Das Klima der Debatte über Israel in der jüdischen Welt
von Brian Klug

Rabbi Yitzchak und Rabbi Yehudah waren beide angesehene Gelehrte und geachtete Vorsteher ihrer Gemeinden. Wie das Haus von Hillel und das Haus von Shammai schienen sie in allen Angelegenheiten gegensätzliche Positionen zu vertreten. Eines Tages kam Naphtali, ein bescheidener Tischler, zu Rabbi Yitzchak und sagte: „Rabbi, unsere Gemeinde ist klein, aber unsere Probleme sind groß. Wir sind mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert und benötigen unsere Ältesten, um uns zu führen und zu beraten. Verzeih mir, aber wäre es nicht möglich, dass du und Rabbi Yehudah, wenn auch nur gelegentlich, gleicher Meinung sein könntet?“ Rabbi Yitzchak war zutiefst beleidigt. „Du stellst mir diese Frage?“, antwortete er schroff. „Frag doch Rabbi Yehudah: Er ist es doch, der dauernd anderer Meinung ist!“

Die unsichtbare Linie
Schon seit Abraham und Moses sich mit Gott auseinandersetzten, argumentierten die Juden liebend gern. „Kommt her, wir wollen sehen, wer von uns Recht hat“ (Jesaja 1,18), könnte das Motto des Talmud sein. Aber „miteinander argumentieren“ beschreibt die Art und Weise, wie wir über Israel und den Zionismus diskutieren, nur ungenau. Den „Sicherheitswall“ zu verurteilen oder die israelische Armee der Brutalität zu bezichtigen, lässt die Temperatur bereits in die Höhe schießen. Es ist, als säßen wir in einem Treibhaus. Klimaerwärmung ist nichts im Vergleich zum Klima der Debatten um Israel in der jüdischen Welt! Nicht, dass man jemanden daran hindern würde, seine Meinung zu sagen. Aber wenn man eine unsichtbare Linie im Sand überschreitet – wenn die Abweichung zu groß wird –, dann läuft man Gefahr, in den Augen vieler Juden ein Paria zu werden oder als Verräter zu gelten. Ich bezeichne die Linie als „unsichtbar“, weil nicht immer klar ist, wo sie verläuft. Der Sand ist Treibsand, und die Linie bewegt sich mit der Zeit. Deshalb kann man nie sicher sein, ob man sie überschreitet. Aber sie existiert; und wenn man sie überschreitet, dann ist eines sicher: Hohn und Spott, Vitriol und Verunglimpfungen ersetzen den Austausch von Argumenten.

Zwei Beispiele sollen veranschaulichen, was ich meine.
Am 2. September 2005 prangte folgende Schlagzeile auf dem Titelblatt der Jewish Chronicle (führende jüdische Zeitung in Großbritannien): „Rabbiner: Amoz Oz ist ein judenhassender Jude“. Der israelische Schriftsteller hatte einen Artikel geschrieben gegen die religiösen Siedler in Gaza und der Westbank, welche von einem „Groß-Israel“ träumen. Der Artikel, welcher zuerst in Israel erschienen war, wurde in der britischen Zeitung Times abgedruckt und vom Radiosender BBC ausgestrahlt. Von der Kanzel seiner Synagoge herab sprach Rabbi Dr. Jeffrey Cohen (einer der höchsten orthodoxen Rabbiner Großbritanniens) beim Gottesdienst am Sabbat Morgen: „Es gibt keinen erbärmlicheren Anblick als den eines judenhassenden Juden, oder um es etwas freundlicher auszudrücken, eines Juden, der beschämt ist über sein Volk und dessen historische Ansprüche.“ Und er fügte hinzu: „Noch schlimmer, eines jüdischen Schriftstellers, welcher um Gunst, Beifall und Fördergelder der linksgerichteten, antiisraelischen heidnischen Welt buhlt und eine internationale Plattform sucht, um sein eigenes Volk zu verunglimpfen.“ Man beachte, dass dies viel weiter geht als eine Meinungsverschiedenheit mit den Ansichten von Oz. Es ist eine gegen den Mann und seine Motive gerichtete Attacke. Mit dem Überschreiten der unsichtbaren Linie im Sand hatte Oz die Grenze der Identität überschritten, welche die Juden in zwei Arten teilt: Sie grenzt die Wahren von den Falschen ab, die Getreuen von den Verräterischen.

