Die Blut-Braut
Eine politische Liebesgeschichte
von Rachel Kowachi

Prolog
Inmitten ausgedehnter Ölbaumhaine liegt dort, wo sich dem Reisenden eine Passage durch die Berglandschaft von Samaria bietet, seit uralten Zeiten eine Stadt oder, genauer gesagt, liegen die Überreste einer Stadt, deren Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichen. Und, wie so oft in dieser Gegend der Welt, breiten sich unweit davon die Häuser ihrer modernen Nachfolgerin aus, klettern, schon zögerlicher, die Hänge der Berge zu beiden Seiten des Tals hinauf, verdrängen ungeduldig die alten, mit Disteln übersäten Felder vor ihren Toren und bahnen sich ungestüm einen Weg in das neue Jahrtausend. Eroberer kamen und verschwanden, zerstörten die Stadt und bauten sie wieder auf, die neue Eindringlinge verwüsteten, nur um auf den Ruinen ihrerseits ihre neue Stadt zu errichten, als Zeichen ihrer Souveränität, die oft kaum mehr als einhundert, selten zweihundert Jahre Bestand hatte. Das ist viel für ein Menschenleben, aber wenig in der Geschichte einer Stadt oder einer Region.
Die Höhen über dem fruchtbaren Tal der Stadt sind dagegen kahl, wie leer gefegt von dem ständigen Wind, der, hauptsächlich in den späten Nachmittagsstunden, frische Meeresluft aus dem Westen und damit Erholung von der glühenden Hitze bringt, was vor allem für den Sommer gilt, in der es jedem, der so unvorsichtig ist, sich mittags aus der schützenden Kühle seines Hauses zu wagen, vor den Augen flirrt und flimmert, während das weiße Licht ihn blind macht. Leer und kahl sind sie, diese Höhen, versengt von der mittäglichen Hitze und zusätzlich verdorrt von dem zweiten, dem anderen Wind, der des Tages über aus der trockenen Wüste im Osten weht und winzige Körner Sand und Staub mit sich führt und in alle Ritzen fallen lässt und sie füllt. Trocken und scheinbar unfruchtbar sind sie, die Höhen über dem fruchtbaren Tal, mit ihren zerklüfteten Hängen, ihren tiefen Einschnitten, in denen mühelos ein Mensch, dem es daran liegt, sich vor den Augen der anderen zu verbergen, Unterschlupf findet. Dazwischen niedrige, krumme und bucklige Bäume, die sich an die Steilhänge klammern und sich in kleinen Gruppen zusammendrängen, wie um nicht einzeln vom Wind davongetragen zu werden, während auf den Höhen nichts als harte Gräser, Disteln und Felsbrocken, wie mutwillig bei einem Spiel hingeworfen, begegnen. Ein unwirtlicher Ort, eine für den Menschen wenig einladende Gegend, die auch tatsächlich nur selten bewohnt oder besiedelt war.

Und doch hatte sich im Laufe der Jahrhunderte ausgerechnet auf diesen Höhen ein Volk niedergelassen, hatte seine bescheidenen Dörfer inmitten dieser Einsamkeit errichtet, dazu den Wald gerodet, denn damals waren nicht nur die Steilhänge mit kümmerlichen Baumresten bewachsen, vielmehr trugen die Höhen damals einen Schopf von dicht gedrängt stehenden Bäumen, die nicht nur Schatten spendeten, vielmehr boten sie den Menschen, die hierher fanden, Schutz, Baumaterial und vieles von dem, was sie zum Leben benötigten. Erst als sie in der Geborgenheit der Wälder auf den Höhen erstarkt waren, brachen sie auf zur Eroberung der Täler. Nie aber vergaßen sie die Höhen. In ihrem Glauben spielten sie weiterhin eine gewichtige Rolle, und im Laufe der Zeit errichteten sie Altäre und Heiligtümer auf den Höhen, ihr wichtigster und später einziger Tempel bekrönte ebenfalls eine Höhe.
Viele Jahre später, das Volk war vertrieben worden, die Eroberer siedelten andere Völker an seiner statt in dem Tal an, die durch immer neue Wellen von neuen Besiedlern ersetzt wurden, kehrte das Volk in seine Heimat zurück. Diesmal ließ es sich zunächst in den Tälern nieder und brach von dort auf, die Höhen der Väter wieder in Besitz zu nehmen. Das ist der Hintergrund für den Konflikt, der bis heute nicht gelöst ist und, vorläufig, wie unlösbar scheint.

