Das Brot der Armut.
Die Geschichte eines versteckten jüdischen Kindes
Ein Romanauszug von Rachel Kochawi

Die Ankunft im Flüchtlingslager

Tante Agnes lässt es sich nicht nehmen, Kriemhild höchstpersönlich in ihr neues Zuhause zu begleiten. Denn während der letzten zwei Wochen hat die Mutti eine Wohnung gefunden und ist umgezogen. Davor hätten sie den ganzen Ort durchqueren müssen, um zu dem Haus zu gelangen, in dem Kriemhild bis dahin gewohnt hat. Statt dessen biegt Tante Agnes kurz nach dem Ortseingang rechts ab. Eine Nebenstraße, beinahe ein Hohlweg, denn hohe Böschungen säumen sie zu beiden Seiten, führt den nicht besonders hohen Berg hinauf. Oben auf dem Gipfel liegt rechter Hand ein großes, von einem hohen Zaun eingefasstes Areal, vor dessen Eingangstor sie jetzt stehen. Dahinter, Kriemhild traut ihren Augen nicht, dahinter stehen, nein, keine Häuser. Sie hat das Gefühl, einen Schritt zurück in der Zeit zu machen und wieder ins Flüchtlingslager an der Grenze zurückgekehrt zu sein.
„Ja,“ bestätigt die Tante. „Das hier ist ein Flüchtlingslager. Ich weiß nicht, ob dir die Mutti gesagt hat, dass es hier in der Stadt keine freien Wohnungen für Flüchtlinge gibt. Die Einheimischen wollen keine Flüchtlinge unter sich wohnen lassen. Aber demnächst sollen dort gegenüber“, die Tante weist mit der Hand nach vorne in die blaue Luft hinein, „gleich am Stadtrand neue Häuser für alle Bewohner dieses Flüchtlingslagers gebaut werden.“
Dass die Stadt ihre Absichten erst zehn Jahre später verwirklichen würde, können damals weder die Tante noch die Mutti und auch nicht Kriemhild ahnen. Es gibt halt nichts Dauerhafteres als ein Provisorium.
„Komm weiter.“ Tante Agnes gibt zielstrebig den Weg vor. Von dem breiten Weg in der Mitte, später bezeichnen die Bewohner des Flüchtlingslagers ihn als ihre Hauptstraße, biegt sie ungefähr auf halber Länge nach links auf einen ebenso breiten, im rechten Winkel dazu angelegten Weg an. Rechts und links gehen mehrere kleine Pfade ab. Tante Agnes nimmt den dritten zur Rechten, danach den ersten zur Linken und schließlich den zweiten zur Rechten. Sie stehen vor einer langen Baracke aus dunkelgrün gestrichenen Latten. Die Baracke hat fünf Eingänge und neben jedem Eingang blinkt je ein Fenster. Vor dem zweiten Eingang macht Tante Agnes Halt und öffnet die Barackentür. Sie treten in einen knapp ein Meter großen quadratischen Vorraum, von dem zwei Türen abgehen, eine führt nach rechts, die zweite liegt geradeaus gegenüber der Barackentür. Tante Agnes klopft an die Tür rechts.
„Ella! Mach auf! Wir sind es!“
Sie müssen nicht lange warten, denn kaum sind ihre Worte verklungen, als sich auch schon die Tür öffnet. Die Mutti steht in der offenen Tür und begrüßt sie.
Kriemhild ist mehr als neugierig auf ihr neues Zuhause. Nach einem flüchtigen Kuss auf die Wange der Mutti drängt sie sich an ihr vorbei ins Zimmer. Es kommt ihr bekannt vor. Das liegt vermutlich an den Möbeln, erklärt sie sich später. Denn die Mutti hat natürlich ihre Möbel aus der anderen Wohnung mitgenommen und damit die neue möbliert. Der bekannte Küchenschrank grüßt sie von der hinteren Wand, gegenüber dem Eingang steht das Sofa aus ihrer Wohnküche, davor der Küchentisch, der Mittelpunkt ihres Lebens, und daneben die bekannten Stühle und Onkel Heinis Sessel. Auf einem kleinen Schränkchen in der Ecke ihr kostbarstes Gut: das schöne große Radio, das für Kriemhild, wenn sie alleine ist, wunderschöne Musik sendet, die weder die Mutti noch Onkel Heini ausstehen können. Erst sehr viel später, als sie ihre Stücke praktisch schon auswendig kennt, erfährt Kriemhild, wer Mozart ist und wer Bach und Beethoven.