Zwei Jahre später, im Februar 2007, überquerten einige von uns in Großbritannien dieselbe Linie, als wir die „Independent Jewish Voices“ (Unabhängige jüdische Stimmen) lancierten. Wir publizierten ein Statement, welches, hauptsäch- lich auf den Konflikt im Nahen Osten fokussiert, einige Prinzipien klar darlegte. Diese beinhalteten: Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit kommen an erster Stelle; Zurückweisen aller Formen von Rassismus und Antisemitismus; gleiche Priorität für Palästinenser und Israeli in ihrem Streben nach einer friedlichen und sicheren Zukunft. „Diese Prinzipien“, so ist weiter im Dokument zu lesen, „werden verletzt, wenn diejenigen, welche behaupten, im Namen der Juden in Britannien und anderen Ländern zu sprechen, unentwegt ihre Unstützung für die Politik einer Besatzungsmacht über die Menschenrechte der Besetzten stellt.“ Die Präambel besagt zudem, dass die „offizielle“ Meinung nicht „das breite Spektrum an Meinungen“ innerhalb der jüdischen Bevölkerung Britanniens widerspiegelt. Das Statement wurde innerhalb derselben Woche in drei Zeitungen publiziert: In der gedruckten Ausgabe der Jewish Chronicle und der Times sowie auf der Website des Guardian. Rabbi Dr. Sidney Brichto, langjähriger Führer des liberalen Judentums in Großbritannien, schrieb daraufhin: „Diese Juden … offenbaren sich als Feinde des jüdischen Volkes. Ich misstraue den Motiven dieser Juden.“ Er schloss den Artikel folgendermaßen: „Mein Gewissen erlaubt es mir nicht, diejenigen als meine Brüder zu betrachten, welche die Zukunft meines Volkes untergraben“, als würden wir nicht zu „seinem Volk“ gehören.

Eine komplexe Sensibilität
Nicht jeder, der sich als Jude identifiziert, ist empfindlich in Bezug auf Israel. Aber viele von uns sind es. Wir bringen dem Thema eine gewisse Sensibilität entgegen, die wir durch Erziehung, Ausbildung, Erfahrung, Familiengeschichten, etc. entwickelt haben. Ohne dies zu verstehen – ohne uns selbst zu verstehen – können wir das Klima der Debatte um Israel nicht begreifen, geschweige denn ändern. Also lasst uns damit beginnen, unter unsere (kollektive) Haut zu schlüpfen.

Ich bezeichne diese jüdische Sensibilität aus verschiedenen Gründen als „komplex“. Erstens ist sie jüdisch. Zweitens ist selbst die Definition von „jüdisch“ nicht einfach. Was ist das Judentum? Es ist verlockend, zu sagen „Gott weiß es“, aber ich bin nicht sicher, dass er das tut. Gott ist weise genug zu wissen, was man unmöglich wissen kann; und es ist unmöglich festzunageln, was Judentum ist. Wenn wir mit Moses über das „Judentum“ gesprochen hätten, hätte er nicht den blassesten Schimmer gehabt, wovon wir sprechen. Es gibt im klassischen Hebräisch kein Wort für „Judentum“. Ist es wie das Christentum eine Religion? Weder die Hebräische Schrift noch der Talmud haben ein Wort für „Religion“. Sicher, über dem biblischen Text schwebt ein Wesen, welches Gott genannt wird und welches Himmel und Erde geschaffen hat. Und ja, die Kinder Israels werden zu einem „Königreich von Priestern“, indem sie einen Bund mit diesem Wesen eingehen. Und sicherlich würden wir diese Erzählung heute als „religiös“ bezeichnen. Aber es ist keine religiöse Erzählung. Das heißt, „Judentum“ entzieht sich einer Definition. Wenn ich den Begriff benutze, dann meine ich damit die jüdischen Kulturen im weitesten Sinn, ob wir diese nun als religiös oder als säkular verstehen.

