus fest, dass „auf dem Lehrstuhl des Mose die Schriftgelehrten und die Pharisäer sitzen“. Für Matthäus sind damit die rabbinischen Weisen seiner Zeit im Blick, die die Tora auslegen. Anschließend lässt er Jesus dessen Hörerschaft auffordern: „Alles nun, was immer sie euch sagen, tut und haltet!“ (Mt 23,3a) Da die – hier in erster Linie angeredeten – Schüler im Matthäusevangelium transparent für die Gemeinde sind, heißt das: Die mündliche Tora wird als verbindlich für die matthäische Gemeinde erklärt.

In Mt 5,19 wird die Annullierung auch nur des kleinsten Gebotes sanktioniert, während das Tun und Lehren der Gebote Verheißung erhält. Auch hier ist ein Blick auf Mt 23 hilfreich. Dort werden in V. 23 das Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel einerseits und das Recht, das Erbarmen und die Verlässlichkeit andererseits unterschiedlich gewichtet. Aber dann heißt es abschließend: „Dies muss man tun und darf jenes nicht lassen.“ Also auch das Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel ist verbindlich, was nicht Gebot der schriftlichen, wohl aber der mündlichen Tora ist.

Tatsächlich tun, was gesagt ist

An der Intention der Verse Mt 5,17-19 im Ganzen gibt es nichts zu deuteln: Die Tora gilt unbedingt und ohne jeden Abstrich. Das wird auch durch V. 20 nicht zurückgenommen: „Ich sage nämlich: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ In Luthers Übersetzung ist von einer Gerechtigkeit die Rede, die „besser“ sein soll. Damit wird ein qualitativer Unterschied suggeriert. Der griechische Text enthält jedoch zwei eindeutig quantitative Begriffe (perisseúo, pleion), die ich mit der Einheitsübersetzung mit „weit größer“ wiedergegeben habe. Worum es geht, wird wiederum aus Kap. 23 deutlich, wenn Jesus nach der Aufforderung, alles zu tun und zu halten, was „die Schriftgelehrten und Pharisäer“ sagen, in V. 3b distanzierend fortfährt: „Gemäß ihren Taten handelt aber nicht! Sie sagen’s nämlich nur, tun’s aber nicht.“ Matthäus beobachtet offenbar auf der anderen Seite eine Diskrepanz zwischen Lehre und Handeln. Solche Diskrepanz kommt bei Menschen vor. Aber Matthäus lässt sie für seine Darstellung der anderen Seite die alles bestimmende Perspektive sein, weshalb er ihre führenden Vertreter in Kap. 23 immer wieder als „Heuchler“ abqualifiziert. Ihm liegt an der Einheit von Lehre und Handeln. Die Gerechtigkeit, die „weit größer“ ist als die der anderen, besteht also darin, dass auch wirklich getan wird, was gesagt worden ist. Um solche Einheit ging es aber selbstverständlich auch dem rabbinischen Judentum.

Auf die Frage nach dem ewigen Leben verweist Jesus gemäß seiner Tradition auf die Gebote (Mt 19,17/Mk 10,18/Lk 18,20). Dafür werden anschließend beispielhaft Dekaloggebote aufgezählt, bei Matthäus zusätzlich das Gebot der Nächstenliebe. Erst wer weiter fragt, was ihm dann noch fehle, wird zur Nachfolge aufgefordert. Auch hier gilt also die Tora als eine selbstverständliche und grundlegende Gegebenheit, die in nichts in Frage gestellt wird.