Irgendetwas ist dennoch anders. Kriemhild schaut sich prüfend um. Der Herd in der Ecke gegenüber vom Sofa, ja, den kennt sie. Was sollen aber die Eimer daneben, einer auf dem Boden, der zweite auf einem Gestell mit zwei Fächern?
„Wir haben hier kein Wasser“, erklärt die Mutti Tante Agnes soeben. „Deshalb die Eimer. In dem hier oben ist immer sauberes Wasser, zum Kochen und zum Waschen, der unten auf dem Boden ist für das Schmutzwasser. Kommt mit, auch du, Kriemhild, damit du gleich weißt, wo du Wasser holen und das Schmutzwasser ausschütten musst.“ Die Mutti geht voran, die Zimmertür lässt sie weit offen stehen. „Es kommt sowieso niemand hierher, der etwas mitgehen lassen will. Und außerdem: Bei uns gibt es nichts, was man mitnehmen könnte.“
Parallel zu ihrer Baracke, nur etwas nach vorne versetzt, steht eine zweite Baracke, der sich die Mutti jetzt zuwendet. „Da drin sind die Toiletten. Jede Familie hat eine eigene Toilette. Ich zeige sie euch gleich. Aber erst einmal hier.“ Damit zeigt sie auf einen niedrigen Vorbau, dem Eingang zur Toilettenbaracke vorgelagert. „Das hier ist der Hahn für sauberes Trinkwasser. Das Schmutzwasser wird hier ausgeschüttet.“ Damit betritt die Mutti die Toilettenbaracke und zeigt auf ein offenes Loch inmitten mehrerer Balken. „Hier. Hier rein kommt das Schmutzwasser. Aber Vorsicht beim Ausschütten. Denn es soll sauber bleiben. Wer etwas verschüttet, muss es sofort aufwischen. Sonst kommen die Fliegen. Vor allem im Sommer. Und hier ..“ Die Mutti geht den Gang voraus. Die rechte Seite wird von Latten versperrt, auf der linken reiht sich eine Tür an die andere, als ob sich dahinter Zellen verbergen würden.
Es ist ja auch etwas Ähnliches. „Das hier ist unsere Toilette. Die vierte Tür vom Eingang rechts, wenn man vor der Baracke steht.“ Die Mutti schließt die Tür auf und lässt Tante Agnes und Kriemhild einen Blick hineinwerfen. Ein Plumpsklo, wie sie es vom Kuhstall bei Tante Agnes her schon kennt. Nur ist es nicht ein einziges. Vielmehr gibt es rechts und links davon noch weitere, hinter den Türen verschlossene und, an seinem Rücken noch eine ebenso lange Reihe von Plumpsklos. Es müssen mindestens zwanzig Plumpsklos sein, zehn auf jeder Seite.
„Zweimal im Jahr kommt ein Wagen, der die Jauchengrube leert“, erklärt die Mutti, während sie die Toilette wieder sorgfältig verschließt. „Die Toilette muss mindestens zweimal die Woche geputzt werden, damit es nicht stinkt. Das ist fortan deine Aufgabe, Kriemhild.“
Kriemhild nickt beklommen. Wie würde es spät am Abend oder, daran wagt sie kaum zu denken, im Winter hier sein, wenn der Wind durch die Baracke fegt und es so kalt ist, dass das Wasser in der offenen Wasserleitung einfriert?
Scheinbar guter Laune kehrt die Mutti zurück in die neue Wohnung. Von der Wohnküche führt eine weitere Tür in ein zweites Zimmer. Die Mutti öffnet nun diese Tür: das Schlafzimmer der Familie.
In der Mitte das große Doppelbett von Mutti und Onkel Heini. Parallel dazu, nur durch einen schmalen Gang getrennt, ein Kinderbett, in dem das Schwesterchen gerade aus dem Schlaf erwacht und sich die Augen reibt, um die ungewohnt vielen Menschen, die sich auf einmal im Schlafzimmer drängeln, besser zu sehen. Am Fuß des Doppelbetts der große Kleiderschrank und daneben, dicht an die Wand gedrängt, ein weiteres Bett, eher schon eine schmale Liege. Das muss wohl ihr, Kriemhilds Bett sein.
