Berliner Hostienschändungsprozess
Das "Verhängnis der Mark Brandenburg"
von Stephen Tree

Als "Verhängnis der Mark Brandenburg" hat der jüdische Zeitgenosse Josel von Rosheim die Ereignisse bezeichnet, die im Juni/Juli 1510 zahlreiche angesehene Bürger märkischer Städte in wenigen Wochen zu verhassten Außenseitern werden ließ. 38 von ihnen urteilte man am 19. Juli 1510 in Berlin öffentlich ab und verbrannte sie. Sie waren der Gotteslästerung und des Kindsmords für schuldig befunden worden. Wie sich dreißig Jahre später zeigte, auch für damalige Rechtsverhältnisse zu Unrecht.

Juden hatten Brandenburg als Händler (Leder, Metalle, Wachs, Honig, Pferde, Sklaven) und Financiers mit aufgebaut und in dem abgelegenen Winkel des Deutschen Reiches vergleichsweise friedlich gelebt. Reich waren wohl die wenigsten, aber sie waren gute oder genauer: besonders belastete Steuerzahler, die für ein knappes Drittel des Staatshaushalts aufkamen.

Allerdings an ihren Wohnorten vorbei, direkt an den Fürsten, womit sie sich die Feindschaft der im "Steuerbewilligungsrat" vertretenen Bevölkerungsgruppen zuzogen, der Geistlichkeit, des Adels und der Stadtbürger, die dadurch ihren Einfluss verringert sahen und oft genug selber Schulden bei Juden hatten.
Zwei Wahnvorstellungen

Was Juden betraf, war das europäische Mittelalter von zwei Wahnvorstellungen beherrscht: die eine, sehr alte, betraf den Verdacht, dass Juden Christenkinder schlachteten, die vielfach ausgeschmückte und immer wieder anders begründete Ritualmordlegende. Die andere, deutlich jünger, war die Überzeugung, dass Juden als vermeintliche Gottesmörder eine zwanghafte Neigung hätten, geweihte Hostien zu martern. Was viel mit der innerchristlichen Suche nach dem theologischen Stellenwert des Abendmahls zu tun hatte, aber nichts mit jüdischem Brauchtum. Doch da das Recht den Einsatz der Folter vorsah, bis ein "Geständnis" vorlag, konnte ein unbedeutender Diebstahl in einer Dorfkirche durch einen christlichen Kleinkriminellen den Brandenburger Juden zum Verhängnis werden.

Ein möglicher jüdischer Abnehmer für die gestohlene Hostie ist bald gefunden, sein "Geständnis" am nächsten Tag mit Hilfe des Henkers ermittelt, was reicht, um alle männlichen Brandenburger Juden zu verhaften. Da man dennoch nur 36 anklagen kann, wird die Beschuldigung kurzerhand um den Punkt "Kindesmord zwecks Christenblutgewinnung" erweitert - wobei man von anonymen Kindern ausgeht, die unbekannten Durchreisenden abgekauft wurden. Nun trifft es 51 Juden, darunter die wichtigsten Steuerzahler, von denen bei Prozessbeginn, drei Wochen später, noch 41 am Leben sind.

Zwei Täuflinge werden geköpft, der dritte, ein bekannter Augenarzt, diskret begnadigt. Die anderen 38 verbrennt man am Freitag, dem 19. Juli 1510, auf einem dreistöckigen Scheiterhaufen, zwei Tage nach Tischa Be´aw, dem Fast- und Trauertag, der an die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem erinnert. Sie haben bis zuletzt laut gebetet und "mit großer bestendigkeyt den todt gelitten, den pawvelligen (pöbeligen) Christenn zcu sundern erschrecken". Die anderen Brandenburger Juden werden ausgewiesen, ihre Friedhöfe eingeebnet und die Grabsteine zweckentfremdet.
Vertuschung und Aufklärung

Doch 1539 ereignete sich am "Fürstentag" in Frankfurt am Main (einem der vergeblichen Versuche, die Glaubensspaltung friedlich zu bereinigen) ein Vorgang, der den Berliner Prozess von vielen anderen der Zeit unterscheidet: Er wird als Justizirrtum bloßgestellt - von christlicher Seite. Von Philipp Melanchthon, der rechten Hand Luthers, wahrscheinlich im Sinne einer Spitze gegen die anwesenden Katholiken. Der christliche Kirchendieb hatte dem Priester, der ihm die letzte Beichte abnahm, gestanden, dass es einen jüdischen Hostienkäufer gar nicht gab - worauf der Geistliche umgehend zum Bischof geeilt war, um die Hinrichtung der Juden zu verhindern. Nur, um von seinem Vorgesetzten Stillschweigen auferlegt zu bekommen, an das er sich hielt, bis er im Zuge der Reformation protestantischer Pfarrer wurde.

Melanchthon tut dies in Anwesenheit des neuen Kurfürsten von Brandenburg, Joachim II. - und von Josel von Rosheim, dem frei gewählten Interessenvertreter der deutschen Judenheit. Nicht nur, dass dieser daraufhin die Neuzulassung der Juden in der Mark erlangt. Er nutzt die Betroffenheit auch, um eine Besserstellung der deutschen Juden insgesamt zu erreichen und ihnen in einer Zeit, wo sie in West- und Mitteleuropa fast überall vertrieben werden, ein Bleiberecht als "concives", als Mitbürger, zu sichern. Es wird fast 400 Jahre lang Bestand haben - wobei ein Begriff geprägt wird, der die Beziehung der Deutschen zu unter ihnen lebenden Fremden bis heute bestimmt.

Stephen Tree ist Initiator einer Ausstellung zu diesem Thema in der Zitadelle Spandau, Berlin (bis 30. Januar 2011).

Frankfurter Rundschau, 19.7.2010

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