Vom Ende des Sozialismus
Die Kibbuzim stehen Anfang des 21 Jahrhunderts vor einer Zerreißprobe zwischen Anpassung und Prinzipientreue
von Monika Sauer

In diesem Jahr feiert die utopische Kibbuzidee ihr 100-jähriges Bestehen. Die erste israelische Kollektivsiedlung, der Kibbuz Degania Alef, wurde 1910 von russischen Zionisten am See Genezareth gegründet. Anspruch der Gründer war es, mit «hebräischer Arbeit» - als nicht der im Kolonialismus üblichen, billigen Lohnarbeit der Ureinwohner - das «Land Israel» zu bewirtschaften, als eine klassenlose, basisdemokratische, geschlossene Gemeinschaft zusammenzuleben, jüdische Neuankömmlinge zu integrieren und, ab den 1920er Jahren, eine wehrhafte Speerspitze in der Eroberung des arabischen Palästinas zu bilden. Bis in die 1950er Jahre entstanden so hunderte Kibbuzim, die an die Prinzipien der Gründer anknüpften und sich in Ideologie und Arbeitsfeld sehr ähnlich waren: eine ethnisch abgegrenzte Gesellschaft, in der das Menschenbild des «neuen Juden» kreiert und die militärische und politische Elite des Landes herangezogen wurde. Jahrzehntelang war der Kibbuz Inbegriff eines «besseren Israels» und Gegenstand romantischer Verklärung im Ausland. Doch das Nationalsymbol und sozialistisch-zionistische Konstrukt erfährt seit Jahren eine Radikalkur, der mittlerweile die Mehrheit der Kibbuzim unterzogen ist. Vor einem halben Jahr gab es sogar den ersten Fall, in dem ein Palästinenser als Kibbuznik akzeptiert wurde, was bis dato ideologisch streng ausgeschlossen war. Nichts ist mehr, wie es war.

Erste Veränderungen in der gar nicht mehr heilen Welt des Kibbuz traten in den 1970er Jahren ein, als die Landwirtschaft, bis dahin wirtschaftliches Standbein der Kollektivsiedlung, nicht mehr genügend Einnahmen lieferte. So wurden in vielen Kibbuzim Fabriken aufgebaut. Aus dem sonnengebräunten und immer gutgelaunten «Kibbuznik» vom Felde wurde der neonbelichtete, augenumrandete Schichtarbeiter. Hinzu kam, mit der Wirtschaftskrise Mitte der 1980er Jahre, der allmähliche Umschwung im Umgang mit den eigenen Idealen. Die Kibbuzim litten unter enormen Schulden und einer damit verbundenen Hoffnungslosigkeit ihrer Mitglieder. Ein gesellschaftlicher Wertewandel, von einer Mangelgemeinschaft mit starker Kollektividentität hin zu einem neuen Familienideal, Individualismus und materiellen Ansprüchen, brachte das Übrige.

Nach Angaben von Aviv Leshem, dem Sprecher der säkularen Kibbuzbewegung «Ha-Tnua Ha-Kibbuzit», verließen in der Zeit von 1985 bis 2004 mehr als 20.000 Kibbuzniks diese Lebensform. Gleichzeitig fand ein weiterer Wechsel der Kibbuzwirtschaft hin zur Industrie und Dienstleistung statt. Heute trägt die Landwirtschaft durchschnittlich nur noch 15 Prozent zum Einkommen der Kibbuzim bei. 70 Prozent aller Einkünfte stammen aus Industrie, Handel und Dienstleistung, 15 Prozent aus dem Tourismus. Mehr als zwei Drittel aller Kibbuzim waren in den Krisenjahren finanziell so angeschlagen, dass auch ein staatliches Hilfsprogramm zur Abzahlung der Schulden, das seit 1997 läuft und bis 2013 abgeschlossen sein soll, nicht mehr helfen konnte. So begannen in den 1990er Jahren viele Kibbuzim notgedrungen ehemals kostenlose Leistungen für ihre Mitglieder in Rechnung zu stellen oder ganz zu opfern. Zudem fanden externe Methoden der Mitarbeitermotivation und Arbeitsgestaltung Einzug. Das ureigenste Prinzip, die Gleichheit des Pro-Kopf-Einkommens, wurde schließlich von zwei Drittel der Kibbuzim zu Anfang des neuen Jahrtausends aufgegeben. Ein Drittel hat die ursprünglichen Prinzipien beibehalten oder sie nur geringfügig angepasst. Laut Aviv Leshem seien heute gerade die traditionell gebliebenen Kibbuzim aber die vermögendsten.