Sie hatten aus einer Zweizimmerwohnung ausziehen müssen, weil sie für vier Personen zu eng gewesen war. Und jetzt das?! Zwei Zimmer in einer Baracke! Ohne fließendes Wasser, mit einem Plumpsklo mitten in der Landschaft! Am liebsten hätte Kriemhild auf der Stelle kehrt gemacht und wäre fortgelaufen. Noch bevor sie einen Schritt tut, schießt es ihr durch den Kopf: Aber wohin? Wohin will, wohin soll ich laufen? Es gibt nichts und niemanden, zu dem sie hätte laufen können. Nein, das hier ist fortan ihr Zuhause. Diese elenden zwei Zimmer. Der Wasserhahn da draußen und das Plumpsklo ebenfalls dort draußen. Es dauert nicht lange, da schämt Kriemhild sich, ihre Anschrift preiszugeben. Später, sehr viel später, als sie Ella Stach endlich und für immer verlassen darf, macht sie ihr die bittersten Vorwürfe, warum sie nicht ihr Versprechen dem Doktor gegenüber eingehalten hat, warum sie nicht gründlicher gesucht hat, warum sie sie nicht dorthin hat gehen lassen, wo sie eigentlich zu Hause ist.

Der Einmarsch der Deutschen in Warschau

Morgens am Freitag, dem 1. September 1939, ist die Welt noch in Ordnung. Plötzlich das knatternde Geräusch von Maschinen. Zelda Kowalski schaut durch die Wohnzimmertür: „Das ist nichts. Die polnische Luftflotte macht einen Übungsflug.“ Golda, gerade zurück mit ihren Einkäufen für den Schabbath, widerspricht: „Die Flugzeuge, Frau Kowalski, das waren keine polnischen. Das waren deutsche Flugzeuge.“
„Was wollen deutsche Flugzeuge über Warschau? Was ...“ Zelda Kowalski verstummt, wagt es nicht, ihren Satz zu beenden. Deutsche Flugzeuge über Warschau. Das heißt Krieg. Krieg!
Mit den Strahlen der Nachmittagssonne die nächste Welle deutscher Flugzeuge. Die kleinen Maschinen nähern sich, drehen ihre Runden und werfen im Tiefflug laut dröhnend ihre Bombenlast ab. Danach steigen sie steil nach oben. Häuser brennen, stürzen laut krachend in sich zusammen. Ganz besonders schlimm kommt es am zwölften Kriegstag, genauer, am Vorabend von Rosch ha-Schana. Der Luftangriff auf die Hauptstadt ist verheerend. Eine Welle von Flugzeugen löst die vorhergehende ab; Bomben fallen, setzen Häuser in Brand, Menschen laufen schreiend auf die Straße. Niemand weiß, was er tun soll. An Rosch ha-Schana selbst ist es ganz ruhig. Keine Flugzeuge, keine Bomben auf Warschau. Aber die Nachrichten aus dem Radio klingen unheilverkündend. Die Deutschen rücken unaufhaltsam vor. An Jom Kippur bricht in Warschau die Hölle los. Die Stadt wird von allen Seiten beschossen. Die Häuser, die noch stehen, wackeln und stürzen ein. Eine Welle von Flugzeugen folgt auf die nächste, dazwischen die Granaten der Artillerie. Kaum jemand wagt sich in die Synagoge, man betet für sich, hofft, dieser entsetzliche Tag möge vorübergehen. Er vergeht dann auch. Die Nacht bricht herein, der Himmel ist rot vom Feuer der Häuser, aber es wird ruhiger. Polen stellt seinen schwachen Widerstand ein. Knapp zwanzig Tage nach ihrem Überfall auf das Land haben die Deutschen gebraucht, um jeden Widerstand zu ersticken. Es gibt keine polnische Armee mehr, keine polnische Regierung. Es ist der totale Zusammenbruch.
Und nun kommen sie. Die Deutschen marschieren in die Hauptstadt ein. Die Bewohner von Warschau stehen am Straßenrand und schauen stumm dem Aufmarsch zu. Fest stampfen die deutschen Soldaten mit ihren Stiefeln auf die Pflastersteine. Mit Gewehren auf der Schulter ziehen sie munter an ihnen vorüber. Dann die Panzer. Es gibt keine Flugzeuge mehr, die Bomben abwerfen, aber was jetzt kommen würde, war noch schlimmer als jede Bombardierung.