Die Zusammenfassung der Tora hebt die Einzelgebote nicht auf

Das schließt es keineswegs aus, dass Jesus in den Evangelien die Tora zusammenfassen und in ihr gewichten kann. Aber auch damit verhält er sich nicht anders als seine jüdische Tradition. Nach Mt 7,12 sagt er: „Alles nun, was immer ihr wollt, dass euch die Leute es tun, das tut ihr ihnen ebenso. Denn das ist die Tora und die Propheten.“ Diese Aussage kommt sachlich ganz eng überein mit der „Geschichte über einen Nichtjuden“, „der zu Schammaj kam. Er sagte ihm: ‚Mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Bein stehe.‘ Er jagte ihn mit einer Bauelle weg, die in seiner Hand war. Er kam zu Hillel. Der machte ihn zum Proselyten. Er sprach zu ihm: ‚Was dir verhasst ist, das tue deinem Mitmenschen nicht an! Das ist die ganze Tora; alles Weitere ist Auslegung. Geh, lerne!‘“ (Babylonischer Talmud, Sabbat 31a) Der Unterschied zwischen Schammaj und Hillel ist nicht der, dass Schammaj die ganze Tora für verbindlich hält, während Hillel meine, auf sie zugunsten der Goldenen Regel verzichten zu können. Selbstverständlich hält auch Hillel die ganze Tora für verbindlich. Das zeigt sich am Schluss, wenn er zum Lernen auffordert – der Tora in ihren Einzelgeboten. Aber er kann die ganze Tora in der Goldenen Regel zusammenfassen und damit den Einzelgeboten Richtung und Linie geben. Auch Jesus verzichtet nicht darauf, auf Einzelgebote zu verweisen und als Ausleger welche zu formulieren. Aus dem Tatbestand, dass die Goldene Regel bei Hillel negativ, bei Jesus positiv formuliert ist, auf eine Überlegenheit des neutestamentlichen Textes über den talmudischen zu folgern, ist nicht in der Sache, sondern im christlichen Überlegenheitswahn begründet. Denn einmal gibt es auch die positive Fassung an anderen Stellen der jüdischen Tradition; und zum anderen ist die positive Fassung keineswegs davor geschützt, im Sinne des berechnenden Egoismus gebraucht zu werden. Die negative und die positive Fassung enthalten einen je besonderen Aspekt, der jeweils nur so zum Ausdruck gebracht werden kann. Was mir verhasst ist, weiß ich in der Regel viel besser als das, was ich mir positiv wünsche. Und dass ich anderen antun könnte, was ich, mir selbst angetan, gar nicht leiden kann, ist keine selten auftretende Gefahr, die mit der positiven Fassung nicht erfasst ist. Die wiederum betont die Aktivität im positiven Handeln für den Nächsten. Beide Aspekte haben ihr Gewicht; sie sind komplementär und sollten deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Außer in der Goldenen Regel kann Jesus die Tora im doppelten Liebesgebot zusammenfassen, in der Liebe zu Gott und zum Mitmenschen (Mt 22,34-40/Mk 12,28-34/Lk 10,25-28). In Mt 22,40 stellt er ausdrücklich fest, was den Schluss von Mt 7,12 anklingen lässt: „An diesen beiden Geboten hängt die ganze Tora und die Propheten.“ Sie haben damit dieselbe Funktion, die in der rabbinischen Tradition eine „große Zusammenfassung“ (k’lal gadól) hat. Als eine solche bezeichnet Rabbi Akiva das Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18, während zwei Kollegen Gen 5,1 mit dem Hinweis auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen für eine noch größere halten (B’reschit Rabba 24,7). Die „große Zusammenfassung“ zeigt die Perspektive auf und gibt die Dimension an, in denen die Einzelgebote zu tun sind.

Schließlich zeigt sich eine enge Entsprechung zwischen Jesus und der rabbinischen Tradition darin, wie innerhalb der Tora gewichtet wird.. In Mt 23,23 benennt Jesus drei Dinge als „das Gewichtigere in der Tora“: „das Recht, das Erbarmen und die Verlässlichkeit“. Dem kommt sehr nahe, was Rabban Schim’on ben Gamliel formuliert: „Auf drei Dingen steht die Welt: auf dem Recht, auf der Verlässlichkeit und auf dem Frieden“ (Mischna Avot 1,18).