Die derzeit 273 Kibbuzim mit ihren 120.000 Mitgliedern sind, wie schon seit den 1950er Jahren, ideologisch tief gespalten. Auch innerhalb der zwei Hauptlager sind sich die Kibbuzmitglieder oftmals nicht einig oder sogar zerstritten. Aviv Leshem stammt selbst aus einem Kibbuz, in dem noch traditionelle Prinzipien der Gemeinschaft gepflegt werden. Diese sozialistische Orientierung wird jedoch bereits von der Hälfte der Mitglieder in Frage gestellt, so dass er selbst nicht sagen kann, ob sein Kibbuz noch in fünf Jahren genauso idealistisch sein wird. Vis-a-vis treffe dies auch auf die reformierten Kibbuzim zu, die jedoch den Schritt zurück nicht mehr machen könnten, so der Sprecher der Kibbuzbewegung. Die große Mehrheit, 257 Kibbuzim, zählt heute zur säkularen Kibbuzbewegung. Derzeit lediglich 16 Kibbuzim mit circa 800 Angehörigen sind religiös orientiert. Ihr Motto, eine ideologische Ausprägung, die in den 1930ern Jahre geboren wurde, lautet «Tora we-Avodah», Torastudium und Arbeit. Sie werden durch den Dachverband «Ha-Tnua Ha-Kibbutz Ha-Dati» vertreten.

Mehr Pluralismus

Laut Aviv Leshem, dem Sprecher der säkularen Bewegung, teilen zwei Methoden der Einkommensverteilung die bestehenden Kibbuzim in «Reformer» und «Traditionalisten» ein. Die große Mehrheit, fast 70 Prozent, orientiert sich an Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Das Einkommen der Mitglieder wird nach Gehaltsindex und Arbeitsumfang berechnet. Vom Kibbuz werden jedoch immer noch einige Prozente vom Bruttogehalt abgezogen, die der Gemeinschaft und den Mitgliedern zugute kommen, deren Gehalt unter dem Minimum liegt. Diese «traditionelle, gemeinschaftliche» Methode der Einkommensverteilung findet sich bei etwa 30 Prozent der Kibbuzim. Hier erhalten alle das gleiche Grundeinkommen zur privaten Nutzung. Lediglich die Familiengröße oder Dauer der Kibbuzzugehörigkeit können zu höheren Zuwendungen führen. Mittlerweile haben sich fast ein Drittel der traditionell orientierten Kibbuzim dazu entschlossen, Mehrarbeit entsprechend zu vergüten.

Die Kibbuzbewegung befürwortet beide Ausprägungen, die traditionell-gemeinschaftliche wie auch die reformorientierte Methode. Der Dachverband bezeichnet diese Akzeptanz als «Wende der Bewegung hin zu einer pluralistischen Gemeinschaft von Kibbuzim, fähig zur Koexistenz, trotz ideologischer Unterschiede». Das war nicht immer so. Gerade in den Gründerjahren führten ideologische Konflikte unter Kibbuzniks zu oft lebenslangen Feindschaften, Kibbuzspaltungen waren keine Seltenheit. Solange solidarische Grundwerte weiterhin gepflegt würden, so Aviv Leshem, blieben die Reformierten «noch richtige Kibbuzim». Und damit berechtigt, staatliche Förderungen zu erhalten. Zur rechtskräftigen Abgrenzung der Zuschreibung «traditionell», «reformiert» oder «städtisch» (ein in die Stadtintegrierter traditioneller Kibbuz) berief die Regierung im Jahr 2002 ein Expertenkomitee unter der Leitung des Tel Aviver Soziologieprofessors Eliezer Ben Rafael ein. Sollten die definierten Richtlinien nicht erfüllt werden, so darf sich eine Siedlungsgemeinschaft nicht mehr Kibbuz nennen.

