Warum ich kein Rabbiner in Deutschland mehr werden will
von Yoav Sapir

Als ich mich vor mehr als zwei Jahren für den Weg entschied, in Deutschland eine Zusatzausbildung zum Rabbiner zu machen, lagen meiner Entscheidung bestimmte Erwartungen zugrunde. Nach zwei Jahren Zusatzstudium in Deutschland und einem zweimonatigen Praktikum in der israelischen Heimat, bei dem sich mir die Lage des Jüdischen in Deutschland erneut bzw. in nun mehr unverhüllter Weise präsentierte, musste ich mir zugestehen, mich anfangs in manch kardinalen Punkten geirrt, ja geradezu getäuscht zu haben.

Geistesgrößen aus der Not

Womit sollen wir anfangen? Vielleicht mit der Unmöglichkeit (aus meiner Perspektive natürlich), jüdische Feste im nichtjüdischen Ausland zu begehen: Keine Synagoge, so fromm ihre Besucher (in ihren eigenen Augen) auch sein mögen oder sein zu müssen glauben, so groß sie ist oder schön gebaut, kann die natürliche Lebendigkeit jüdischer Straßen und jüdischer Städte, die Allgegenwärtigkeit der Feste im jüdischen Ländle ersetzen. Und wer daran zweifelt, der versuche mal, in Israel den Advent so richtig zu erleben: Nicht einmal in Jerusalem ist man damit mehr als eine randständige Kuriosität, die man den begeisterten Touristen aus Tel Aviv zeigt. Das jüdische Deutschland lässt sich insofern einfach nicht «normalisieren», weil jüdisches Leben in Deutschland, England, Frankreich an und für sich nicht wirklich normal ist und dies, wie wir inzwischen (leider?) wissen, auch nie war. Ja, Juden leben fast überall, wie Deutsche auch oder Ungarn usw. usf., doch die Heimat kann man nicht im Koffer mitnehmen. Im Ausland zu leben wie die Sachsen in Siebenbürgen, tief verwurzelt und dennoch nicht von hier: Das kann man sich davon noch erhoffen, aber so toll ist so etwas auch wieder nicht. Und das ständige Bemessen nach den Maßstäben der Vorkriegszeit? Nichts mehr als die Sehnsucht nach einer anderen, vergangenen, angeblich besseren Pathologie. Schon die damaligen Umstände waren alles andere als normal; wie können sie nur betrauert werden? Aus der Not entstanden Geistesgrößen, nun gut, aber um welchen Preis? Ja, wir haben Europa viel geschenkt; aber nein, wir haben in Europa nichts so Großartiges hinterlassen, wofür es sich lohnen könnte, sich nach dem Damals zu sehnen. Jedwede Nostalgie wäre hier falsch am Platz. Besser ist es für die Nation und vor allem klüger, mit weniger Feinheit im eigenen Lande souverän zu sein, als sich am Rande der Geschichte durch intellektuelle Leistungen auszuzeichnen. Und wer will oder soll - vielleicht weil er sich, wie ich mich, beruflich darauf spezialisiert hat -, der kann hier erst recht in Sicherheit leben; in der Sicherheit, die einem nur das Wissen um die ferne Heimat geben kann. Moses Mendelssohn? Sigmund Freud? Walter Benjamin? Oder vielleicht Hannah Arendt? Danke, nein. Das sind bei allem Respekt - und davon gibt es bei mir viel - doch keine Vorbilder. In Deutschland zu leben, zu denken und zu schreiben, kann ich mir heute nur deswegen leisten, weil ich als Jude im jüdischen Land geboren und im jüdischen Staat aufgewachsen bin. Nun bin ich hier also, und das tue ich, um mich, wie seit etlichen Jahren, auch fürderhin mit dem schweren und schwierigen Erbe auseinanderzusetzen. Nicht jenes von Mendelssohn und Benjamin ist es, sondern das deutsche Erbe, an dem auch die feinsten Juden von damals nie wirklich beteiligt waren. Leider? Vielleicht. Aus meiner jenseits des Meers verwurzelten Perspektive ist hier jedenfalls nichts zu bedauern.