Geltung der Tora und Auslegung der Tora

Jesus kann also die Tora zusammenfassen und in ihr gewichten. Er hat kein fundamentalistisches Verständnis der Schrift, wie das auch bei den Rabbinen nicht der Fall ist. Das ergibt sich auch daraus, dass er die mündliche Tora, die Auslegung der Tora, akzeptiert. Der Zusammenhang zwischen Geltung der Tora und Auslegung der Tora tritt unmittelbar in Lk 10,26 hervor, wenn Jesus dem Toragelehrten, der ihn nach dem Erlangen des ewigen Lebens fragt, die Gegenfrage stellt: „In der Tora – was steht da geschrieben? Wie liest du sie?“ Zunächst fällt auf, dass die erste Frage nicht glatt formuliert ist, sondern dass die Wendung „in der Tora“ betont vorangestellt wird. Das ist die Basis – nicht nur des Toragelehrten, sondern selbstverständlich auch die Jesu, die Basis, auf der die Frage nach Tun und Leben sinnvoll und hinreichend beantwortet werden kann. Und so fragt Jesus zunächst, was in ihr geschrieben steht. Er fügt sofort eine weitere Frage hinzu: „Wie liest du sie?“ Eine Reihe von Bibelübersetzungen verdunkelt hier, indem ganz analog zur ersten Frage formuliert wird: „Was liest du?“ Es geht dabei nicht um eine Kleinigkeit. Jesus fragt hinsichtlich dessen, was geschrieben steht, wie es gelesen wird. Wie kommt man darauf, dennoch mit „was“ zu übersetzen? Diese Übersetzer haben doch auch gemerkt, dass im Text zwei unterschiedliche Fragepronomina stehen. Wahrscheinlich haben sie sich zu dem Verständnis als einer gleichsinnigen Doppelfrage – was steht geschrieben, was liest du? – dadurch verleiten lassen, dass der Toragelehrte anschließend zitiert: „Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben … und deinen Nächsten wie dich selbst!“(Lk 10,27) Er führt also an, was geschrieben steht und was er liest. Was sie jedoch nicht bemerkt haben, ist, dass hier durch Ineinanderfügen zweier Zitate Schrift mit Schrift ausgelegt wird, dass dieses Zitieren zugleich ein Auslegen, also eine Antwort auf die Frage nach der Art und Weise des Lesens ist. Mit dem „Wie“ nach dem „Was“ fragt Jesus nach der sammelnden Mitte der Lektüre der Tora, nach der wegweisenden Perspektive durch ihre vielen Einzelgebote. In den beiden anderen synoptischen Evangelien wird an den Parallelstellen ausdrücklich nach dem „ersten“ bzw. „großen“ Gebot in der Tora gefragt. Bei Lukas geschieht das implizit in der Frage nach dem Wie der Lektüre. Sie macht deutlich: Heilige Schrift ist nur als ausgelegte rezipierbar. Und so tritt Jesus in den Evangelien als Ausleger der Tora auf.

Das Schema von Mt 5,21-48 – nicht: „Ich aber sage“, sondern: „Ich nun sage

Erinnert man sich an die Aussagen von Mt 5,17-20 und ihre Intention und macht sich klar, dass diese Verse die Einleitung zu dem Abschnitt 5,21-48 bilden und so die Funktion einer Leseanweisung für diesen Abschnitt haben, ist es schlechterdings ausgeschlossen, dass Matthäus ihn als „Antithesen zum Gesetz“ verstanden haben könnte. Von dieser Einleitung her muss es sich um Auslegungen der Tora handeln. Sechsmal wird aus der Tora zitiert, und sechsmal findet sich unmittelbar anschließend eine Auslegung dazu. Das antithetische Verständnis sieht seine Berechtigung in der sprachlichen Form der Einleitung dessen, was Jesus jeweils nach dem Zitat sagt; dort steht in der üblichen Übersetzung „Ich aber sage“ (egó de légo). Das de wird somit adversativ verstanden und das „Ich“ gilt als betont, weil im griechischen Text die Person schon mit dem Prädikat gegeben ist und also fehlen könnte, wenn sie nicht hervorgehoben werden sollte. Die Übersetzung mit „Ich aber sage“ ist sprachlich möglich, aber sie ist keineswegs die einzige Möglichkeit. Zum einen begegnet es im neutestamentlichen Griechisch öfter, dass das im finiten Verb schon mitgesetzte und deshalb überflüssige Personalpronomen dennoch steht, obwohl sich vom Kontext her nicht erkennen lässt, dass eine Hervorhebung beabsichtigt sei (vgl. Mt 16,18). Zum anderen ist es auffällig, dass kai (üblicherweise: „und“) sehr häufig nicht anknüpfend, sondern leicht adversativ und de sehr häufig nicht leicht adversativ, sondern anknüpfend gebraucht ist. Letzteres findet sich im Zusammenhang von Mt 5,21–48 am Beginn von V. 31: erréthe de. Wenn das die Elberfelder Bibel mit: „Es ist aber gesagt“ wiedergibt, ist das schlicht sinnwidrig (vgl. auch Mt 19,9). Beide genannten Phänomene erklären sich vom hebräischen Sprachhintergrund: kai und de stehen für hebräisches ve, das beide Leistungen enthält. Auch die Setzung des Personalpronomens ist durch den hebräischen Sprachhintergrund bedingt: Weil das Hebräische das Präsens mit dem Partizip konstruiert, muss das Personalpronomen gesetzt werden, um die gemeinte Person eindeutig zu kennzeichnen. Hinter egó de légo steht die hebräische Wendung vaaní omér. Bei ihr handelt es sich – wie bei scheneemár (erréthe: „es ist gesagt [worden]“), womit ein Schriftzitat eingeleitet wird – um exegetische Terminologie, die eine Auslegung einleitet. Die Übersetzung in der „Bibel in gerechter Sprache“: „Ich lege das heute so aus“ trifft das von Matthäus Gemeinte. Die Einsicht, dass sich das in Mt 5,21-48 angewandte Schema hebräischem Sprachhintergrund verdankt, falsifiziert die Behauptung von auf den „historischen“ Jesus zurückgehenden „ursprünglichen Antithesen“, die gesetzeskritisch seien. Mit dem „historischen“ Jesus müsste man sich in den aramäisch-hebräischen Sprachbereich begeben. Da jedoch weder die Wendung vaaní omér („Ich nun sage“) antithetisch noch das „Ich“ in ihr hervorgehoben ist, verliert diese Behauptung selbst den Schein des Rechts.