Itzik Shafran vom traditionellen Kibbuz Ein Ha-Schofet erläutert, warum die Mitglieder seiner Siedlung den einstigen Idealen treu geblieben sind. In seinem Kibbuz gäbe es noch ein richtiges Gemeinschaftserlebnis, erklärter. Durch das Rundum-Wohlfühl-Paket seien die circa 300 Kibbuzkinder und -jugendlichen zudem vergleichsweise verwöhnt. Die traditionalistischen «Chawerim» («Freunde») erwarten heute noch von der Gemeinschaft, dass sie ihnen im Austausch für ihre Arbeitsleistung und Solidarität ein relativ bescheidenes, aber sorgloses Leben ermöglicht. So bringen 470 Chawerim ihre Arbeitsleistung unentgeltlich für das Kollektiv ein. 70 Prozent der Mitglieder arbeiten in den kibbuzeigenen Industriebetrieben, 20 Prozent in der Landwirtschaft und zehn Prozent verdienen das Gehalt für das gemeinschaftliche Einkommen extern. Heute werde die Hälfte der Beiträge an die Mitglieder ausbezahlt. Damit müssen Leistungen wie die Mahlzeit im Speisesaal, in dem noch dreimal am Tag serviert wird, Kleidung, Reisekosten, Wasser und Strom, Ausbildung sowie Urlaub selbst bezahlt werden. Die andere Hälfte besteht aus kostenlosen Dienstleistungen wie gesundheitliche und medizinische Versorgung, Unterkunft, Rentenversicherung, Altenpflege, außerschulische Bildung und Kindergarten sowie Freizeit- und Kulturangeboten. Nach Aussage Shafrans gibt es aber immer noch Kibbuzim, in denen das Budget zu 100 Prozent in Form von Dienstleistungen ausgegeben wird. Für ihren individuellen Eigenbedarf erhalten die Kibbuzniks ein Grundgehalt in Höhe von umgerechnet wenigen hundert Euro.

Das Problem der traditionell geführten Kibbuzim liege vor allem in der Motivierung der heutigen leistungsorientierten Generation, meint Shlomit Zimring vom reformierten Kibbuz Magal. In den 1990er Jahren hätten bereits rechtliche Änderungen das sozialistische Prinzip aufgebrochen. «Alles, was sich in der Wohnung eines Mitglieds befand, gehörte nun auch offiziell ihm und nicht dem Kibbuz». Anfang des neuen Jahrtausends kam es auch in Magal zur radikalen Trennung zwischen Einkommen und Gemeinschaft. «Viele Mitglieder wollten härter arbeiten und dafür auch entsprechend leistungs- und verantwortungsgerecht bezahlt werden.» Im Anfang wurde noch eine Kibbuzsteuer in Höhe von 20 Prozent erhoben, mit denen Dienstleistungen für die Gemeinschaft und eine Art Sozialversicherung durch jedes Mitglied unterstützt wurden. Heute sind es nur noch fünf Prozent, mit denen Schlomit Zimring unter anderem den Kindergarten und außerschulische Betreuung mitfinanziert, auch wenn ihre beiden Kinder bereits erwachsen sind. Den typischen Kibbuz-Speisesaal oder eine Wäscherei gäbe es zwar immer noch, doch nur noch gegen Bezahlung. Auf die Frage, ob das Leben im Reformkibbuz die jungen Leute wieder verstärkt zur Rückkehr bewege, antwortet die Befürworterin der Reform mit Ironie, dass ihre Töchter, beide Mitte 20, das frühere «romantische» Kibbuzleben richtig vermissen würden.

