Die Siedler
Das israelische Siedlungsprojekt seit 1967 und die Rolle religiöser Zionisten
von Steffen Hagemann

Noch am Unabhängigkeitstag des Jahres 1967 betrauerte der Rabbiner Zvi Jehuda Kook in einer emotionalen und später von seinen Anhängern als prophetisch bezeichneten Rede die fehlende jüdische Souveränität über die biblischen Territorien. Dieser Verlust ließe ihn nicht in die Freude über die Errichtung des israelischen Staates einstimmen, da diese ohne die biblischen Stätten unvollständig sei. «Und wo ist unser Hebron - haben wir es etwa vergessen?! Und wo ist unser Shkhem - haben wir es etwa vergessen? Und wo ist unser Jericho - haben wir es etwa vergessen?! (...) Ich bin in Stücke zerbrochen. Sie haben das Land Gottes geteilt. Ich habe gebetet...Ich konnte nicht hinausgehen und tanzen und feiern.»

Viele religiöse Juden teilten diese Sehnsucht nach dem biblischen Urland, war der Staat 1948 doch in der Küstenebene und im Negev, nicht jedoch in Judäa und Samaria gegründet worden. Nur einen Monat später im Krieg von 1967 eroberte Israel jedoch genau diese Gebiete. Am 7. Juni 1967 zog der Oberrabbiner der israelischen Armee Shlomo Goren umgeben von Soldaten mit einer Tora-Rolle und einem Widderhorn zur Klagemauer und beschrieb den (noch immer anhaltenden) Krieg als die Realisierung der prophetischen Vision. «Die Vision aller Generationen ist vor unseren Augen wahr geworden. Die Stadt Gottes, Heimat des Tempels, des Tempelberges und der Klagemauer - das Symbol der messianischen Erlösung, ist heute von euch erlöst worden, Helden der israelischen Armee.» Ähnliche Zeremonien wurden auch an anderen biblischen Stätten direkt nach ihrer Eroberung durchgeführt. Die israelische Gesellschaft war von einer Woge messianischer Begeisterung erfasst, die auch säkulare Politiker wie Verteidigungsminister Moshe Dayan oder Ministerpräsident Levi Eshkol in religiösen Motiven sprechen ließ.

Unentschiedenheit der Regierung genutzt

Für die Gruppe junger religiöser Zionisten um Rabbi Kook war der Sieg von 1967 ein mystisch-messianisches Erlebnis, durch welches die Wiederverbindung mit dem Land von einer fernen Sehnsucht und einem tiefen Verlangen in eine greifbare physische Realität transformiert wurde. Zvi Jehuda Kook hatte die zionistische Bewegung, die Rückkehr des jüdischen Volkes in das Land Israel und die Gründung eines souveränen Nationalstaates als Beginn des messianischen Prozesses interpretiert, der seiner Vollendung in der vollständigen Wiederverbindung des jüdischen Volkes mit dem ganzen Land Erez Israel auf Grundlage der religiösen Gebote entgegenstrebe. Der Krieg von 1967 machte nun die Übersetzung der messianischen Sehnsucht in konkretes Handeln möglich: Um die Erfüllung zu vollenden, bedürfe es, so Kook, der Errichtung von Siedlungen, um die eroberten Gebiete aus den Händen der Nicht-Juden zu «befreien» und für immer unter jüdische Souveränität zu stellen.

Noch im Jahr 1967 begannen erste Aktivistengruppen mit der Besiedlung des Westjordanlandes in Kfar Etzion und Hebron. Beide Orte waren für die sich konstituierende Siedlerbewegung wie für die zionistische Bewegung insgesamt als Erinnerungsorte von hoher symbolischer Bedeutung, hatte dort bereits vor der Staatsgründung eine jüdische Bevölkerung existiert, die von der lokalen palästinensischen Bevölkerung ermordet und vertrieben worden war. Die Rückkehr diente nun dazu, die Schmach der Vertreibung zu löschen und die nationale Wiedergeburt und die Stärke des jüdischen Volkes zu demonstrieren. Zugleich ist Hebron für die religiösen Siedler jedoch mehr - es ist der heilige Ort der Geschichte der Juden im Land Israel. In der Höhle der Machpelah sind nach jüdischer Überlieferung die drei Patriarchen und ihre Frauen begraben, zugleich gilt Hebron als Ort der Ankunft des Messias und symbolisiert damit exemplarisch die heilsgeschichtliche Bedeutung des Siedlungsprojekts für die religiöse Siedlerbewegung.