Von Ober- und Untertönen
Das ist der Ausgangspunkt, wenn wir nach einer Handhabe für die Sensibilität suchen, die viele von uns Juden in Bezug auf die Debatte über den Nahen Osten haben. Zion, um nur einen Namen zu nennen, ist in der jüdischen Vorstellung so allgegenwärtig, wie er vieldeutig ist. Seine mehrfachen Bedeutungen lassen sich wahrscheinlich nicht gänzlich voneinander trennen. Und doch ist es den Versuch wert, das Konzept klarer herauszuschälen, denn wenn wir nicht zwischen den verschiedenen Strängen darin unterscheiden, werden wir auch den Zauber ihres Verwobenseins nicht verstehen können.

Am 10. Februar war ich auf dem Nachhauseweg, das Autoradio eingeschaltet auf Radio BBC 4. Es war 6 Uhr abends und Zeit für die Nachrichten. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, doch eine der Schlagzeilen ließ mich aufhorchen: „Das Volk von Israel wählt eine neue Regierung“. Der Ausdruck das „Volk von Israel“ ließ eine Glocke in mir ertönen, oder genauer gesagt, drei Glocken. Die erste für die bunt zusammen gewürfelten Völkerschaften, die in der Hebräischen Schrift zusammenkommen und sich am Sinai versammeln, um zum „Volk Gottes“ zu werden. Dies ist am Yisroel, „das Volk von Israel“ innerhalb des Textes, das Volk im Buch. Die zweite Glocke bimmelt für die Juden, welche diese Schrift in alle Ecken der Welt hinausgetragen haben und die sich jedes Mal, wenn sie in diese Schrift hineinschauen, mit am Yisroel identifizieren. Das ist „das Volk von Israel“ außerhalb des Textes, das Volk des Buches. Die dritte Glocke tönt für die zusammen gewürfelte Bevölkerung von Juden, Muslimen und Christen und anderen, welche das Gebiet an der Ostküste des Mittelmeers bewohnen. Das ist „das Volk“ von „Israel“, es sind die Bürger eines Staates. Die dritte Glocke ist diejenige, welche die Veränderungen ankündigt, die Registerverschiebung von Buch zu Staat, vom Text zur Politik. Aber es ist nicht eine Verschiebung, welche vom Ohr wahrnehmbar ist, nicht, wenn der Kopf brummt vom gleichzeitigen Geläut aller drei Glocken. Selbst wenn wir wissen, was gemeint ist (nämlich die israelische Wählerschaft), hört das innere Ohr dennoch auch die Obertöne dieses Ausdrucks. „Das Volk von Israel“ schlägt eine tiefe Saite an, und der Oberton enthält den Schlüssel für eine komplexe Sensibilität.

Es gibt ein ganzes Vokabular wie dieses, mit dem Zionismus assoziierte Begriffe und Ausdrücke, die in den Gängen der jüdischen Vorstellung widerhallen. „Schon nur der Name der Bewegung“, schreibt Arthur Hertzberg in The Zionist Idea, „evoziert den Traum vom Ende der Tage, von einer letztendlichen Befreiung aus dem Exil und Rückkehr in das Land des heroischen Zeitalters der Juden.“ Mit anderen Worten, er beschwört die utopische Vision der hebräischen Propheten herauf. Ähnliche Assoziationen entstehen beim Namen des Volkes. Man stelle sich vor, Israel würde nicht Israel genannt, sondern zum Beispiel West-Palästina oder Theodor Herzl Republik. Wenn es so hieße, würde die Resonanz einer ewigen Hoffnung eines ewigen Volkes nicht hervorgerufen. Doch während eines Großteils seiner Laufbahn war der Zionismus eine vorwiegend säkulare Bewegung. Hertzberg führt aus, dass die „moderne zionistische Ideologie“ darauf aus ist, dem alten messianischen Konzept eine „radikal neue Bedeutung“ zu geben. Daran besteht kein Zweifel, aber die Sprache hat ein Eigenleben. Man vergesse die Ideologie und erspüre die Poesie! Die Poesie liegt in der Prosa. Die Musik des Zionismus ist Verschmelzung: Klänge der traditionellen Liturgie verschmolzen mit dem Jargon der säkularen, politischen Terminologie. Das „Ziel unserer Revolution ist das vollständige Einsammeln von Verbannten (oder: Exiljuden) in einen sozialistischen jüdischen Staat“, sagte Ben-Gurion 1944. Es ist ein perfektes Beispiel seiner Art; man hört förmlich „Offenbarung“ [revelation] anstelle von „Revolution“ [revolution]. Vier Jahre später, in der Proklamation des Staates Israel, in welcher es von biblischen Anspielungen nur so wimmelt (ohne Gott allerdings explizit zu erwähnen), wird der Text von Ben-Gurion (ohne Verweis auf den Sozialismus) in der Geburtsurkunde des Staates festgeschrieben. Das Ergebnis ist eine Pathetisierung (oder: Verherrlichung, Heiligung). Der Status des neuen jüdischen Staates wird zu etwas Höherem als eine normale zivile Institution erhöht. Im gewöhnlichen zionistischen Sprachgebrauch erwerben jüdische Immigranten deshalb nicht einfach die Staatsbürgerschaft: Sie „machen die aliyah“, der hebräische Ausdruck für „Aufstieg“, ein Terminus, welcher einen Ruf beinhaltet, wie den Ruf auf die bimah [Podium], wenn die Tora gelesen wird. Es ist, als würde das Israeli-Werden bedeuten, einen höheren Status zu erlangen oder eine Sprosse auf der Leiter Jakobs hinaufzuklettern.