Autoräder knirschen auf dem Kies. Mit einem leichten Ruck bleibt der Wagen knapp vor der Garagentür stehen. Heftig wird die Fahrertür aufgestoßen. Ein Mann wuchtet sich vom Fahrersitz ins Freie. Atmet schwer. Trotz seines massigen Körpers steht er dann erstaunlich rasch an der Tür zum Beifahrersitz. Wesentlich behutsamer als zuvor öffnet er die Wagentür und beugt sich über die Frau. In sich zusammengesunken und leicht schluchzend sitzt sie auf dem Sitz, ein Taschentuch gegen die Stirn gepresst. Er streckt ihr beide Hände entgegen. Sie greift danach und windet sich, auch sie untersetzt und schwer, mit seiner Hilfe mühsam aus dem Sitz. Wie sie nun auf unsicheren Beinen vor ihm steht, legt er ihren linken Arm über seine rechte Schulter. Die beiden hinteren Wagentüren haben sich geöffnet. Eine junge Frau steigt aus. Ohne Hast und ohne Hektik tritt sie neben die Ältere und legt ihrerseits den rechten Arm der Älteren über ihre linke Schulter. Die drei bewegen sich auf das Haus zu. Mit kleinen Schritten. Langsam. Halten inne. Gehen weiter. Mit Mühe erklimmen sie die beiden Stufen bis zur Haustür. Der Mann sucht sein Schlüsselbund in der Hosentasche. Seine rechte Hand ist nicht frei, also fischt er ungeschickt mit der linken Hand in der rechten Hosentasche. Endlich! Da ist es! Er dreht den Schlüssel zweimal um. Die junge Frau schiebt die Haustür auf und alle drei verschwinden im Haus.

Igor hat das Licht vor der Garage eingeschaltet und schreitet langsam um den Wagen, bückt sich, geht in die Hocke. Den Lack von Nahem muss er begutachten, am Heck, an den Türen auf der Fahrerseite, an der gegenüberliegenden Seite, ja, vor allem an der Tür des Beifahrers. Mit den Händen tastet er alles ab, streicht leicht über die einzelnen Teile hinweg. Hoffentlich keine Schäden, fleht er innerlich. Denn für ihre Reparatur müsste er sorgen, gleichgültig, wie beschäftigt er sonst ist. Wie selbstverständlich hat man ihm die Verantwortung für das gute Funktionieren der beiden Familienwagen auf die Schultern gelegt, ohne auch nur zu fragen, ob er sie überhaupt will. Jemand in der Familie muss halt dafür zuständig sein. Jeder in der Familie ist für etwas zuständig. Das ist normal, so ist das bei ihnen. Anscheinend ist hier alles in Ordnung. Was für ein Glück, denkt er erleichtert, als er sich aus der Hocke aufrichtet. Nein, muss er sich sogleich korrigieren. Als sich sein Blick der Scheibe am Beifahrersitz nähert, entdeckt er ein taubeneigroßes Loch. Risse laufen zackig über das Glas, verästeln sich zu immer feineren Fadenrissen, die sich am Ende der Scheibe in der Abdichtung verlieren.