Praktischer Sozialabbau

Auch im Kibbuz Givat Brenner hielten die meisten Mitglieder Prinzipien wie Basisdemokratie, gleiche Einkommensverteilung und Ämterrotation für nicht mehr praktikabel und schafften das alles im Jahr 2002 ab. Jeder Kibbuznik erhielt ein leistungsgerechtes Einkommen und ein eigenes Bankkonto. «Die wirtschaftlichen und ideologischen Schwachstellen waren einfach nicht mehr zu übersehen», meint Vera Wörner, die im Jahr 1977 aus Deutschland in den Kibbuz auswanderte und fügt hinzu, dass sie mit der Restrukturierung zufrieden sei. Sie erzählt, sie sei ursprünglich aus Glauben an die sozialistische Idee in den Kibbuz gekommen. In ihren Anfangsjahren erlebte Wörner noch, wie jedes Mitglied durch die Gemeinschaft eine Vollversorgung erhielt. «Die Menschen waren nicht reich, fühlten sich aber sicher», erinnert sie sich. Landwirtschaft gibt es heute noch in Givat Brenner, kleinere Fabriken wurden nach und nach aufgegeben und mit Handel und Dienstleistungen im Informatikbereich ersetzt. Ungenutzte Flächen und Wohnräume wurden an Privatpersonen und Firmen vermietet. Nach Wörners Aussagen hat dieser praktische Sozialabbau dem Kibbuz gutgetan.

Mitglieder gingen nicht mehr verschwenderisch mit Ressourcen um und nutzten das System nicht mehr aus. Jedoch gibt auch sie zu, dass es für Familien mit Kindern nun schwieriger sei, da unter anderem der Kindergarten und sonstige außerschulische Bildungsangebote bezahlt werden müssten. Für die Veränderungen war Wörner dennoch bereit und meint, sie seien vor allem für junge Leute attraktiv, die das angenehme Umfeld und die noch verbliebenen Bildungs- und Kulturleistungen des ländlichen Kibbuz genießen wollen, ohne sich selbst der Gemeinschaft unterzuordnen.

Die Privatisierung des öffentlichen Haushalts bedeutete, dass Mahlzeiten, Energiekosten und sonstige Kostenfaktoren des Lebens nun selbst von dem eigenen Einkommen bezahlt werden mussten. Zwar gibt es noch den typischen Speisesaal in Givat Brenner, es wird aber nur noch eine kostenpflichtige Mahlzeit am Tag serviert. Viele verpflegen sich heute ohnehin selbst, so dass der Speisesaal die Bedeutung als zentraler Treffpunkt verloren hat. Michal Sofer, eine Rentnerin, die ein paar Stunden pro Tag im Kibbuzarchiv arbeitet, berichtet von den schleichenden Veränderungen, die über Jahre hinweg den einst sozialistischen Kibbuz «total erneuerten». Nach Sofers Ansicht hätten die Veränderungen das Kibbuzleben etwas weniger interessant und attraktiv gemacht. Zudem sei eine Schere zwischen arm und reich entstanden, die lediglich durch die Kibbuzsteuer etwas abgemildert würde.

Nach zwei Jahrzehnten wirtschaftlicher Umstrukturierung und ideologischer Neuorientierung, in denen viele junge Mitglieder die Kibbuzim verließen und nicht an eine Rückkehr dachten, konnte die Kibbuzbewegung, mit der Angst vor Überalterung konfrontiert, in den letzten beiden Jahren wieder einen Zuwachs in Höhe von 2.500 neuen Kibbuzniks verzeichnen. 60 Prozent der Zugezogenen sind laut Dachverband Rückkehrer, vor allem junge Paare, die sich für ein Familienleben im Kibbuz entschieden. Die meisten Kibbuzim sind heute wieder schuldenfrei. Ob die positive Zuwachsrate nun als eine Wiederbelebung gewertet werden kann, ist noch abzuwarten. Kehrt das wichtige Vertrauen in die Gemeinschaft zurück, so könnte sich die ausblutende Kibbuzbewegung wieder erholen.

Dennoch, viele Kibbuzim liegen in der Peripherie, zu weit entfernt vom Zentrum Tel Aviv, wo es Arbeit gibt. Ob sich die verbliebenen 30 Prozent nun ebenso reformieren werden, kann an der Aussage von Itzik Schafran vom Kibbuz Ein Ha-Schofet erraten werden. In seinem Kibbuz befragte man die Mitglieder. Die Hälfte gab an, dass sie auch weiterhin so sozialistisch leben wolle, jedoch meinten 70 Prozent, dass eine Veränderung hin zu einem reformierten Kibbuz in den nächsten Jahren wohl unumgänglich sei. Das klingt wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Jüdische Zeitung, März 2010

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