Ich meine damit nicht, dass die älteren Bedeutungsschichten die neueren verdrängen, sondern dass sie sie überlagern. Die alten Wörter sind Zeitkapseln. Es sind semantische Bomben. Das bedeutet, dass die „heilige Sprache“, welche im Inneren der Synagoge verwendet wird, nun gleich klingt wie die Sprache, die im Laden in Tel Aviv gesprochen wird oder in einem Bus der Egged-Linie. Die Ähnlichkeit des Klangs tendiert dazu, zwei Trennlinien zu verwischen: die eine zwischen dem Säkularen und dem Religiösen, und die andere zwischen den Gruppen, die ich oben unterschieden habe: „das Volk von Israel“ (Israeliten und Juden) und „das Volk“ von „Israel“ (Israelis). Wo das Ohr schon fast nicht mehr unterscheiden kann, ist es für das Herz oder den Verstand noch viel schwieriger, Unterschiede zu machen. Was wiederum nicht heißt, dass die verschiedenen Identitäten aufgehoben wären. Aber sie werden durchlässig, sie verbinden sich oder verschmelzen.

Darunter befindet sich das Urgestein der historischen Erfahrung, der kollektiven Erinnerung von Marginalisierung, Ausschluss und Verfolgung in Europa. Der ausschlaggebende Faktor diesbezüglich ist das Fortdauern bis in die moderne Zeit. Vertreibungen im Mittelalter sind eines, Pogrome im Russland des späten neunzehnten Jahrhunderts etwas anderes. Die Dreyfus-Affäre in Frankreich, der Aufstieg antisemitischer Parteien in Deutschland und Österreich, die Zunahme antijüdischer Gesetzgebung in Osteuropa, der Aufstieg der Nazis zur Macht und die Umsetzung der „Endlösung“ (sie alle haben nebenbei bemerkt nicht zwischen religiösen und säkularen Juden unterschieden), all dies hat sich zu einem knallharten Misstrauen in „die Welt“ geformt und zu einem Gefühl des Verrats nach den Versprechungen der Aufklärung, das Gefühl eines gebrochenen Versprechens für eine sichere und normale Existenz der Juden. Zugleich hat es ein höchst mehrdeutiges Streben inspiriert nach einem Ort, wo man jüdisch sein kann, einem jüdischen Ort, einem Ort, der beides ist, fern von und doch in der Welt; ein wundersamer Ort, ein Ort, wo das Reale magisch ist und das Magische real. Das ist der Platz Israels, nicht auf diesem Planeten, aber auf der Vorstellungsebene, nicht für alle Juden, aber doch für genügend darunter, um ein Klima der Debatte zu schaffen, in welchem die Temperatur plötzlich in die Höhe schnellen kann. Denn Israel ist mehr als ein Staat. Es ist mehr als es selbst. Es ist eher wie man selbst, deshalb diese „Identitätslinie“ im Sand. Es ist, als ob jeder Jude, der sie überschreitet, seinen Mitjuden die Seele raubte. Aber ich frage: Wer raubt nun wirklich wessen Seele und von wem?