„Woher zu so später Stunde?“ Igor macht fast einen Satz. David hat sich, unbemerkt von Igor, dem Wagen genähert. „David!“ Igor ist empört. „Mach das nächste Mal gefälligst Geräusche, wenn du dich mitten in der Nacht anderen von hinten näherst! Du hast mich zu Tode erschreckt.“

„Sorry, Igor. Trotzdem: Woher kommt ihr so spät? Du weißt, dass ich auf dich warte!“ David klingt vorwurfsvoll. Als der einzige bezahlte Wachmann in Izhar nimmt er seine Aufgaben und Pflichten am Ort mehr als ernst, betrachtet alle übrigen, die ihm beim nächtlichen Wachen helfen, als lästige Untergebene, die er ständig an ihre Pflichten erinnern muss. So wie den Wachdienst pünktlich anzutreten. Es ist nämlich so, dass David keine eigene Familie hat. Vielmehr haust er mutterseelenallein in einem Wohnwagen auf dem Gelände von Izhar, etwas abseits von den Häusern der Familien. So hat er es gewollt, und so hat man es ihm gegeben. Daher seine Mühe zu begreifen, wie man sich durch unwichtige Dinge wie dringende Diskussionen mit der Familie oder Erledigungen für sie derart vom Wachdienst abhalten lassen kann, dass man zu spät kommt oder aber ihn glatt vergisst.

Wie immer, wenn Igor mit David sprechen muss, fixiert er einen Gegenstand, oft einen Baum neben ihm, wenn es einen solchen gibt. Auf keinen Fall will er in seine eigentümlich wässrig blauen Augen schauen, die, wie milchig überzogen, ihn zu durchdringen scheinen. Wie ein Ziegenbock, so blickt er einen an, hat Igor mehr als einmal zu erklären versucht, wenn man ihn fragte, warum er Davids Blick immer ausweicht. Leer und seelenlos wirke er, eben wie der eines Ziegenbocks oder, in einer anderen, längst vergangenen Zeit, würde er sagen, der böse Blick geht von ihm aus. Vor dem man sich schützen muss. Den man auf keinen Fall kreuzen darf, will man Unheil von sich und seiner Familie fernhalten. Igor ist es immer, als würde ihn dieser Blick seiner Seele berauben, wenn es so etwas im zwanzigsten Jahrhundert noch gibt. Igor blickt also auf den leicht nach links versetzten Baum hinter David, bemüht, sich vor David zu rechtfertigen. „Von einer Hochzeit in Tel-Aviv. Die Stimmung war blendend. Lauter alte Freunde und Bekannte aus St. Petersburg und Moskau, Studienfreunde von Vater und Mutter. Sie haben sich schon seit Jahren nicht mehr gesehen oder immer nur ganz flüchtig auf der Durchfahrt. Alle hatten sich so viel zu erzählen. Darüber haben wir vergessen, rechtzeitig aufzubrechen. Und dann unterwegs das Malheur hier.“ Er weist auf das Loch in der Scheibe. „Noch weiß ich nicht einmal, wann ich den Wagen zur Reparatur bringen soll.“ Igor seufzt. „Nichts als Ärger.“

David begutachtet den Schaden. Dabei interessiert ihn die Ursache mehr als das Ergebnis. Der Zwischenfall muss gemeldet werden, bestimmt er. So bald wie möglich. Dieser Zwischenfall, ein weiterer in einer ganzen Serie, nährt in ihm die Hoffnung, dass der für die Sicherheit in ihrer Region zuständige Befehlshaber endlich einsieht, dass es an der Zeit ist, die Patrouillen auch auf den Nebenstraßen zu verstärken. „Aber nun geh schon! Beeil dich! Unsere Wache beginnt in einer halben Stunde.“ David klopft Igor auf die Schulter und sieht ihm nach, bis er im Haus verschwunden ist.