Auslegung im Kontext des Judentums

Dass nicht antithetisch zu verstehen ist, ergibt sich auch vom Inhalt. Im Vergleich mit der rabbinischen Tradition zeigt sich in allen sechs Fällen weitgehende sachliche Übereinstimmung. Das sei kurz am ersten Beispiel gezeigt. Jesus legt in Mt 5,22 das Dekalogverbot zu morden so aus: „Wer immer seinem Bruder oder seiner Schwester zürnt, wird vom Gericht verurteilt. Wer immer zu seinem Bruder oder zu seiner Schwester sagt: ‚Du Hohlkopf!‘, wird vom Synhedrium verurteilt. Wer immer sagt: ‚Du Trottel!‘, wird in die Feuerhölle verurteilt.“ Die nächste Parallele hierzu bietet ein Zeitgenosse des Matthäus. Von Rabbi Elieser ben Hyrkanos heißt es: „Wer seinen Mitmenschen hasst, siehe, der gehört zu denen, die Blut vergießen“ (Derech erets rabba 11). Er begründet diese Aussage mit Dtn 19,11: „Denn es ist gesagt: ‚Und wenn ein Mensch seinen Nächsten hasst und ihm auflauert und sich gegen ihn erhebt‘“. Sowohl die Auslegung Jesu als auch die Rabbi Eliesers sind als Rechtssatz formuliert. Weder hier noch da ist im Ernst daran gedacht, dass die Hassenden bzw. Zürnenden tatsächlich vor Gericht gestellt werden. Mit der Übertragung von Rechtsformen in den nichtjustiziablen Bereich liegt hyperbolische Rede vor, die für latente Vorformen des Mordens sensibilisieren will.

Natürlich ist Jesus für die Evangelisten nicht irgendein Ausleger. Aber seine Besonderheit ergibt sich nicht aus den Inhalten seiner Auslegungen der Tora, nicht aus dem, was er gesagt und getan hat, sondern aus einem Geschehen, in dem er zutiefst passiv war. Sie gründet im Zeugnis, dass Gott den Gekreuzigten in endzeitlich-neuschöpferischer Tat von den Toten auferweckt und zum Messias gemacht hat. Von daher kann etwa Matthäus die Lehre Jesu auf dem Berg (Mt 5–7) als Regierungsprogramm des messianischen Endzeitkönigs zu verstehen geben.

Zusammenfassung

Nicht nur an Mt 5,17-20 wurde gezeigt, dass für den Jesus der Evangelien die Tora unbedingte Geltung hat. Weder die Betonung des Gewichtigeren in der Tora noch ihre Zusammenfassungen in der Goldenen Regel oder dem Liebesgebot heben die Einzelgebote auf. In den sechs Abschnitten von Mt 5,21–48 stellt Jesus den Zitaten aus der Tora nicht sein „Ich aber sage“ entgegen, sondern gibt – mit „Ich nun sage“ eingeleitet – seine Auslegungen, die sich im Kontext des ihm zeitgenössischen Judentums bewegen.

ebenfalls erschienen in: Bibel und Kirche 1.Qu. 2010

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email