Spiritualität und Gesetz im jüdischen, muslimischen und christlichen Diskurs
Eine interreligiöse Nacht des Lernens in Tel Aviv
von Barbara U. Meyer

Hintergrund
An Shavuot, dem jüdischen Wochenfest, erinnern sich Juden an die Gabe der Tora und der Gebote. Traditionell wird die ganze Nacht hindurch Tora gelernt, bis zum Morgengebet. Das Lernen selbst ist ein »Tikkun«, eine spirituelle Heilung (oder wörtlich übersetzt: Reparatur; Korrektur), und zugleich Teil des großen »Tikkun Olam«, der Heilung der Welt und Wiederherstellung der Schöpfung. Diese Tradition der »Nacht des Lernens« hat in Israel in den letzten zehn Jahren eine religiöse Renaissance erlebt und auch eine kulturelle Erweiterung erfahren: Alle religiösen Institutionen in Jerusalem und insbesondere die modernen Lehrhäuser bieten Vorträge und Lernprogramme an. In Tel Aviv sind es vor allem säkulare Kulturinstitute, die diese jüdische Tradition aufnehmen und sie mit Kunst und aktueller Kultur, Film und Musik, neu gestalten.

Der Rabbiner der konservativen Synagogengemeinde in Tel Aviv, Kehilat Sinai, zu der das weltoffene Lehrhaus Midreshet Ijun gehört, begrüßte die Idee, in diesem Jahr zu einer interreligiösen Lernnacht einzuladen. Rabbiner Roberto Arbiv ist seit über fünfzehn Jahren aktiv am interreligiösen Dialog beteiligt. Vor zehn Jahren begründete er zusammen mit Dr. Avraham Elkayam von der Bar Ilan Universität und dem jungen Sheikh Ghasan miNazra eine jüdisch-muslimische Gruppe zum Studium des Sufismus, »Derech Avraham«, auf Arabisch: »Tariqua«. Ich selber nahm an den Tagungen und Veranstaltungen der Gruppe in den ersten Jahren des öfteren und in letzter Zeit gelegentlich teil. Bei einem Treffen der Studiengruppe im Dezember letzten Jahres hielt Omar Rais aus Akko einen Vortrag, der mich sehr beeindruckte: Sein Gebotsverständnis erinnerte mich ein bisschen an Luther und ich war fasziniert von seiner Argumentation für die »Freiheit eines Muslim-Menschen« - wie ich lutherisch übersetzen würde.

Gesetz und Geist
In der Studiengruppe Tariqua wurde die Frage der Observanz im letzten Jahr auch konkret gestellt, da die Mehrheit der jüdischen Teilnehmenden nicht observant ist. Soll die Meditation am Shabbat mit Musikinstrumenten gestaltet werden? Bedeutet Gesetzestreue eine Einschränkung für die Spiritualität? Dies ist eine aktuelle Streitfrage auch zwischen dem gesetzestreuen konservativen Rabbiner und den vielen nicht- oder teilweise observanten Besuchern des Lehrhauses.

Sowohl Rabbiner Arbiv als auch Sheikh Ghasan miNazra begeisterten sich sofort für die Thematik, die im interreligiösen Gespräch an besonderer Tiefe und Komplexität gewinnt. Wir wollten sehen, wie Juden, Christen und Muslime in der Spannung zwischen Spiritualität und Gesetzestreue voneinander lernen können, und in welcher Weise derselbe Konflikt der einen Gemeinschaft für die Anderen erhellend sein kann. Da die Thematik auch intra-religiös spannungsvoll ist, war es uns wichtig, aus jeder der drei Religionen nicht nur eine Stimme zu hören. Dennoch richtete sich die Wahl der Referenten und Referentinnen mehr nach dem Interesse der einzelnen am Thema als an dem Versuch, die divergierenden Strömungen innerhalb aller drei Glaubensrichtungen zu repräsentieren.