*

Sichtlich entspannt sitzt die Mutter im Morgenmantel auf dem Sofa. Die Beine ausgestreckt auf einem Hocker. Um den Kopf einen weißen Verband. Graue Locken darunter und darüber zeigen an, dass Rima Katan die erste Lebenshälfte bereits überschritten hat. Ja, und auch das. Mit dem Einzug in das eigene Haus in Izhar hat sie alles erreicht, was sie sich für ihr Leben immer erträumt hat. Nach einer vor allem finanziell stets unsicheren Kindheit und Jugend im nachkriegszeitlichen Leningrad, in dem noch lange Jahre die Spuren der Belagerung und Verwüstung durch die Deutschen zu sehen und zu fühlen waren und viele Einwohner körperliche und seelische Narben an und in sich trugen, hat sie eine Ausbildung als Bibliothekarin gemacht. Am Ende der Ausbildung hat sie ihren Jugendfreund Boris geheiratet. Anfangs wohnten sie bei ihren Eltern, der großen Wohnungsknappheit in der Stadt wegen. Mit den Kindern warteten sie vorläufig. Erst in den eigenen vier Wänden war Rima Katan bereit, Kinder in die Welt zu setzen. Als Ersten Igor und drei Jahre später Anja, benannt nach der Schwester ihres Mannes Boris, nach einer Toten, wie der Brauch es will. Als unter Gorbatschow in Russland das Tauwetter ausbrach, hatte Boris vorgeschlagen, fortzugehen von Leningrad und sich in Israel niederzulassen. Rima hatte bereitwillig zugestimmt, denn eine Zukunft für ihre Kinder sah sie in dem Rumpfstaat mit dem Namen GUS, der nach dem Zerfall der Sowjetunion übrig geblieben war, nicht. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft schlug Boris weiter vor, sich den Siedlern in Izhar anzuschließen. Sie folgte ihm, ohne sich diesen Schritt lange zu überlegen. Denn sie sehnte sich nach der Ruhe und Stille ihrer Kindheit an einem kleinen Ort. Freute sich, der Hektik der Stadt zu entkommen und, ja, durchaus, auf ein großes geräumiges Haus anstelle der engen Dreizimmerwohnung für vier Personen in Tel-Aviv. Es ließ sich auch alles recht ordentlich an. Niemanden, nicht Boris und nicht Rima, ja, nicht einmal die Kinder, die jetzt fast erwachsen waren, störte es, dass sie anfangs auf dem kahlen Berg in einem Wohnwagen hausen mussten, bis ihr eigenes Haus fertig war. Hier oben auf dem Berg waren die Siedler unter sich, und wenn Rima gelegentlich nach Tel-Aviv oder Jerusalem fahren musste, nahm Boris immer die große Umgehungsstraße, auf der praktisch nur die Siedler unterwegs sind. Umso schockierter reagierte sie auf den ersten Angriff, den sie nach dem Ausbruch der zweiten Intifada erlebte. Solche Angriffe auf dem Weg von und nach Izhar häuften sich. Die Siedler forderten, ihrer Meinung nach durchaus zu Recht, lauthals verstärkte Patrouillen auf der Umgehungsstraße. Die Armee patrouillierte die Umgehungsstraße, und es kam seltener zu Übergriffen durch Terroristen. Als sie in das eigene Haus einzogen, vergaß Rima, ähnlich wie nach der Geburt ihrer Kinder, ihre Schmerzen. Endlich hatten sie und Boris, hatten sie und ihre Kinder wieder ein festes Zuhause, so eines, wie sie es beinahe fünfzig Jahre davor in Flammen hatte aufgehen sehen.

*

„Wie heißt du?“
„Samira Cohen.“
„Wie alt bist du?“
„Einundzwanzig.“
„Woher kommst du?“
„Aus New York. Aber eigentlich stammt meine Familie aus Damaskus. Und ich, ich bin Neueinwandererin.“

Ja, denkt Abu Saki und ist zufrieden mit sich selbst, dass er darauf gekommen ist, denn die Juden aus Damaskus sind immer schon etwas Besonderes gewesen. Soviel er in Erfahrung bringen konnte, war es eine sehr alte, eine sehr reiche Gemeinde. Wie viele andere Gemeinden in arabischen Staaten litt sie nach der Gründung des Judenstaates nicht gerade wenig in ihrer alten, angestammten Heimat. Von treuen Bürgern mutierten ihre Mitglieder über Nacht zu Spitzeln eines feindlichen Staates, wurden verfolgt, eingesperrt, gefoltert und enteignet. Wer konnte, floh und schaffte es entweder in den in ihren Ursprungsländern verhassten Staat oder aber in die USA. Viele Juden aus Damaskus sind einzeln heimlich über die Grenze in den Libanon geflüchtet, solange das noch möglich war. Jeder nahm gerade soviel mit, wie er an sich tragen konnte. Nicht viel, aber genug, um sich damit eine neue Existenz aufzubauen. Die Juden aus Damaskus zog es vor allem nach New York. Dort gab es schon bald wieder eine richtige Gemeinde. Alle aus Damaskus. Eine geschlossene Gesellschaft. Das ist sehr praktisch für unsere Zwecke, denkt Abu Saki dankbar, denn von den anderen Juden sehen sie kaum etwas. Es besteht daher nur eine geringe Gefahr, dass Samira in Israel so schnell einem Mitglied der jüdischen Gemeinde aus Damaskus begegnet.

