Wenn’s drauf ankommt
Warum Türken und Juden in Deutschland füreinander einstehen müssen – gerade in Krisenzeiten
von Bilkay Öney

Vor mehr als zwei Wochen rief mich die türkische Botschaft an. Es ging um eine Einladung. Erstmals sollten junge Türken mit Vertretern des American Jewish Committee über Rassismus diskutieren. Das war vor der israelischen Kommandoaktion gegen die Gaza-Flottille am 31. Mai. Unmittelbar darauf wurde der Termin gestrichen. Nicht abgesagt. Nein, die Diskussion fiel einfach aus. Die Regierungspartei AKP scheint zwei Dinge leider nicht voneinander trennen zu können: die außenpolitische Linie in ihrer Haltung zu Israel und die innenpolitischen Erfordernisse für die knapp drei Millionen Bürger türkischer Herkunft, die in der Bundesrepublik leben.

Stimme Die türkische Gemeinde bildet die größte Minderheitengruppe in Deutschland. Sie ist gleichzeitig diejenige, die im Mittelpunkt der Integrationsdebatte steht und sich am häufigsten gegen Vorurteile wehren muss. Für dieses Anliegen ist die Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinschaft unerlässlich. Bisher hat diese die türkische Minderheit stets verteidigt und in Schutz genommen: beim Kopftuchstreit, beim Moscheenstreit und als in Mölln (1992) und Solingen (1993) die Häuser von Türken brannten. Nun brennt es politisch wieder. Denn jemand zündelt. Aber wo ist die türkische Stimme in Deutschland, die sich für jüdische Belange starkmacht?

Lange Zeit haben sich viele Deutsch-Türken des Bildungsbürgertums mit den Juden hierzulande identifiziert. Der frühere Leiter des Zentrums für Türkeistudien (ZfT), Faruk Sen, zog diesen Vergleich sogar öffentlich und bezeichnete die Türken als »die neuen Juden«. Für diese umstrittene Aussage musste Sen seinen Platz im ZfT räumen, doch die Türken gaben ihm recht. Tatsächlich finden sich Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen beiden Minderheiten – auch in religiösen Bräuchen; von der Beschneidung bis hin zum Gebot, kein Schweinefleisch zu essen. Immer, wenn türkische Jugendliche sich mit ihren palästinensischen Schulfreunden, ihren muslimischen Glaubensbrüdern, solidarisieren und judenfeindliche Äußerungen von sich geben, hilft es, sie auf diesen Vergleich hinzuweisen. Jugendliche kann man aufklären. Die Schule ist dafür ein geeigneter Ort und bietet auch genügend Anschauungsmaterial.

Aktivisten Noch erschreckender ist es, wenn judenfeindliche Äußerungen in intellektuellen Kreisen der deutsch-türkischen Community kursieren. Neulich etwa, als eine türkische Professorin monierte, die Juden würden nicht nur die Finanzwelt beherrschen, sondern auch die Wissenschaft. Alle Nobelpreisträger seien Juden, sagte sie, das könne doch kein Zufall sein. In solchen Momenten schnürt es mir die Kehle zu. Aufgewühlt stellte ich der Professorin Gegenfragen: Wie hätte wohl das türkische Militär reagiert, wenn sich israelische Friedensaktivisten gegen den Willen Ankaras auf den Weg in die kurdischen Gebiete gemacht hätten, um die PKK mit Hilfsladungen zu versorgen? Hätte das türkische Militär die Israelis passieren lassen?

Pulverfass Ich fragte die Professorin, ob sie sich vorstellen könne, einer Gruppe anzugehören, die seit Jahrhunderten gegen Vorurteile und ums nackte Überleben kämpfen muss. Ob sie verstehen könne, wie präsent der Holocaust in den Köpfen auch der jüngeren Generation von Juden sei? Die Professorin schwieg. Offensichtlich hatte sie bisher wenig darüber nachgedacht. Wenig nachgedacht hat anscheinend auch der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan. Beim vorletzten Weltwirtschaftsgipfel Anfang 2009 in Davos konnte man seine verbalen Entgleisungen noch als Wahlkampfstrategie erklären und entschuldigen. Aus dem Ruder gelaufen und unverantwortlich hingegen ist seine neue Strategie im Nahostkonflikt. In einer Region, die auf dem Pulverfass sitzt, von ethnischen und religiösen Konflikten geprägt und gebeutelt ist, braucht es kluge Politik und besonnene Staatsmänner. Gerne beruft sich Erdogan auf die Urahnen der Türken, die Osmanen. Sie nahmen im Jahr 1492 rund 150.000 sefardische Juden auf, die wegen der Inquisition Spanien verlassen mussten. Seit damals wird die Türkei mit religiöser Toleranz in Verbindung gebracht. In den 30er-Jahren folgte Mustafa Kemal Atatürk dieser Tradition und nahm viele deutsch-jüdische Wissenschaftler auf. Juden und türkische Muslime bereicherten sich gegenseitig.

Auch heute ist der kulturelle Austausch für den Aufbau einer weltoffenen und multireligiösen Gesellschaft in Deutschland unerlässlich. In Zeiten wachsender Islamophobie und Diskriminierung brauchen die Muslime erfahrene und verlässliche Partner. Zudem tragen Deutsch-Türken eine historische und moralische Verantwortung für die Juden. Nicht nur aufgrund der deutschen Geschichte, sondern in guter alter osmanischer Tradition. Der Regierung in Ankara sei geraten, die nötige und wichtige Zusammenarbeit der türkischen und der jüdischen Gemeinde in Deutschland nicht mutwillig zu gefährden.

Die Autorin ist Mitglied der SPD-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses

Jüdische Allgemeine, 17.6.2010

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