Vor kurzem haben sich hier zwei Regierungen getroffen: jene des deutschen Nationalstaates und diejenige des jüdischen Nationalstaates. Aber nennen wir das Kind doch mal einfach beim Namen! Die deutsche Regierung und die jüdische waren es, die sich getroffen haben. Unter den Ministern, die zu diesem Zweck nach Deutschland gereist sind, gibt es keine Geistesgrößen. Doch eine jüdische Regierung, die einer deutschen Regierung als ebenbürtig gegenübersitzen kann, ist an und für sich viel mehr als alles, was die deutsch-jüdischen Intellektuellen je erreichen konnten. Diese einfache Tatsache dürfen wir nicht vergessen, wenn uns die Versuchung der Nostalgie zu überwältigen sucht.

Mühevolles Theater

Was nützt es, koscher zu essen, wenn man sich dann während der Mahlzeit auf Deutsch, Englisch oder Französisch unterhält? Eine verkehrte Parallelgesellschaft ist es dann - sowohl der deutschen als auch der jüdischen gegenüber. Wenn wir mal ehrlich sind: Man ist dann doch weder richtig deutsch noch richtig jüdisch. Wozu also die ganze Mühe? Diese «Mühe» ist ein Theater. Eine Schauspielerei, die (meistens) in wöchentlichen Abständen auf der Schaubühne dieser und jener Synagoge stattfindet. Ausnahmen gibt es zwar, aber wenige, viel zu wenige. Aufgetreten und aufgeführt wird im Namen von Traditionen, mit denen die Schauspieler recht wenig bis (meistens) gar nichts verbindet. Gute Schauspieler sind das (meistens) auch nicht. Ein Professor - einer der wenigen, die sich der eigentlichen Problematik bewusst sind -, meint, der Hang zum hohlen Formalismus sei notwendig, um sich wieder zu judaisieren; notwendig, damit erst künftige Generationen über die Verkrampftheit hinauswachsen könnten. Und dann? Was erwartet uns dann? Eine Wiederherstellung des bürgerlichen Biotops, der anderthalb Jahrhunderte keimen musste, bevor er einen Franz Rosenzweig hervorbringen konnte? Und da waren wir doch schon! Das, was die Geschichte verworfen, sollten wir Menschen uns vielleicht doch nicht anmaßen. Und wenn die Schauspieler mal wirklich darüber hinaus, darüber hinweg wollen: Dann wenden sie sich eh der Zukunft zu und gehen dorthin, wo das Jüdische nicht getan werden muss.

Es gibt in Deutschland nicht wenige, die «übertreten» wollen. Und wie es im Internet ist, gelangen sie von Zeit zu Zeit auch an mich. Sie bitten um Ratschläge, stellen theologische Fragen oder suchen nach Bestärkung und Bestätigung. Kurzum: Sie tun mir Leid. Sie tun mir deswegen Leid, weil sie weitaus mehr aufbringen müssten, als sie können und wollen, und stattdessen bei Rabbinern, die dafür (meistens) auch a bissl Geld verlangen, nach Abkürzungen suchen.

Wer meine Texte gründlich verfolgt und trotzdem noch Jude werden will, fragt in seiner ersten Mail an mich nicht nach solchen Abkürzungen, sondern packt seinen Koffer und geht dahin, wo er hingehören möchte. Aber die anderen: Was kann man denen zurückschreiben? Dass sie es - ganz ehrlich - besser sein lassen sollten? Darf man in solchen Situationen überhaupt ehrlich sein? Wirklich ehrlich? Immer wieder stellt sich die Frage erneut. Ihr wollt also Juden werden? Na dann, bitteschön: Macht, was Ruth gemacht. «Wo du hingehst, dort gehe ich auch hin». Dann kommt das Schwierigste: «Dein Volk ist mein Volk». Und wenn ihr soweit seid, könnt ihr euch auch die nächste Stufe überlegen: «...und dein Gott ist mein Gott». Ihr wollt das Pferd ja nicht von hinten aufzäumen und euch ganz tief mit dem Himmel befassen, noch bevor eure beiden Füße fest im irdischen Israel stehen. Ja, so «einfach» ist es. Gut, ihr wollt Juden werden, also vergesst den «Übertritt» und assimiliert euch. Macht, was Abraham gemacht: Geht fort aus diesem Land, verlasst eure Heimat und eure Verwandtschaft, und zieht in jenes Land, das Gott seinem Volk gezeigt hat. Verschweißt euer Schicksal mit dem Israels, bis ihr bereit seid, mit ihm emporzusteigen oder auch unterzugehen. Auf Rabbiner seid ihr dabei genauso wenig angewiesen wie Ruth es war. Und dann, vielleicht dann wäre es an der Zeit, sich richtig tief mit dem Gott Israels, von dem ihr inzwischen Teil geworden seid, zu befassen. Aber in Europa? Surreal.