Ein Plädoyer für Offenheit
Moses führte das Volk aus dem Elend, aber er hatte sich nicht aufgemacht, ihnen das Leben leicht und angenehm zu machen. Und die späteren Propheten folgten seinem Beispiel. König Ahab erfuhr dies am eigenen Leib. Als Elija ihn zur Rechenschaft zog dafür, dass er Baal verehrt hatte, schimpfte er mit dem Propheten, indem er ihn „du Störenfried Israels“ nannte. Elija war als Prophet um Worte nicht verlegen: „Nicht ich habe Ärger über Israel gebracht, sondern du …“, entgegnete er. Nichtsdestoweniger hatte Ahab den Punkt getroffen – nicht nur bezüglich Elija. Die hebräischen Propheten waren insgesamt „Störenfriede Israels“, dies war ihr Beruf. Damit, dass sie ihre Stimme erhoben, bereiteten sie Herrscher und Volk gleichermaßen Unbehagen.

Mit ihrem Beispiel vor Augen möchte ich ein jüdisches Plädoyer für Offenheit halten. Ich meine damit nicht das Recht auf freie Meinungsäußerung. Nicht, dass ich etwas gegen Redefreiheit hätte. Die Leute sollen ihre Meinung sagen können, selbst wenn sie nichts zu sagen haben, vorausgesetzt, sie schaden niemandem. Aber das ist es nicht, worüber ich spreche. Wenn ich „Offenheit“ sage, meine ich damit nicht eine Lizenz, Unsinn zu verbreiten. Ich meine die Pflicht – die mitzvah – die Rede dazu zu benutzen, anderen Kopfschmerzen zu verursachen. Eigentlich plädiere ich dafür, eine andere Linie im Sand zu ziehen im Vergleich zu derjenigen, die zurzeit in weiten Teilen der jüdischen Welt besteht, wenn es um Israel als Thema der Debatte geht.

Lassen Sie mich ein Beispiel dafür vorausschicken, was passieren kann, wenn man diese Identitätslinie überschreitet, welche (angeblich) „wahre“ von „falschen“ Juden unterscheidet. Vergangenen Winter, am 11. Januar, während die Operation „Gegossenes Blei“ in Gaza noch voll im Gang war, organisierten der Vorstand der Vertreter der britischen Juden und der Jüdische Führungsrat eine Kundgebung zur Unterstützung Israels am Londoner Trafalgar Square. Es versammelte sich eine Anzahl von uns am Rande des Platzes zu einer Gegendemonstration. Unser Gang artete zu einem Spießrutenlaufen unter Schmährufen wie „Verräter!“, „Feiglinge!“, „Abschaum!“ aus. Geschützt durch die Polizei fühlten wir uns nicht in Gefahr, aber wir waren uns der bedrohlichen Wut bewusst, die unter der Oberfläche kochte. Die Verachtung und der Hass auf uns als Juden waren mit Händen zu greifen. Aber sie kamen weder von fanatischen Jihadisten noch von Faschisten der British National Party, sondern von unseren Mitjuden. Ein Ritual wurde durchgeführt, durch welches wir symbolisch zu „Anderen“ gestempelt wurden.

Natürlich gibt es immer vereinzelte Individuen, die mit ihrer Gehässigkeit eine politische Kundgebung vergiften können. Aber hier geht es nicht um ein paar isolierte Fanatiker. Wenn die gesamte jüdische Führung, sowohl die säkulare als auch die religiöse, sich solidarisch hinter die israelische Regierung stellt, wenn Synagogen sich als Sprachrohr für israelische Propaganda zionistischer Gruppierungen betätigen und wenn kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen der Unterstützung für Israels Kriege und dem Kampf gegen den Antisemitismus, dann wird ein Klima geschaffen, welches die Beschimpfungen hervorbringt, die gegen uns ausgeteilt wurden.