Die israelische Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt keine klare Siedlungspolitik formuliert, vielmehr schwankte die Regierung zwischen zwei konfligierenden Tendenzen: Einerseits galten die besetzten Gebiete als Verhandlungsmasse in Friedensverhandlungen mit arabischen Ländern, andererseits wurden die Chancen für baldige Friedensverhandlungen als äußerst gering eingeschätzt. Zudem war es innerhalb der israelischen Regierung unstreitig, einige Gebiete dauerhaft unter israelischer Kontrolle zu behalten, um die Sicherheit Israels zu stärken. In diesem Sinne sollten Siedlungen an spezifischen, sicherheitsrelevanten Positionen zur Sicherung der Grenzen Israels beitragen. Welche Gebiete aber als sicherheitsrelevant zu betrachten seien, wo die Regierung also Siedlungen initiieren und autorisieren sollte, war innerhalb der Regierung umstritten. Diese Unentschiedenheit der Regierung nutzten die religiösen Siedler aus: Sie errichteten Siedlungsstrukturen ohne Genehmigung, suchten dann die Unterstützung prominenter Regierungsmitglieder und ließen die neue Siedlung schließlich rückwirkend autorisieren - eine Strategie, die von der Siedlerbewegung bis heute mit Erfolg angewendet wird.

Hebron und Kfar Etzion bildeten nur den Auftakt der umfassenden Besiedlung der besetzten Gebiete. Nach den neuesten Zahlen leben über 300.000 Israelis in über 120 Siedlungen des Westjordanlandes (ohne Ostjerusalem). Dabei handelt es sich keineswegs nur um religiöse Juden. Entlang der Grünen Linie und des Jordantals sind große Siedlungen entstanden, die teilweise zu eigenständigen Städten mit über 30.000 Bewohnern angewachsen sind. Viele der Bewohner dieser «Schlafstädte» sind nicht aus ideologischen Motiven, sondern aus Gründen der höheren Lebensqualität dank staatlicher Förderung in die besetzten Gebiete gezogen.

Rückschläge als Motivationsschübe

Auch ultraorthodoxe Israelis sind in den letzten Jahren auf Grund des Angebots von günstigem Wohnraum in eigene Siedlungen gezogen. Der Kern der religiösen Siedlerbewegung jedoch lebt auf den lang gestreckten Hügelketten, die sich durch das Westjordanland ziehen. Auf den Kuppen der Hügel errichtet, überragen und umzingeln die Siedlungen palästinensische Siedlungsgebiete und begrenzen damit das Wachstum palästinensischer Städte und Dörfer. Es sind vor allem jene kleinen Siedlungen, ihre geographische Lage, infrastrukturelle Vernetzung und architektonische Ausgestaltung, die eine Doppelfunktion besitzen: Sie eignen einerseits konkret Territorium an und bringen es unter die Kontrolle der Siedler, andererseits demonstrieren die Siedlungen als Symbol nach innen gegenüber der israelischen Bevölkerung wie nach außen gegenüber den Palästinensern den alleinigen Anspruch des jüdischen Volkes auf das ganze Land zwischen Mittelmeer und Jordan. Unabhängig davon, inwieweit dieser Anspruch auf das biblische Territorium Erez Israel von der Gesamtbevölkerung geteilt wird, ist es der Siedlerbewegung auf diesem Weg gelungen, Fakten auf dem Boden zu schaffen.