Was nützt es, den hebräischen Ruhetag sogar mit Liturgie zu verbringen, wenn in der real existierenden Umwelt gleich danach keine neue Woche beginnt, sondern das Wochenende erst seinen Höhepunkt erreicht? Das Wichtige an Festen, der Kern ihres Wesens, ist nicht der nachgerückte, theologische Überbau (der ja auch an ganz gewöhnlichen Wochentagen noch bzw. schon gilt), sondern die gemeinschaftliche Basis. Darum die Unmöglichkeit, jüdische Feste hier wirklich zu begehen: Zu Chanukka fühle ich mich hier nicht unbedingt «alleine», weil meiner Familie fern; das geschieht vielmehr erst zu Weihnachten, obwohl ich ja gar kein Christ bin, mit christlicher Theologie auch nicht gerade sympathisieren kann, meine Familie nie Weihnachten zur Kenntnis nimmt und das Fest in meiner Heimat, die mich geprägt hat, bis auf arabisch-christliche Randerscheinungen kaum eine öffentliche Rolle spielt. Seltsam? Wohl gar nicht.

An Mentalitätsunterschieden darf es liegen, dass so viele Auslandsjuden sich hingegen vor Weihnachten scheuen und sich der Umwelt gegenüber, deren Kalender, deren natürlicher Uhr abschotten. Gravierende Unterschiede sind es, weil die Auslandsjuden einfach nicht soweit sind (und dies auch nicht sein können): Hiesigen Juden erscheint es (meistens) irgendwie unmöglich, am Heiligabend in eine Kirche zu gehen, um sich einmal im Jahr, wenn auch nur als Kulturtourist, auch so etwas anzuschauen und zu -hören, ja vielleicht sogar an der Umwelt teilzunehmen. Wo rührt also die Abneigung her (die mit einfachem Desinteresse nicht verwechselt werden sollte)? Nicht daran liegt es, dass man es schon zigmal getan hätte, sondern daran, dass man Angst hat, vor allem sich selber dadurch weniger jüdisch zu erscheinen, ja weniger jüdisch zu werden; es ist in der Angst begründet, der Umwelt, in der man aufgewachsen und sozialisiert worden ist, deren Sprache (und normalerweise keine jüdische!) die eigene Muttersprache ist etc., somit noch ähnlicher zu werden, vielleicht erst recht zu ähnlich. Diese psychologische Situation ist mir und meinesgleichen, die wir im jüdischen Ländle aufgewachsen sind, zwar völlig nachvollziehbar, aber zugleich ist diese Angst auch etwas, worüber man eigentlich längst hinausgewachsen ist. Unser Jüdisch-Sein können wir durch nichts verlieren; wir könnten genauso gut weniger jüdisch werden, wie wir unseren Akzent verlieren könnten. Im deutschen Land feiert man Weihnachten, im jüdischen Land feiert man Chanukka. So einfach ist es, wenn die Geschichte einem mit dem Glück beschert hat, weder im Herzen noch im Kopf einer Minderheit anzugehören. Und ein Deutscher in Israel hat auch keine Angst, an seiner Identität etwas einbüßen zu müssen, wenn er sich vom Jüdischen, das ihn unwillkürlich umgibt, ab und zu hinreißen lässt.