In gewisser Weise bin ich aber auch froh darüber. Zu einem „Anderen“ gemacht zu werden, erinnert mich daran, dass ich Jude bin, insbesondere wenn ich bedenke, was dieses Verhalten ausgelöst hat: Der Ausdruck offener Opposition gegenüber dem Verhalten des Staates Israel. Denn was heißt das? Was heißt es, wenn Woche über Woche genau diejenigen Leute, die es nicht ertragen, wenn Juden Israel verurteilen, Gottesdiensten in shul (Synagogen) beiwohnen, in welchen sie die Hebräische Schrift öffnen und lesen über Moses, als er das Volk geißelte, über Elija, der den König ermahnte, Jesaja, der „ein sündhaftes Volk“ ausschalt, und Jeremia, der „gegen die Könige und Beamten von Juda und gegen seine Priester und Einwohner“ ins Feld zog? Niemand kann heutzutage den Mantel des Propheten beanspruchen. Niemand kann mit dieser Art Autorität sprechen, aber wir können alle ihrem Beispiel folgen in Bezug auf den Staat – jedweden Staat, aber insbesondere einen, der sich selbst als jüdisch bezeichnet – als legitimes Ziel offener Kritik und wenn nötig auch Anprangerung. Was bedeutet es, wenn jedes Mal, wenn der Staat Israel spricht, die Kongregation des Diasporajudentums mit „Amen“ antwortet? Was heißt das, wenn sich dem Staat zu nähern bedeutet, hinaufzusteigen, als befinde er sich auf einem Podest – genau dort hat man ihn nämlich platziert. Es geht nicht um den Staat als solchen, sondern um seinen Status im jüdischen Mainstream. Das ist es vor allem, was das Klima der Debatte in der jüdischen Welt anheizt. Eigentlich ist es eine Ironie: Der Zionismus hat sich aufgemacht, die Situation der Juden auf Erden zu normalisieren. Aber in den Köpfen und Herzen vieler Juden ist Israel nicht ein normaler, gewöhnlicher Staat. Er ist ein magischer Brennpunkt von Hoffnungen und Befürchtungen, eine Art Fetisch. Der Staat wurde zu einer Statue gemacht. Man kann ihn als Sache bezeichnen oder als Ideal. Aber eigentlich ist er ein Götze geworden.

Götzendienst
Nichts wiegt in der Hebräischen Schrift schwerer als der Götzendienst. Was um Himmels Willen bedeutet es, jüdisch zu sein, wenn nicht, Götzen von ihrem Podest zu stoßen? Wenn wir, was immer unsere politische Meinung über Israel ist, nicht über den Staat hinauswachsen und ihn auf seinen Platz verweisen können, wenn wir seinen Status nicht auf ein Ding unter anderen Dingen reduzieren können, dann sind wir keine Juden, oder Juden nur dem Namen nach. Aber Dinge können kritisiert werden, in Frage gestellt, bekämpft, zurückgewiesen werden. Es gibt keine Linie, die nicht überschritten werden dürfte in Bezug auf ein Ding, jedenfalls nicht im bilderstürmenden Judentum, auf welches ich Anspruch erhebe. Mitmenschen hingegen sind eine andere Sache. Es sind Mitmenschen der größten jüdischen Familie der Welt, nämlich der menschlichen Familie, teilhabend an denselben bubbe und zeyda, Oma Eva und Opa Adam, durch welche sie (in der Geschichte der Genesis) die Ebenbildlichkeit Gottes geerbt haben. Wovon der Talmud das Prinzip von kevod habriyos, wörtlich „Würde des Geschaffenen“ ableitet oder in normalem Deutsch: „die menschliche Würde“.

„Die Würde einer jeden Person ist heilig“, schreibt Rabbi Chaim Shmulevitz. Das Konzept hat „übergeordnete Bedeutung“, sagt er: „Rabbinische Verordnungen und verschiedene schriftgemäße Verbote müssen beiseite gelegt werden, wenn sie mit dem Respekt und der Würde des Menschen kollidieren … Das Konzept der Würde des Menschen macht jedoch nicht beim Unterlassen von Beleidigungen oder Herabsetzung von Mitmenschen halt. Es verpflichtet ebenso, zum Mehren und Vergrößern von dessen Ansehen und Ehre beizutragen.“

Das heißt, man sollte jede Linie überschreiten und seine Stimme laut werden lassen, wenn es um die Entwürdigung anderer geht: Das ist eine Regel im Judentum, auf welche ich Anspruch erhebe. Man verletzt diese Regel nicht, um einen Staat zu unterstützen, ungeachtet der Bindung, die man zu diesem Staat hat. Wenn es etwas gibt, das Juden stets unterstützen sollten, dann die Gerechtigkeit und nicht einen Staat, insbesondere nicht einen Staat, der den Namen „Israel“ zur Schau trägt, wenn „Israel“ nicht zugleich für das Stürzen von Götzen oder deren moralischen Entsprechungen und für das Streben nach Gerechtigkeit steht. „Nach Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du streben“, so lautet die Direktive, welche Moses dem Volk Israel in der Wildnis gab. Und angefangen mit den Hebräischen Propheten gibt es viele verstreute Linien von Judäern und Juden, alten Israeliten und modernen Israelis, Rabbinern, Schriftstellern und Aktivisten, die diesem Beispiel gefolgt sind. Einige bezeichnen sich als säkular, andere als religiös und wieder andere schlicht als jüdisch.

