Der Staat Israel
von Klaus-Peter Lehmann

1. Das Problem

Die Gründung des Staates Israel ist in der Völkergeschichte ohne Analogie. Noch nie hatte ein Volk zweitausend Jahre Exil überlebt und dann auf dem ehemaligen Heimatboden wieder eine politische Heimstätte errichtet. Dieses Novum stellt die Kirchen vor die Herausforderung einer Revision ihrer Geschichtstheologie. Alle Kirchen hatten die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 p. C. als Ausdruck des gerechten Zornes Gottes über das alte, abtrünnige Bundesvolk interpretiert und die folgende, bis ins 20. Jahrhundert andauernde, gefährdete und staatenlose Existenz der Juden als ewige Strafe für den angeblichen Mord an Gottes Sohn und ihren böswilligen Unglauben angesehen. Die Gründung des jüdischen Staates im Jahre 1948 entlarvte diese Sicht der Geschichte als judenfeindliche Phantasie. Mit einer adäquaten Würdigung des Staates Israel tun sich die Kirchen dennoch schwer. Ähnliches gilt für die säkulare Weltsicht im Schatten der kirchlichen Geschichtsdeutung.

2. Ablehnende Reaktionen auf die Staatsgründung Israels

Im November 1947 beschloss die UNO für das britische Mandatsgebiet Palästina einen Teilungsplan, der die Gründung eines jüdischen Staates vorsah. Der Staat Israel wurde am 14. Mai 1948 ausgerufen. Die arabischen Staaten gingen ohne Erfolg militärisch gegen den jungen Staat vor. Auf diese Vorgänge reagierten die Kirchen, indem sie alte Besitzansprüche wiederholten. Trotz Auschwitz fehlte jede Empathie für die jüdische Leidensgeschichte.
Der Osservatore Romano kommentierte, der Name Israel, den der neue Staat trägt, gehöre ihm nicht. Das wahre Israel sei die Kirche. Der Bruderrat der ev. Kirchen bekräftigte: „Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirchen übergegangen.“ Der Ökumenische Rat der Kirchen meinte vorauszusehen, dass die Schaffung des Staates Israel den Antisemitismus vergrößern würde.
Die Gründung des Staates Israel stieß in den Kirchen auf geschlossene Ablehnung und weckte alte antijüdische Reflexe: als ob die Juden am Antisemitismus selber schuld seien. Alle offiziellen Erklärungen distanzierten sich zwar vom Antisemitismus. Aber vor diesem Hintergrund und mit der beigefügten Erklärung, es ginge darum, die Glaubwürdigkeit der Judenmission nicht zu beeinträchtigen, erscheinen sie fragwürdig.

3. Umorientierung

Erst durch den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 kam es zur Auseinandersetzung mit der kulturellen Allgegenwart des Antisemitismus und seinen Wurzeln im Christentum. Auch angestoßen vom christlich-jüdischen Dialog nahm man nun die lange Leidensgeschichte des jüdischen Volkes im christlichen Abendland zur Kenntnis. Damit eröffnete sich die Sicht auf den > Zionismus als einen Weg ins Freie für die Juden. In der Katholischen Kirche und in den lutherischen und reformierten Kirchen Westeuropas kam es zu einem grundsätzlichen Wandel in der Einstellung zum Staat Israel.
Papst Johannes Paul II. erklärte 1987, neunzig Jahre nach dem 1. Zionistenkongress: „Nach der Schoa hat das jüdische Volk eine neue Epoche seiner Geschichte begonnen. Es hat ein Recht auf ein Heimatland, wie es jede Nation gemäß dem internationalen Recht hat.“  Die diplomatische Anerkennung durch den Vatikan folgte 1993.
Als theologische Stellungnahme ist der Synodalbeschluss der Ev. Kirche im Rheinland von 1980 hervorzuheben. Er spricht von der „Einsicht, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind.“  (1)