Tikkun Leil Shavuot
Rabbiner Roberto Arbiv eröffnete die Lernnacht und begrüßte die Gemeinde sowie viele Besucher und Besucherinnen, die aufgrund einer Zeitungsannonce in HaAretz von dieser Veranstaltung wussten. Das kleine Lehrhaus war voll bis auf den letzten Platz, zwischen siebzig und achtzig Lernfreudige waren gekommen, die tatsächlich auch alle bis nach Mitternacht blieben. In einer Shavuot-Lernnacht ist es nicht ungewöhnlich, dass Leute kommen und gehen, doch die Atmosphäre war ausgesprochen konzentriert und den Gastreferenten zugewandt.

Als erster sprach Professor Rabbiner Yehoyada Amir über den »post-halachischen« Ansatz im Reformjudentum: Halakha gewinnt im Reformjudentum wieder an Bedeutung, ohne dass sich Reformjuden dem Religionsgesetz gegenüber insgesamt verpflichten. Yehoyada Amir sprach über die Bedeutung der Mitzva, des Gebotes, und zitierte Abraham Joshua Heschel, der genau in der Bindung an das Gebot, im »Geboten sein«, die Menschlichkeit begründet sieht. Amirs Plädoyer für das Gebot war so überzeugend, dass seine Weiterführung zur Freiheit des Menschen dahinter beinahe etwas zurückblieb!

Der zweite Referent war der Jesuit David Neuhaus, der seit einigen Jahren Stellvertreter des lateinischen Patriarchen im Heiligen Land und Priester der hebräisch sprechenden katholischen Gemeinde ist (deren Priester einst Bruno Hussar war, der Gründer von Neve Shalom, und zu der auch Marcel Dubois gehörte). David Neuhaus sprach über »Ahavat haTora« und »Torat haAhava«: Liebe zur Tora und die Lehre der Liebe. Er entwickelte seine Darstellung der christlichen Auffassung von Liebe und Tora anhand zahlreicher Texte, die er vorlas und erklärte, darunter 2. Kor 3, 6; Gal 3, 1-3; Jak 2, 14-17; Röm 7, 14-25; Mk 7, 15-19. Dass Jesus sich nicht gegen, sondern dezidiert für die Bedeutung der Tora aussprach, machte er am Beispiel von Mt 5, 17 deutlich. Für Paulus, daran ließ David Neuhaus allerdings keinen Zweifel, stehe die Liebe über dem Gesetz. Die breite Textbasis, mit der Neuhaus argumentierte, gab dem Publikum, dem das Neue Testament überwiegend nicht vertraut war, einen guten Einblick in die so unterschiedlichen neutestamentlichen Texte zum Thema. Die Lernenden konnten die ausgedruckten Texte mitverfolgen und taten dies mit großer Aufmerksamkeit. Dass neutestamentliche Texte verlesen und erklärt werden, ist selbst in interreligiösen Veranstaltungen in Israel eher selten. Die ernsthafte und würdevolle Darstellung der Thematik schien sich auf die Zuhörenden zu übertragen.

Die dritte Stimme im »ersten Tikkun«, der ersten Lerneinheit, war die von Omar Rais, dem Repräsentanten des Sufi Ordens Shadhili Yashrutiyya aus Akko. Er hatte einen weiten Weg nach Tel Aviv und kam etwas später, so dass er den Vortrag von Reformrabbiner Amir nicht gehört hatte. Umso aufmerksamer hörte Amir nun dem Sufi Omar Rais zu, der die Gedanken zur Freiheit des Gläubigen gegenüber dem Religionsgesetz weiterführte. Der Titel seines Vortrags »Zwischen der Shari’a und der Wahrheit« kündigte bereits den Unwillen an, ein Gesetzessystem einfach mit der Wahrheit gleichzusetzen. Dabei ließ sich Omar Rais nicht auf gesetzesfeindliche Aussagen ein. Vielmehr plädierte er für die Unterscheidung zwischen der einen Shari’a Gottes, dem verbindlichen, heiligen Gotteswort, und der Shari’a in menschlicher Verwaltung, die bisweilen politisch ausgenutzt wird und der gegenüber die gottestreuen Sufis die Freiheit ihres Verstandes nutzen dürfen, den Gott ihnen gegeben hat. Der zweifache Gesetzesbegriff und die schöpfungstheologische Argumentation von Omar Rais sprach sowohl Juden als auch Christen an: Das Plädoyer für die Freiheit, sich des eigenen, gottgegebenen Verstandes zu bedienen, kam der Argumentation von Reformrabbiner Amir sehr nahe. Der zweifache Gesetzesbegriff erinnerte mich an Bonhoeffers Unterscheidung zwischen Gebot und Gesetz.