Zwischen den beiden Prinzipien, dem positiven (Respekt für die Würde des Menschen) und dem negativen (Ablehnung des Götzendienstes), liegt die Basis für ein jüdisches Plädoyer für Offenheit. Auf der einen Seite motivieren sie, und auf der anderen Seite limitieren sie die freie Meinungsäußerung über was auch immer. Darüber hinaus können wir noch ein drittes (im Grunde genommen technisches) Prinzip anfügen: Diskussionsbereitschaft.

Streit um des Himmels willen
„Streit um des Himmels willen“, so heißt es in der Mishna, wenn eine Diskussion nicht um ihrer selbst willen geführt wird oder um den Sieg davonzutragen, sondern mit Blick auf eine höhere Absicht. Sogar Gott steigt in die Arena, wenn zum Beispiel Abraham sich mit ihm in moralischen Argumentationen über das Schicksal von Sodom ergeht. Gott kann Argumenten ebenso wenig widerstehen wie Abraham, wenn es um Gerechtigkeit geht. Und nicht einmal Gott kann, gemäß einer bemerkenswerten Geschichte im Talmud, das Argument bereinigen. Einmal, so geht die Geschichte, war ein Disput im Gange zwischen zwei Rabbis, Rabbi Eliezer und Rabbi Josua, als eine göttliche Stimme intervenierte und sagte, Rabbi Eliezer sei im Recht. Worauf Rabbi Josua etwas entgegnete, dem selbst Gott nichts entgegenzusetzen hatte: „Da die Tora am Berg Sinai schon übermittelt wurde, nehmen wir keine Rücksicht auf eine himmlische Stimme“. Gott „lächelte in dieser Stunde“ und sagte: „Meine Kinder haben mich besiegt; meine Kinder haben mich besiegt.“ Mit Bezug auf diese Passage kommentiert Rabbi Joseph Soloveitchik: „Es ist, als ob selbst der Schöpfer der Welt sich an menschliche Entscheidungen und Anweisungen hielte.“ Die Erde blickt zum Himmel auf, um Führung zu erhalten, aber in dieser Geschichte schaut der Himmel zurück auf die Erde.

Im Argumentieren über Israel gibt es keine „nicht zu betretenden“ Gebiete außer insofern, als sie durch die zwei ersten Prinzipien bestimmt und mittels des dritten umgesetzt werden. Alles ist möglich, sogar Diskussionen über die heikelsten Themen, sogar wenn es um die Existenz als „jüdischer Staat“ geht.

Es liegt an uns, das, was Moses uns übergeben hat, aufzunehmen. Aber wie soll man den gewaltigen, komplexen und paradoxen Schöpfungsbericht aufnehmen? Man kann nicht einfach mit der Bettelschale in der Hand passiv dastehen und darauf warten, dass sich diese mit Wahrheit füllt. Man muss vortreten als ein Mensch und – wie Jakob – mit ihr ringen. Ich habe für dieses Ringen drei Prinzipien benannt, die ich für elementar halte: Ablehnung des Götzendienstes, Respektierung der Würde des Menschen und Diskussionsbereitschaft – das Aleph Bais Gimmel – das ABC des Judentums. Sagen Sie mir, dass ich falsch liege. Lassen Sie uns streiten darüber.

Brian Klug ist ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Oxford. Er ist Mitbegründer des Jewish Forum for Justice and Human Rights (Jüdisches Forum für Gerechtigkeit und Menschenrechte) und der Independent Jewish Voice (Unabhängige jüdische Stimme)

Referat, gehalten am 23. 6. 2009 im Haus der jüdischen Jugend in Zürich. Das Referat wurde abgedruckt in Lamed (4/08) und mit Genehmigung des Autors für diese Ausgabe gekürzt. Der vorliegende Text wurde entnommen der Zeitschrift Junge.Kirche 1/2010

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