Im goldenen Käfig

Verweilen wir doch noch einen Augenblick beim Thema «Mentalitätsunterschiede». Es ist ein wichtiges Thema. Zum Beispiel dann, wenn es um Antisemitismus geht. Genauso oft, wie der Antisemitismus hierzulande wieder zum (wenn auch nur halbwegs) öffentlichen Thema wird, muss ich hier einen gewissen Abgrund wahrnehmen zwischen den (meisten) Hiesigen und (vielen) Israelis. Hiesige Juden haben nämlich Angst vor dem (wenn auch meist latenten) Antisemitismus und machen sich deswegen oft auch richtige Sorgen. Warum? Nicht nur deswegen, weil sie körperlich unversehrt bleiben wollen; zu solcherlei kommt es in Deutschland eh kaum noch. Viel wichtiger ist ihnen etwas anderes, nämlich die Bestätigung, dass ihre Zukunft «stimmt», d.h. dass sie in die Umgebung, in der sie aufgewachsen und mit der sie vertraut sind, wirklich hingehören. Ob alteingesessene Professoren oder frische Abiturienten: Die Angst vor dem Antisemitismus rührt vor allem daher, dass bereits dessen bloßes Möglich-Sein sie daran erinnert, dass es «Deutsche mosaischen Glaubens» nie wirklich gab und jetzt, nach dem Krieg, erst recht nicht mehr geben kann. Jedes Anzeichen von deutschem oder europäischem Antisemitismus droht mithin ihre Emanzipation, um welche sie bangen, erneut infrage zu stellen. Es ist zwar ein grundlegendes Bedürfnis menschlicher Psychologie, das ich vollkommen nachvollziehbar finde und wofür die Auslandsjuden meine Sympathie haben; und dennoch handelt es sich um etwas, worüber man als Inlandsjude schlichtweg hinausgewachsen ist: Unsere Identität kann uns keiner mehr wegnehmen, weil sie dem jüdischen Land entwachsen und in keinster Weise auf die Akzeptanzbereitschaft anderer, d.h. einer nichtjüdischen Umgebung, angewiesen ist. Die jüdische Emanzipation hat sich inzwischen vollends in Israel verwirklicht, und auf diejenigen, die sie annehmen und beherzigen, vermag der europäische Antisemitismus keinen Schatten mehr zu werfen. Es ist jedoch eine grundsätzlich andere Einstellung zum Leben, eine grundsätzlich andere Perspektive hat man auf alles, was man tut, wenn man unwillkürlich (und ohne eigene Schuld) doch auf diese nie wirklich prüfbare Akzeptanz angewiesen ist und seine Identität immer wieder neu erkämpfen muss. Mir erscheint es manchmal wie ein goldener Käfig, der in einem tief eingebaut ist und aus dem leider nur die allerwenigsten Erwachsenen es noch schaffen. Trotz der «Kluft», die man hier so gerne zwischen den (oft sowieso polnischen) Alteingesessenen und den russischsprachigen «Flüchtlingen» konstatiert: Unterm Strich haben sie - die, die schon lange in diesem deutschen Ausland sind, und die, die ein ukrainisches Ausland gegen dieses deutsche getauscht haben - doch ziemlich viel miteinander gemeinsam.

Mehr Deutscher als Auslandsjude

Steht man außerhalb des Goldenen Käfigs, so hat man wiederum eine Perspektive, mit der diejenigen, die ihren mentalen Käfig gar nicht merken können, oft recht wenig anfangen können oder wollen. Wer es dann doch kann und will? Die Mehrheitsbevölkerung, die großteils ebenfalls ein ziemlich souveränes Bewusstsein hat. Oft muss der fremde Inlandsjude, der keine so große Erfahrung hat auf dem Gebiet des Minderheitendenkens, feststellen, dass er viel mehr mit den Deutschen gemeinsam hat als mit den Auslandsjuden. Nun also, das deutsche Publikum war da, um sein Interesse an meiner Perspektive zu bekunden, und so durfte ich mich im letzten Jahr über mehrere Einladungen zu öffentlichen Auftritten an Gedenktagen etc. freuen. Allein das jüdische Publikum zeigte sich hingegen - zugegeben: wie fast immer - eher rückwärts gewandt und an Intellektuellem desinteressiert. Wie schon oben gesagt, kann ich das verstehen, muss ich auch: Wenn man so viel Energie investiert, um auf der Bühne sein Ding richtig vorzuführen, bleibt einem keine Kraft mehr fürs Eigentliche, fürs Wahrhaftige. Solche Entwicklungsstufen lassen sich nicht einfach überspringen, und leider ist die hiesige Judenheit bis auf wenige Ausnahmen nicht in der Lage, über den Formalismus, dieses Theater von Jüdisches-Tun (anstatt einfach Jüdisch-Sein), hinauszuwachsen. Das, was sie brauchen oder zumindest wollen, möchte ich nicht liefern. Und mit dem, was ich anbieten kann und will, können sie wiederum (noch?) nichts anfangen. Und die Deutschen? Ja, sie sind nach wie vor da, sie melden sich auch immer wieder, aber sie brauchen erst recht keinen Rabbiner. Zeit war es also für eine Umbesinnung; für eine Entscheidung, die diesem Zustand, der mir zwei Jahre früher noch nicht so klar gewesen war, Rechnung trug.

Yoav Sapir, M. A., ist Historiker und freier Mitarbeiter bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Er schreibt mit einem «israelischen Blick auf Deutschland» zu jüdischen und deutschen Themen, nachzulesen unter: www.chronologs.de/yoavsapir/.

Jüdische Zeitung, April 2010

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