Für ihre nicht-nomistische Haltung werden Sufis auch heute noch verfolgt. Rais sprach sehr offen über seine Kritik an Muslimen, die das von Menschen formulierte Gesetz zu ihren politischen Zwecken ausnutzen. Selbstkritisch problematisierte er, dass Sufis oft nicht laut und deutlich widersprechen. Doch auch ohne offenen Konfrontationswillen ist der Sufi-Weg nie ungefährdet. Omar Rais beeindruckte das Publikum und die anderen Referenten mit seiner geistigen und geistlichen Unabhängigkeit und Offenheit. Bis nach Mitternacht dauerte dieser »erste Tikkun«, der mit Fragen an die Referenten und einer kurzen Diskussion beschlossen wurde – das Gespräch sollte dann nach dem »zweiten Tikkun« weiter fortgesetzt werden.

Zum »zweiten Tikkun«, der sich nach einer kurzen Pause anschloss, blieben über vierzig Leute, die vom Lernen wach geworden waren! Dr. Marina Arbiv sprach über »Geist und Buchstaben bei Gershom Sholem«. Die zentrale paulinische Unterscheidung zwischen Geist und Buchstabe ist aus der westlichen Kultur nicht wegzudenken – jüngeren Israelis hingegen muss diese Gegenüberstellung erklärt werden. Anschaulich zeigte Marina Arbiv, wie sehr die Spannung zwischen Geist und Gesetz eine innerjüdische Spannung ist, die nicht nur für die Frage der religiösen Haltung bedeutungsvoll ist.

In meinem Beitrag »Tikkun des Antinomismus im Christentum« ging es um eine zeitgenössische Kritik des christlichen Antinomismus. Der interreligiöse Zusammenhang ließ mich zunächst den christlichen von einem jüdischen oder islamischen Antinomismus unterscheiden: Die christliche Abwertung des Gesetzes bezieht sich nicht allein auf das eigene, ein christliches Gesetz, sondern immer auch auf das Gesetz eines Anderen, auf die Grundlagen des jüdischen Gesetzes. An Rö 7, 12 zeigte ich, dass auch Paulus seine eigene Abwertung des Gesetzes (Gal 5) korrigiert. Und Mt 5, 17 interpretierte ich als eine Korrektur (hebr.: Tikkun!) Jesu: Er selbst weist ein mögliches Missverständnis seiner Gesetzesauffassung explizit zurück. Die grundsätzliche Notwendigkeit der Korrektur christlicher Gesetzesfeindlichkeit begründete ich nicht nur mit dem tiefen Zusammenhang zwischen christlichem Antijudaismus und christlichem Antinomismus. Auch innerchristlich führt die Gesetzesferne zu einer Entfremdung von Jesus und den Anfängen des Christentums. Im Römerbrief korrigiert Paulus seine abwertende Haltung zum Gesetz aus dem Galterbrief, mit gutem theologischen Grund: Die Tora ist von demselben Gott, der Christus gesandt hat, es ist kein anderer. Diese christliche Selbstkorrektur interpretierte ich als Tikkun, als Heilung der jüdisch-christlichen Beziehung und zugleich christliche Heilung der eigenen Tradition.