Geburt und Tod

Dann ist es soweit. Zelda Kowalski schickt sich an, ein Kind in die Welt zu bringen. Sie räumen eine Ecke des Wohnzimmers frei, sodass Dr. Kowalski und seine Schwester Rachel sich ungestört zwischen Wohnzimmer und Küche, wo Ella über große Mengen von kochendem Wasser wacht, bewegen können. Es dauert und dauert. Anscheinend fürchtet das Baby sich davor, die Geborgenheit des Mutterleibs zu verlassen und in die kalte Welt hinauszutreten. Es dauert und dauert. Dr. Kowalski kann nichts tun, um seiner Frau zu helfen, die Schmerzen zu lindern oder die Geburt zu beschleunigen. Er sitzt neben ihrem Bett, hält ihre Hand, streicht ihr den Schweiß von der Stirn und freut sich wie alle, wenn sie vorübergehend in einen leichten Schlummer fällt, aus dem sie dann mit einem Aufschrei erwacht. Wieder Wehen und noch einmal Wehen. Sie wollen nicht aufhören. Am vierten Chanukka-Tag ist es dann endlich soweit: ein Mädchen, ein wunderbar zartgliedriges kleines Mädchen hat sich von seiner Mutter gelöst und kündet seine Ankunft in der Welt mit einem kräftigen Schrei an. Zelda lächelt glücklich, als Dr. Kowalski ihr das Mädchen in die Arme legt. „Meine Keren, Keren Or, mein Lichtstrahl“, flüstert sie leise. „Das soll ihr Name sein, ja?“ Bittend blickt sie ihren Mann an, der sich beeilt, ihrer Bitte zuzustimmen.
„Ja, natürlich, Keren, Keren Or soll sie heißen. Das passt genau zu Chanukka. Licht wird sie in die Welt bringen. Licht und Liebe.“
Alles scheint in schönster Ordnung, gäbe es da nicht ein Problem: Zelda Kowalski blutet und blutet, sodass Dr. Kowalski ihr untersagt, das Bett zu verlassen. Er erhöht das Fußende und verbraucht Verbandsmaterial am laufenden Meter, das sind die Bettlaken, die Ella in den Schränken findet, alles, um dieses Bluten zu stoppen. Es scheint sich auch zu beruhigen. Zelda stillt ihr Kind, das zwischendurch immer friedlich schläft und nur ganz selten weint. Schon glauben alle, dass die Blutungen aufgehört haben, dass Zelda Kowalski sich von der Entbindung erholt hat. Zum ersten Mal darf sie aufstehen. Nach ein paar Schritten öffnet sich ihr Inneres, und Blut strömt aus ihr heraus wie aus einem offenen Wasserhahn. Er lässt sich nicht wieder zudrehen. Nicht, als Dr. Kowalski sie auf das Bett legt, mit erhöhtem Fußteil und mit Verbandsmaterial. „Meine Keren! Wo ist meine Keren?“ Zelda Kowalski öffnet die Augen und blickt ihr kleines Mädchen an. Dann ist es aus. Behutsam nimmt Rachel Kowalski der toten Frau das kleine Mädchen aus dem Arm und legt es in sein Bett.
Dr. Kowalski ist verzweifelt. Seine Zelda, seine Zelda ist tot, unter seinen Händen gestorben, ohne dass er, der bekannte Warschauer Arzt das hätte verhindern können! Stumm und starr sitzt er am Bett seiner toten Frau und bemerkt nicht, was um ihn herum vor sich geht.
Rachel Kowalski und Henryk stehen flüsternd in einiger Entfernung vom Bett mit der toten Frau. „Wir müssen sie beerdigen! So schnell wie möglich!“ bestimmt Rachel. „Die Waschung mache ich zusammen mit Ella.“
„Aber, sie ist ...“, protestiert Henryk.
„Wen sonst habe ich? Du kannst mir auf keinen Fall helfen. Du weißt doch: Frauen für Frauen und Männer für Männer. Diese Ehre wollen wir meiner Schwägerin doch erweisen. Zelda wird mir verzeihen, dass ich eine Schickse nehme. Es gibt sonst niemanden.“
Henryk geht aus dem Haus, holt sich einen Spaten aus dem kleinen Unterstand und beginnt, in dem gefrorenen Boden am Rand des Hofes ein Grab auszuheben.
Rachel nimmt mit Ella die letzte Waschung vor. Als Krankenschwester hat sie mehr als einmal Gelegenheit gehabt zu sehen, wie sie vor sich geht. Zwar kann sie nicht alle nötigen Segenssprüche dafür auswendig, sagt aber diejenigen, die sie kennt, mit umso größerer Inbrunst. Zum Schluss hüllen sie Zelda Kowalski in ein großes weißes Laken und legen sie auf eine Trage, die Henryk draußen zusammengezimmert hat. Am Ende der Beerdigung reißt sich Dr. Kowalski sein Hemd über der Brust ein, Rachel folgt seinem Beispiel und reißt ihr Kleid auf der rechten Seite ein.