Samira schließt die Augen. Das ist ja das reinste Verhör! Kann man sie nicht endlich in Ruhe lassen? Wie lange soll das noch so weitergehen? So hatte sie sich ihre Vorbereitung eigentlich nicht vorgestellt.

„Solange“, erwidert Abu Saki, obwohl sie es nur gedacht hat, „bis du alles im Schlaf kannst. Wenn man dich plötzlich aufweckt, musst du die richtigen Antworten parat haben. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Du bist für etwas ganz Großes vorgesehen. Also, noch einmal von vorne.“ Abu Saki steht auf. Mit seinem kurzärmligen schwarzen Hemd und den Hosen in derselben Farbe sieht es aus, als trage er eine Uniform. Immer war er von Uniformen fasziniert und von der Disziplin und Autorität, die sie ausstrahlen. Das war auch einer der Gründe, nein, der Hauptgrund dafür, dass er gleich nach dem Jurastudium in Amman als Freiwilliger in König Husseins Armee eingetreten war. Dort hatte er es immerhin zum Oberst gebracht. Für einen heimatlosen Palästinenser, wie er es war, keine schlechte Leistung. Aber irgendwann einmal war er es leid, sein Leben für jemanden aufs Spiel zu setzen, der ihn nichts angeht. Genauer gesagt, geschah es, als König Hussein ganz offiziell jegliches Interesse und damit auch jede Verantwortung für die West Bank ablehnte. Mit einem Schlag hatte er für Abu Saki damit seine Autorität verloren. Von jenem Zeitpunkt an bemühte er sich nach Kräften um seine Entlassung aus der Armee, denn er wollte wieder zurück nach Nablus, zu seiner Familie. Seine Eltern waren alt geworden, und sie brauchten ihn, den ältesten Sohn. Da er sich zu dem von den israelischen Besatzungsbehörden festgelegten Termin nicht in Nablus aufgehalten hatte, damals war er noch in König Husseins Armee und dachte nicht einmal im Traum daran, dass er sich je wieder dorthin und nach seinen Eltern sehnen würde, hatte er kein Recht auf eine Rückkehr nach Nablus. Mit unendlicher Geduld gelang es seinem Rechtsanwalt und späteren Schwiegervater, die Behörden dann doch dazu zu bewegen, ihm im Rahmen einer Familienzusammenführung die Rückkehr nach Nablus zu gestatten. Abu Saki brauchte längere Zeit, um sich in die klaustrophobische Atmosphäre seiner Heimatstadt einzuleben. Zwar konnte Jordanien nicht als vorbildliche Demokratie bezeichnet werden, aber in Nablus unterdrückten nicht nur die israelischen Besatzer, auch lange vor der ersten und der zweiten Intifada, die Bewohner, die palästinensische Gesellschaft selbst bot sich ihm, dem Heimkehrer, wie ein ihm verschlossener Garten dar, in den er erst dank seiner Heirat mit der Tochter seines allseits angesehenen Rechtsanwalts nach und nach eindringen konnte. Sein Schwiegervater erleichterte ihm die Eingliederung unter der Bedingung, dass er sich ihrer Sache anschließe. Abu Saki schloss sich der Sache an. Offiziell arbeitete er in der Kanzlei seines Schwiegervaters, intern war er für Rekrutierung, Training und die Zuteilung von Aufgaben für die zahlreichen Rekruten zuständig, denn da er längere Zeit im Ausland gelebt hatte und auch beim jordanischen Militär gewesen war, galt er in der Organisation als jemand, der sich mit fremden Mentalitäten und natürlich auch in militärischen Fragen auskennt. Als solcher ist er nun auch für Samira zuständig. Er hat einen militärisch straffen Gang, als er vor Samira auf- und abgeht und sein Trommelfeuer von Fragen fortsetzt: „Wie heißt du? Wie heißen deine Eltern? Was macht dein Bruder? Was machst du hier?“ Samira ist für ihn ein besonderer Fall. Was will eine attraktive junge Frau, die dazu noch nicht einmal dumm ist, bei ihnen? Sollte sie sich nicht eher um einen erfolgreichen Mann kümmern, der ihr ein sorgenfreies Leben bieten kann? Noch während Abu Saki das denkt, kommt ihm wieder ihre Geschichte in den Sinn, so wie er sie von seinem Schwiegervater erfahren hat, und er begreift, dass Samira praktisch keine andere Wahl hat. Es sei denn, sie wäre bereit, sich für den Rest ihres Lebens von einem alten geizigen Mann in einen goldenen Käfig sperren zu lassen. Abu Saki gibt sich einen Ruck. Keine Sentimentalitäten! Wo kämen wir da hin? Streng blickt er Samira an.