Wie ist dieser Erfolg des Siedlungsprojekts zu erklären? Die religiösen Zionisten, die sich 1974 in der Siedlerorganisation Gusch Emunim («Block der Getreuen») zusammengeschlossen hatten, sahen in ihren Aktionen eine Erfüllung der heiligen Mission Israels. Sie waren gewillt, im Westjordanland zu siedeln; unabhängig von der jeweiligen Regierungspolitik. Als religiös motivierte Gruppe waren diese Siedler in ihren Aktionen durch große Opferbereitschaft, innere Überzeugung und Persistenz charakterisiert. Rückschläge wirkten nicht demotivierend, sondern wurden als Aufruf Gottes zu noch größerem Engagement verstanden. Offensichtlich ist auch, dass die Errichtung von 120 Siedlungen nicht ohne politische Unterstützung und materielle staatliche Zuwendungen möglich war. Der quantitative Durchbruch für das Siedlungsprojekt erfolgte nach der Regierungsübernahme Menachem Begins 1977. Dieser teilte zwar nicht die religiöse Ideologie Gusch Emunims, wohl aber einen territorialen Maximalismus, der den alleinigen Anspruch des jüdischen Volkes auf Groß-Israel formulierte. Die Regierung förderte das Siedlungsprojekt massiv mit Subventionen. Zugleich ist es den Siedlern in den mittlerweile vier Jahrzehnten des Siedlungsprojekts gelungen, das politische System, die Armee und allen voran die Ziviladministration zu penetrieren. Jenseits der politischen Ausrichtung israelischer Koalitionsregierungen sind sie dadurch in der Lage, Fakten auf dem Boden zu schaffen und das Siedlungsprojekt voranzubringen. Allzu oft haben israelischen Regierungen der politische Wille und die Bereitschaft zur Konfrontation mit den Siedlern gefehlt, so dass die Siedlungen trotz aller Verhandlungen weiter wachsen. Der Erfolg von Gusch Emunim liegt also maßgeblich darin begründet, über das nationalreligiöse Milieu hinaus politische und gesellschaftliche Unterstützung für die Besiedlung der besetzten Gebiete gewonnen zu haben.

Die religiöse Siedlerbewegung inszenierte sich in der israelischen Öffentlichkeit sehr erfolgreich als Revitalisierungsbewegung des klassischen Zionismus: Sie stellte das Siedlungsprojekt in die Tradition der vorstaatlichen Pioniere, berief sich auf Heldenfiguren des säkularen Zionismus und behauptete, das zionistische Projekt der Rückkehr in das historische Land Israel zu vollenden. Die religiösen Siedler riefen damit sowohl in ihrer äußeren Erscheinung, ihrem Idealismus und Aktivismus sowie in ihrer Symbolik Erinnerungen an die «goldene Zeit» des vorstaatlichen Zionismus und der Pioniere hervor. Hierdurch gelang es der Siedlerbewegung nicht allein den revisionistischen Zionismus des Likud zu gewinnen, nicht wenige auch innerhalb des Arbeiterzionismus und der Kibbuzbewegung sahen in den religiösen Siedlern eine Aktualisierung der eigenen Vergangenheit und unterstützten das Siedlungsprojekt.

Besiedlung für messianische Erlösung

Trotz dieser Erfolge des Siedlungsprojekts hat die religiöse Siedlerbewegung ihre Ziele keineswegs erreicht. Ihr geht es nicht allein um die Besiedlung des Landes, diese ist vielmehr in eine heilsgeschichtliche Deutung der Geschichte eingebunden, die in der Wiederverbindung des ganzen Volkes mit dem ganzen Land auf Grundlage der Tora und der Ankunft des Messias kulminieren werde. Mit der Rückkehr in das Land ist zugleich die Hoffnung und Erwartung einer Rückkehr zur Tora verbunden. Die religiöse Siedlerbewegung zielt damit auf zweierlei: die Ganzheit des Landes unter jüdischer Souveränität und die Errichtung eines Staates auf religiöser Grundlage. Beide Ziele sind nicht erreicht: Israel ist keineswegs dabei ein religiöser Staat zu werden und die besetzten Gebiete sind (mit Ausnahme Ostjerusalems und der Golanhöhen) bis heute nicht von Israel annektiert worden, gehören offiziell somit nicht zum Staatsterritorium (wobei die Siedler allerdings dennoch israelische Staatsbürger sind). Die Zukunft der Siedlungen (zumindest derjenigen östlich der Sicherheitsanlage) bleibt in der israelischen Gesellschaft hochgradig umstritten. Die Konzeption des Friedensprozesses von Oslo etwa beinhaltete die klare Absage an religiöse Konzeptionen von Eretz Israel und zielte stattdessen auf die Normalisierung der jüdischen Existenz in einem säkularen Staat in sicheren Grenzen entlang der Waffenstillstandslinie von 1949. In diesem Sinne bedrohte der Friedensprozess das Siedlungsprojekt in seiner materiellen wie symbolischen Dimension. Zudem wurde die heilsgeschichtliche Deutung des zionistischen Projekts infrage gestellt, da ein Rückzug aus dem biblischen Kernland die Bedingung für die Erfüllung des messianischen Prozesses unterminieren würde. Der Rückzug aus dem Gazastreifen verschärfte die Diskrepanz zwischen der anfänglichen Hoffnung auf vollständige Erlösung und der nun eingetretenen Enttäuschung in einer Realität, die vor allem von Zugeständnissen geprägt war.