Zwischendurch muss das kleine Mädchen gefüttert und frisch gewickelt werden. Die Muttermilch fehlt, aber Rachel Kowalski ist erfinderisch und findet einen provisorischen Ersatz dafür. Das kleine Mädchen schläft friedlich weiter, während seine tote Mutter gewaschen, in ihre letzten Gewänder gekleidet und zu Grabe getragen wird.
Dr. Kowalski besteht darauf, Schiw’a zu sitzen. Was soll mit dem kleinen Mädchen geschehen? Was soll das kleine Mädchen zu essen bekommen? Es braucht dringend bessere Nahrung als die, die Rachel Kowalski ihr vorläufig notdürftig zubereitet, damit es keinen dauerhaften Schaden nimmt. Dr. Kowalski will nichts von derartigem Profanen hören. Er trauert um seine Frau, um die Liebe seines Lebens. „Später, später“, wehrt er ab, wenn seine Schwester die Sprache auf das kleine Mädchen bringen will.
Sieben Tage nach dem Tod und Begräbnis seiner Frau steht Dr. Kowalski von seinem Platz auf dem Fußboden im Wohnzimmer auf. Er ist alt geworden, denkt Ella, als sie ihn sieht. Sein Haar ist zu einer dichten Mähne verfilzt, ein dunkler Bart verdeckt sein Gesicht, und es scheint, als seien seine dunklen Augen noch dunkler geworden und als hätten sie versucht, in die Augenhöhlen zurückzukriechen. Beinahe wie ein Gespenst, denkt Ella, während sie ihn beobachtet, wie er sich zum ersten Mal wieder an den Tisch setzt, um mit ihnen zu essen.
„Wir müssen uns um Keren kümmern“, bestimmt Rachel Kowalski in einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet. „Wenn sie nicht bald richtige Milch bekommt, werden wir auch ihr Grab ausheben können.“ Dabei blickt sie ihren Bruder an, als wolle sie ihn hypnotisieren.
„Woran hast du gedacht?“ Dr. Kowalski ist völlig hilflos und weiß nicht, wie er seinem kleinen Mädchen zu besserer Nahrung verhelfen könnte.
„Ich habe schon mit Ella gesprochen.“ Rachel Kowalskis Stimme klingt tröstend. „Ella nimmt das Mädchen mit zu sich nach Hause. Die Familie hat eine Ziege, und es gibt Nachbarn mit Kühen. Genau die richtige Nahrung für Keren. Sobald der Spuk hier vorbei ist, holen wir Keren wieder bei Ella ab. Nicht wahr, Ella?“
Ella nickt heftig mit dem Kopf, Ja, sie hatte sich Rachel Kowalskis Vorschlag gründlich durch den Kopf gehen lassen. Selbst in ihrem winzigen Dorf stand das Haus ihrer Familie noch am Rand, sodass man vor Entdeckung ziemlich sicher sein konnte. Der Krieg würde ja hoffentlich nicht mehr lange dauern. Im schlimmsten Fall konnte sie das kleine Mädchen im Keller verstecken. Der zog sich unter dem ganzen Haus hin und war mehrfach unterteilt. Es gab einen Verschlag für Kohle, einen für Kartoffeln und ein oder zwei für Eingemachtes. Da konnte man ein Bettchen für das kleine Mädchen aufstellen und mit Regalen und anderem so verstellen, dass niemand darauf kam, dass sich dahinter ein Kinderbett befand.
„Gut, wenn ihr das schon so gründlich vorbereitet habt ...“ Dr. Kowalski hat keine Einwände gegen den Plan seiner Schwester. „Wann sollen sie aufbrechen?“
„Am besten noch heute. Ich habe schon alles vorbereitet. Für Keren und auch für Ella.“ Als Erstes legt Rachel Kowalski die Heiratsurkunde von Dr. Kowalski und seiner Frau Zelda auf den Tisch. „Hier müssen wir die Geburt und den Namen von Keren eintragen. Du, Henryk und ich unterschreiben als Zeugen.“
Mit ihrer schönen Handschrift trägt Rachel Kowalski auf Hebräisch ein: „Keren, geboren am 28. Kislew 5703 (7. Dezember 1942), ihren Eltern Dr. Gabriel Kowalski und seiner Ehefrau Zelda, geborene Nussboim.“ Dr. Gabriel Kowalski, Henryk Skorupka und Rachel Kowalski unterschreiben den Eintrag. Rachel Kowalski faltet die Heiratsurkunde sorgfältig zusammen und überreicht sie Ella Schmielek. „Das ist das Kostbarste, was Keren besitzt. Hüte es wie deinen Augapfel.“ Ella nimmt die Urkunde feierlich entgegen und steckt sie in einen Beutel mit anderen wichtigen Dingen, den sie in ihren Büstenhalter steckt.