Die Themenstellung von Sheikh Ghasan miNazra lautete »Sufismus und Shari’a – Verbindung und Gegensatz«, und auch hier kündigte sich eine Distanz zwischen Glaube und Gesetz bereits im Titel an. Ghasan miNazra ist Mitbegründer der Studiengruppe Tariqua und seit über zehn Jahren wöchentlich in diesem Dialog engagiert. Er zeichnete in großen Linien die Geschichte des Sufismus auf, die von Versöhnung und Spannungen mit dem islamischen Gesetz geprägt ist. Mit dieser Frage, die immer eine existentielle und gefährliche Frage war, gingen die großen Denker des Sufismus Al Ghazali und Ibn Arabi unterschiedlich um. Auch Ghasan miNazra deutete an, dass die geistige Unabhängigkeit der Sufis bis heute einen hohen Preis kostet. Er selbst vertritt einen ausgeglichenen Mittelweg: Sein Denken ist frei und kritisch und keineswegs würde er das Gesetz mit Gottesnähe identifizieren. Seine irenische Neigung führt ihn jedoch in die Nähe traditioneller Lebensweise.

Der letzte Referent war Ethan haCohen, ein junger orthodoxer Rabbiner, der einen Midrash zum Hohenlied mitgebracht hatte: Nach dem Gesetz musste sich ein Ehepaar, das sieben Jahre kinderlos geblieben war, scheiden lassen. Am Abend bevor die Frau in das Haus ihres Vaters zurückkehren musste, bat ihr Mann, sie möge von allen Dingen des gemeinsamen Hauses das, was ihr am meisten gefiele, mitnehmen. Sie gab ihm reichliche Wein zu trinken und als er schlief, nahm sie das Bett samt ihrem Mann in ihr Elternhaus!
Der orthodoxe Rabbiner zeigte mit diesem schönen Text, dass die rabbinische Literatur selbst aufmerksam gegenüber der Spannung zwischen halakhischer Festlegung und menschlichen Empfindungen ist, und letztere keineswegs negiert. Der Text wurde gemeinsam entdeckt und diskutiert – bis drei Uhr morgens. Danach blieb eine kleine Gruppe um mit dem Rabbiner der gastgebenden Synagoge Roberto Arbiv das Buch Rut zu lernen – bis zum Morgengebet.

Gesetz und Gastfreundschaft
Die Frage nach dem Miteinander von Spiritualität und Observanz wurde an diesem Wochenfest nicht nur explizit beantwortet: Viele teil- und nicht observante Israelis nahmen an dieser langen Nacht des Lernens teil, die - anders als auch im Zentrum des Reformjudentums in Tel Aviv – hier in Toratreue stattfand, d.h. ohne Filme und ohne Musik, und daher [leider] auch ohne Video-Aufzeichnung und ohne Photos.

Die Bereitschaft der gastgebenden konservativen Synagogengemeinde, Observanz zur Diskussion zu stellen, ist sowohl innerjüdisch als auch im Gespräch mit Christen und Muslimen bedeutungsvoll. Dass ein observanter Rabbiner in der Lernnacht selbst jüdische und christliche Kollegen einlädt, um mit ihnen die Verbindlichkeit des Gesetzes und die Spannung zur Spiritualität zu diskutieren, ist eine Geste großer Offenheit. Zugleich konnten alle sehen, dass die Gesetzestreue dieses Rabbiners offen ist für die Gesetzeskritik und die Spiritualität der christlichen, muslimischen und der anderen jüdischen Kollegen und Kolleginnen. In der Offenheit der Referentinnen und Vertreter der verschiedenen Glaubens- und Gesetzesgemeinschaften, auch die inneren Spannungen innerhalb ihrer eigenen Konfession zur Diskussion zu stellen, sehe ich eine besonders tiefe Dimension des Tikkun Olam, einer Heilung der äußeren und inneren Beziehungen zwischen Gläubigen und Gesetzestreuen aus Judentum, Christentum und Islam.

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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
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