Der Siedlerbewegung ist es nicht gelungen, eine parlamentarische und öffentliche Mehrheit gegen den Rückzug aus dem Gazastreifen und aus vier Siedlungen des Westjordanlandes zu organisieren. Stattdessen hat der israelische Staat seine Stärke und Fähigkeit demonstriert, die demokratische Entscheidung, Siedlungen zu räumen, auch gegen den Widerstand der Siedlerbewegung durchsetzen zu können. Allerdings darf die Schwächung der Siedlerbewegung nicht mit ihrem langsamen Verschwinden oder einem schleichenden Prozess der De-Radikalisierung verwechselt werden - eher ist das Gegenteil der Fall. Trotz der geringeren öffentlichen Resonanz und der ideologischen Krise angesichts der Rückzüge ist die Mehrheit der religiösen Siedler weiterhin von der Richtigkeit ihres Handelns und der absoluten Wahrheit ihrer Interpretation überzeugt. Die heilsgeschichtliche Dramatisierung des Konflikts wie die religiöse Motivation tragen zu einer Verstärkung des Aktivismus bei, der die Entscheidung im Kampf um das Land und den Staat sucht. In den sich wiederholenden Siedlungsversuchen wird das Land als in seiner Substanz heilig bestätigt und damit die Bedeutung der Siedlungen im messianischen Prozess bekräftigt. Auch jene Strömungen, die ihre Aktivitäten auf eine religiöse Erweckung der jüdisch-israelischen Bevölkerung konzentrieren, haben sich keineswegs vom Siedlungsprojekt abgewendet. Die Besiedlung des Landes bleibt unerlässlich für die messianische Erlösung. Gewachsen ist jedoch die Distanz zum israelischen Staat: Dieser habe seine Aufgabe - ebenso wie der säkulare Zionismus - erfüllt und müsse nun durch einen religiösen Staat ersetzt werden. Für eine Minderheit der religiösen Siedler hat der israelische Staat nach der Räumung von Siedlungen sogar jegliche Legitimation verloren - sie leisten keinen Armeedienst, ziehen sich in ihre Gemeinschaft zurück und schließen sich gegenüber der Gesellschaft ab. Ihre Loyalität gilt allein dem göttlichen Gebot der Besiedlung des Landes, das sie auch mit militanten Mitteln gegen staatliche Institutionen durchsetzen.

Die Strategie der religiösen Siedlerbewegung ist derzeit klar zu erkennen: Sie versucht möglichst viel Territorium unter Kontrolle zu bringen und mit möglichst vielen Menschen zu besiedeln, so dass eine Teilung der Gebiete zunehmend erschwert und eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich gemacht wird. Dabei haben die Siedler die Zeit auf ihrer Seite, solange es nicht zu einer umfassenden Friedensregelung kommt.

Dr. Steffen Hagemann ist Autor des Buches«Die Siedlerbewegung. Fundamentalismus in Israel», Wochenschau-Verlag 2010. Außerdem ist von ihm das Buch «Israel: Wissen ,was stimmt» im Herder-Verlag erschienen.

«Jüdische Zeitung», Juni 2010

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