„Da sollte die Urkunde sicher sein“, lächelt sie verlegen.
Anschließend übergibt Rachel Kowalski Ella eine geflochtene Tasche, so etwas wie eine geräumige Einkaufstasche. „Hier, liebe Ella, das ist für dich. Unser Dank für deine unbezahlbare Hilfe. Nur der Inhalt des kleinen Etuis, der ist für Keren bestimmt. Falls uns während dieses Krieges doch noch etwas zustoßen sollte. Falls das geschieht, bitten wir dich, such unsere Brüder oder ihre Kinder und gibt ihnen Keren zusammen mit der Urkunde und mit dem Etui. Ich bin sicher, dass sie dich ebenfalls fürstlich belohnen werden.“
Rachel Kowalski reicht Ella die Tasche. Ella hat schon ihre eigene Tasche mit den wenigen Besitztümern, die sie ihr eigen nennt, bei der Tür aufgestellt. Dann geht alles sehr schnell. Rachel Kowalski holt Keren aus ihrem Bett und hüllt sie behutsam in eine warme Decke. Ella zieht ihren Mantel an und nimmt Keren entgegen. Sie verabschiedet sich von Dr. Kowalski, der wie erstarrt am Tisch sitzt und anscheinend noch nicht ganz begreift, was hier vor sich geht. Oder doch? Als Ella sich von ihm verabschiedet, bittet er sie: „Pass gut auf meine Keren auf, ja? Und bring sie uns wieder, wenn alles vorbei ist! Oder bring sie meinen Brüdern. Oder einer jüdischen Einrichtung, wenn es die nach dieser Barbarei noch gibt.“ Dabei blickt Dr. Kowalski Ella so fest und tief in die Augen, dass sich dieser Blick tief in ihr Bewusstsein einprägt und später mahnend vor ihrem geistigen Auge auftaucht, wenn etwas mit Keren geschieht, was ihren Vater nicht erfreut hätte.
Henryk fährt Ella Schmielek mit Keren Kowalski ganz nahe an ihr winziges Dorf, damit Ella es nicht weit bis zum Haus ihrer Eltern hat. Als Ella an die Haustür klopft, wird ihr ganz heiß vor Schreck: Wie soll sie ihren Eltern erklären, woher sie das Baby hat? In der Hektik im Jagdhaus hatte sie keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Was würden ihre Eltern sagen? Ella weiß, welchen großen Wert ihre Eltern auf die Meinung der Dorfbewohner legen. Sie kommt aber nicht mehr dazu, sich eine Erklärung zurechtzulegen, denn schon öffnet sich die Haustür. In der Tür steht ihre Mutter.
„Ella! Ella, woher kommst du so plötzlich? Warum hast du uns nicht vorher benachrichtigt?“ Sie wartet nicht erst Ellas Antwort ab, sondern schiebt sie in die Stube. Ella schaut sich um. Wie viele Jahre ist es her, dass sie sie zum letzten Mal gesehen hat? Ella kommt es vor, als sei das vor Jahrzehnten, nein, Jahrtausenden, nein, in einem ganz anderen Leben gewesen. Wie armselig hier alles aussieht, sagt sie sich. Komisch, das ist mir früher nie aufgefallen! Aber damals habe ich ja auch noch nicht bei Familie Kowalski gelebt und gesehen, wie man leben kann.
„Ella!“ Ihr Vater. Alt ist er geworden. Genau wie die Mutter. Beide sehen so aus, wie sie die Großeltern in Erinnerung hat. Ganz gewiss brauchen die beiden sie jetzt in diesen schlimmen Zeiten. Ella ist froh, wieder bei ihnen zu sein. Trotz der Ärmlichkeit der Behausung. „Gib mir deinen Mantel, Ella!“
Vorher setzt Ella behutsam ihre Tasche auf dem Tisch ab und legt das Bündel aus Decken noch behutsamer daneben.