Samira runzelt die Stirn und bemüht sich, Abu Sakis Fragen im gleichen Tempo zu beantworten, wie er sie ihr stellt. Zwischendurch verhaspelt sie sich: „In Nablus.“
„So, in Nablus bist du geboren?“, höhnt Abu Saki. „Das ist aber interessant. Wieso steht dann Damaskus als Geburtsort in deinem Pass?“
„Ich habe mich doch nur verhaspelt“, verteidigt sich Samira. „Sie stellen Ihre Fragen so schnell, dass ich nicht mehr mitkomme.“
„Deshalb bist du ja hier. Damit du selbst bei einem schnellen Verhör keine falschen Antworten gibst. Alles, was du von jetzt an laut sagst, muss so spontan klingen, als seist du damit aufgewachsen. Und es muss mit deinen Papieren übereinstimmen. Kapiert? Also weiter!“  

Zwei Stunden später ist Samira fertig, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie ist geradezu ausgelaugt und kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt und auch nicht erwartet. Sie hatte gemeint, man werde sie mit offenen Armen aufnehmen, ihr die Vorrichtung zeigen und sie dann einfach losschicken zu den Juden. Stattdessen diese Verhöre, die sie Schulung nennen. Was haben die mit ihrer Aktion zu tun? Nun gut, tröstet Samira sich, sie wird es schon noch erfahren. Auf jeden Fall ist sie vorläufig sicher vor ihrem großen Bruder und ihrem Vater. Keine körperliche Bedrohung mehr durch diese beiden. Endlich! Jetzt darf sie sogar etwas essen und trinken. Leila hat alles auf einem Tisch angerichtet und leistet Samira beim Essen stumm Gesellschaft. Verstohlen blickt Samira zu Leila hinüber. Eine eher kleine Frau. So um die vierzig, denkt Samira. Die Haare trägt sie unter einem Kopftuch verborgen, ihren Körper verhüllt ein langes, loses Gewand. Obwohl die Augen ungeschminkt sind, heben sie sich, umrandet von dunklen Wimpern, über die kräftige Augenbrauen einen Akzent setzen, vom hellen Gesicht ab. Eine schöne Frau, aber für meinen Geschmack etwas zu streng und zu traurig, denkt Samira und beschließt, sie später, wenn sie sich besser kennen, zu fragen, warum sie hier ist. Doch erst einmal führt Leila sie in einen verdunkelten Nebenraum. Dort kann Samira ungestört schlafen.

Rachel Kochawi
Die Blut-Braut
Eine politische Liebesgeschichte
Verlag Edition AV
ISBN: 978-3-936049-89-3
Taschenbuch; 236 Seiten
Preis: 16,00 €

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email