4. Die theologische Dimension

Für die Bibel, das Zeugnis von der Bundesgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel, gehören in der Rede von Gott folgende Aspekte untrennbar zusammen: Gott befreit, gebietet und verheißt (Tora); Gott erwählt sich ein Volk als ewigen Träger und ersten Adressaten seiner Gebote und Verheißungen für die Menschheit (Bund mit Israel); Gott erwählt eine Heimstatt für sein Volk, die Tora und ihre Verheißungen (Land Israel).
Nach neutestamentlichem Zeugnis ist Jesus der Messias für Israel. Er hat die Verheißungen für Israel und die Menschheit mit seinem Kommen weder erfüllt noch aufgelöst, sondern bestätigt (Lk 1,54f). Für die Kirche Jesu Christi bedeutet das: Ihre Rede von Gott kann von Israel, seinen Verheißungen und seinem Land nicht absehen; im Blick auf die biblischen Landverheißungen muss der christliche Glaube den Staat Israel als Bestätigung des Bundes Gottes mit dem jüdischen Volk ansehen; die Kirche ist zur Solidarität mit Israel verpflichtet.
Deshalb sind die traditionellen Benennungen für das verheißene Land wie ‚Palästina’ oder ‚Heiliges Land’ zutiefst problematisch. Sie sind der Ausdruck kirchlicher bzw. arabischer Besitzansprüche und leugnen die Gültigkeit der Verheißungen für Israel.

5. Israel – der Jude unter den Staaten?

Gegenüber dem Staat Israel werden immer wieder Zweifel an seiner Existenzberechtigung laut, die in der Staatenwelt ohne Analogie sind.
Oft wurden die Juden nur als Religionsgemeinschaft angesehen, nicht aber als ein Volk. Deshalb war für eine Zeit, in der der Begriff des völkisch begründeten Nationalstaats vorherrschte, ein jüdischer Staat unvorstellbar. Dementsprechend fand der Zionismus auf kirchlicher und säkularer Seite keine Beachtung. Auch heute bereitet es vielen Schwierigkeiten, die Juden in ihrer Besonderheit als Volks- und Religionsgemeinschaft gleichzeitig anzuerkennen.
Bei keinem anderen Staat wurde so wie bei Israel immer wieder die Existenzberechtigung problematisiert, wenn die Regierung zweifelhafte politische und militärische Entscheidungen getroffen hatte. Niemals sonst wird einem Staat wegen der Politik seiner Regierung die Legitimation abgesprochen. Hierher gehört der Antizionismus, der den Staat Israel wegen unrechtmäßiger Aktionen, die mit seiner Gründung verbunden waren, nicht anerkennen will. Welcher Staat der Welt gründet nicht auf Unrecht? Der Antisemitismus misst mit zweierlei Maß.
Die UNO-Resolution vom 10.11.1975, die den Zionismus als rassistische Ideologie verurteilte,  (2)  hat die Völkergemeinschaft inzwischen zurückgenommen. Dennoch verhandeln UNO-Gremien unverhältnismäßig oft über die Politik Israels. Öffentliche Medien sehen in der Politik Israels immer wieder eine angeblich alttestamentarische Vergeltungslogik am Werk. Vergleiche mit Hitlers Völkermordpolitik beschränken sich heute auf den arabischen Raum, wo eine islamistische Weltanschauung an Boden gewinnt und mit der islamischen Vorstellung von der Unverlierbarkeit besessener Territorien (Dar al-Islam) Israel die Existenzberechtigung abspricht.

(1) Ähnlich die Landessynode der ev. Landeskirche in Baden 1988: „die Gründung des Staates Israel ein Zeichen ein Zeichen des Weges Gottes mit Israel.“
(2) Bemerkenswert ist die umgehende Reaktion der EKD-Synode, die den Zionismus als Befreiungsbewegung würdigte und die Bundesregierung aufforderte, seine Gleichsetzung mit Rassismus nicht hinzunehmen. Mutig war die zeitgleiche Erklärung des DDR-Kirchenbundes gegen den Antizionismus, der damals politische Richtlinie im Ostblock war.

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