„Was ist das, Ella?“ Ellas Mutter betastet das Bündel. „Ein Kind! Ein Baby! Wo hast du das her? Du hast uns nie von einem Baby geschrieben.“
„Stimmt“, nickt Ella. „Es ist ja auch nicht meins. Es gehört meiner Herrschaft, der Familie Kowalski. Seine Mutter ist kurz nach seiner Geburt gestorben, und Kowalskis haben mich gebeten, mich um das Baby zu kümmern solange ...“
„Ein Judenbalg! Ja, wirklich?! Du wagst es, uns ein Judenbalg ins Haus zu bringen!? Wie konntest du nur!? Am besten bring’s sofort in den Wald, damit es dort krepiert. Wir wollen hier keine Judenbälger! Stimmt’s, Mutter?“ Vater Schmieleks Stimme donnert geradezu. Er hat das Baby aus dem Schlaf geschreckt. Es weint, ganz leise.
„Jetzt plärrt das Judenbalg auch noch!“ Vater Schmielek kann kaum an sich halten. Am liebsten würde er das Baby an den Füßen packen und an die Wand schleudern.
„Nein, Vater! Bitte, nicht!“ Als habe Ella ihres Vaters Gedanken erraten, klammert sie sich an seinen rechten Arm. „Bitte, nicht, Vater!“ wiederholt sie. „Rachel Kowalski hat mich so eindringlich darum gebeten, es mitzunehmen und es zu hüten. Ich kann sie doch nicht enttäuschen. Sie waren so gut zu mir ...“
„Hm, hm.“ Vater Schmielek kratzt sich hinter dem rechten Ohr. Das tut er immer, wenn er angestrengt nachdenkt. „Wie hast du dir das gedacht? Du und das Baby hier im Dorf? Was sollen denn die Leute denken? Dass du in Warschau herumgehurt hast? Dass du dir ein Baby angeschafft hast? Noch dazu so ein Schwattes. Da sieht man doch von weitem, dass hier kein guter arischer Vater im Spiel war! Was hast du dir dabei gedacht?“ Vater Schmielek wiederholt seine erste Frage.
„Wenn ... wenn ... wenn es dich so sehr stört, dann können wir es ja im Keller verstecken. Damit ... damit niemand etwas von ihm erfährt.“ Ella ist glücklich, dass ihr das so schnell eingefallen ist. Ja, denkt sie erleichtert. Dagegen kann der Vater eigentlich nichts haben. Er wird das Baby weder sehen, noch hören. Sie, Ella, wird dem Baby zusammen mit der Mutter ein hübsches Eckchen im Keller einrichten, wo es ihm an nichts fehlen soll – außer an Tageslicht. Auch da wird sie sich schon etwas einfallen lassen, damit das Baby immer wieder an die frische Luft kommt, ohne dass es den Nachbarn auffällt.
„Aber bevor wir irgendetwas unternehmen oder noch lange weiterreden“, mahnt Ella an, „braucht das Baby jetzt ganz dringend schöne warme Milch. Die letzte Milch seiner Mutter hat es vor ein paar Tagen gehabt. Seither hat es keine Milch mehr bekommen.“
Schon bringt Mutter Schmielek einen Topf Milch und einen Teelöffel. „Wir müssen ihm ein paar Flaschen besorgen, damit es leichter trinken kann. Sonst verhungert es uns unter den Händen.“ Mutter Schmielek war schon immer praktisch, und das beweist sie auch jetzt im Umgang mit dem Baby, das ihre Tochter ihnen so unangekündigt ins Haus gebracht hat. „Ich wollte morgen sowieso mit dem Nachbarn nach Treuburg fahren. Da kann ich ein paar Sachen fürs Baby kaufen.“
„Am Geld soll es nicht liegen.“ Ella greift in ihre Tasche, die vor ihr auf dem Tisch steht, und zählt der Mutter großzügig mehrere große Scheine in die Hand. „Da, das reicht wohl, um alles zu kaufen, was das Baby jetzt erst einmal braucht. Und für den Rest kauf’ uns doch mal was richtig Gutes. Wir brauchen von jetzt an nicht mehr jeden Pfennig zehnmal umdrehen.“ Ella strahlt ihre Eltern an. Sie kommt zwar mit einem jüdischen Baby nach Hause, aber auch mit einer Tasche, gefüllt an den Rand mit Geld und kostbarem Schmuck.
„Na, wenn das so ist ...“ Selbst Vater Schmieleks Widerstand gegen das jüdische Baby schmilzt angesichts dieser unerwarteten Reichtümer wie Schnee in der Sonne. „Das ist natürlich was ganz anderes. Soll es ruhig ein Judenbalg sein. Wir werden gut auf es aufpassen. Denn dieser Spuk wird eines Tages, hoffentlich schon bald, vorbei sein. Und wenn dann die Familie kommt, um sich das Baby abzuholen, bringt sie uns sicher noch mal so’ne Tasche mit. Und das soll’s mir wert sein. Also los, kümmert euch ums Baby. Ach, ja. Wie soll’s denn heißen?“
„Eigentlich heißt es Keren Kowalski.“
„Quatsch! Heutzutage heißt keiner hier Keren Kowalski! Wo kämen wir denn hin? Hast du uns nicht von deinem blonden Siegfried in Warschau geschrieben? Wie wär’s, wenn wir das Baby Kriemhild nennen würden? Passt doch schönstens! Und wenn, später natürlich, auch noch eine Ferntrauung mit diesem Siegfried stattfände. Dann hätte das Baby hier auch einen Vater ... bis der Spuk vorüber ist, natürlich.“

Beinahe vierzehn Tage nach Ella Schmieleks Heimkehr bei ihren Eltern, in zwei Tagen ist schon Heiligabend, denkt sie gerade, als sie aus dem Keller in die Stube tritt, nachdem sie Kriemhild schlafen gelegt hat, klopft es heftig an der Tür.
„Aufmachen! Aufmachen! Ist hier keiner zu Hause?“
Ella öffnet die Tür und tritt schnell zur Seite. Herein stürmen fünf Männer. Soldaten der SS! Sie erkennt sie an den Abzeichen an ihrer Mütze.
„Ich bin der Hermann“, stellt sich ihr Anführer Ella vor. „Wir sind die Vorhut der 6. Einheit. Wir haben uns verlaufen und brauchen für die Nacht eine Unterkunft. Bring uns was zu essen und zu trinken!“
Ella fühlt sich nach Warschau zurückversetzt. Auch dort haben die Soldaten sie im gleichen Befehlston herumkommandiert, nur waren sie etwas höflicher als diese ungehobelten Burschen. Ella eilt in die Küche und erklärt Mutter Schmielek, dass sie Besuch hätten. Beide Frauen bereiten das Essen zu, Vater Schmielek geht in den Keller hinunter und holt seinen selbst gebrauten Schnaps hoch.
„Ihr dürft mit uns essen“, erlaubt ihnen Hermann, der Anführer des kleinen Trupps großzügig. „Wir möchten gerne wissen, was es so bei euch gibt, denn wir kommen aus dem Rheinland. So weit im Osten waren wir bisher noch nie.“
Die Soldaten essen und trinken, dann haben sie gegessen und fahren mit dem Trinken fort. Vater Schmieleks kräftiger Schnaps löst ihnen die Zunge. „Wisst ihr, was wir gefunden haben, gar nicht weit weg von euch?“ Hermann gibt sich ganz geheimnisvoll. „Ihr werdet es nicht raten: eine Jagdhütte! Und ratet mal, was oder wer in der Jagdhütte war? Nun? Was meint ihr wohl?“ Hermann macht es ganz spannend. „Ja, habt ihr das gewusst: Ganz in eurer Nähe haben sie sich versteckt: diese Blutsauger, diese Itzigs!“
Ella wird es schwarz vor den Augen. Sie werden doch wohl nicht ...
Bevor sie weiterdenken kann, fährt Hermann fröhlich fort: „Ja, wir haben sie uns vorgenommen. Erst die Hure! Wie hat die mit den Händen und Füßen gezappelt! Geziert hat sie sich. Das hat ihr aber nicht geholfen. Denn zwei haben ihr die Arme festgehalten, als sie so schön auf dem Tisch lag, und die anderen durften nacheinander an sie ran. Hei, war das ein Spaß! Wir haben nämlich schon lange keine Frau mehr gehabt. Als wir alle mit ihr fertig waren, haben wir sie auf einen Stuhl gesetzt und festgebunden. Und auch den Mann. Das war ein richtiger Itzig. Mit einem langen schwarzen Bart und richtig irren schwarzen Augen. Dem haben wir immer wieder eine in die Fresse gelangt, und dann haben wir auch ihn an einen Stuhl gebunden. Aus dem Ofen haben wir dann die brennenden Scheite im Haus verteilt und dann draußen gewartet, bis alles in lichterlohen Flammen stand. Hei, wie hat ihre schwarze Seele geschrien, als sie zum Teufel fuhr!“ Zufrieden lachend blickt Hermann in die Runde.
Ella ist bei Hermanns Erzählung zusehends blasser geworden. Sie ist nahe daran, von ihrem Stuhl zu fallen.

Aus Rachel Kochawi: „Das Brot der Armut. Die Geschichte eines versteckten jüdischen Kindes.“ Lich/Hessen 2010. 328 Seiten. 18,00 €.

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