Licht der Diaspora
Jüdisches Gemeindezentrum Mainz

Mainz ist eine der traditionsreichsten jüdischen Gemeinden Europas. Im Mittelalter Zentrum jüdischer Lehre und Religion, ist dies vor allem auf den großen Rabbiner Gerschom Ben Judah (960 bis 1040) zurückzuführen, dessen Lehren und Rechtsentscheidungen Auswirkung auf das gesamte Judentum hatten. Seine Weisheit galt als so groß, dass man ihm den Namen das “Licht der Diaspora” gab. An diese Tradition knüpft das neue Gemeindezentrum in Mainz an.

Die Geschichte der Juden in Mainz hat allerdings auch eine andere Seite. In kaum einer anderen Stadt sind Juden so häufig vertrieben und ermordet worden, und haben so häufig versucht eine Gemeinde wieder neu aufzubauen, wie in diesem so ruhig scheinenden Mainz. Seit der ersten Erwähnung von Juden in ‘Magenza’ im Jahr 900, wurden die Gemeinden in einer tragischen Regelmäßigkeit immer wieder vernichtet und doch fanden wenige Jahre später Juden den Mut sich in Mainz neu anzusiedeln. Mainz verkörpert daher paradigmatisch die Hoffnung, die Lehre und der unerschütterliche Glaube an eine Zukunft, und gleichzeitig die Vernichtung jüdischer Kultur und Menschen über mehr als ein Jahrtausend hinweg.

Nach dem Holocaust wird die Gemeinde von einer kleinen Anzahl von Juden neu gegründet. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein leben etwa 75 jüdische Familien in Mainz, als die Zuwanderung der Juden aus den ehemaligen Sowjetrepubliken die Größe der Gemeinde innerhalb weniger Jahre vervielfacht. Die bestehenden
Räumlichkeiten können die Anforderungen an religiösen, gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten
nicht mehr erfüllen, so dass ein Neubau einer Synagoge mit Jüdischem Gemeindezentrums erforderlich wird, errichtet am Ort der ehemaligen ‘Synagoge Hindenburgstrasse.’

Das Gebäude

Das Judentum hat in seiner Geschichte kaum eine Tradition des Bauens entwickelt und auch keine architektonischen
Stile geformt, die, wie in anderen Religionen, Werte und Glaubensauffassungen in gebauten Raum zu übersetzen versuchen. Anstatt dessen kann man Schrift und die Aktivität des Schreibens als ein Ersatz der Raumproduktion auffassen. Insbesondere der Talmud, geschrieben nach der Zerstörung des zweiten Tempels und zu Beginn der Diaspora, kann als eine Reaktion auf den Verlust des zentralen Ortes Jerusalem und als ein räumliches Modell gesehen werden. Die Dimension des Architektonischen durchzieht den Talmud von der Thematik
einzelner Kapitel, über die Methodik dessen Redaktion, bis hin zur Argumentationstechnik der Rabbiner. Auch auf der Ebene einzelner Worte und Buchstaben kommt eine Objektqualität zum Ausdruck. Die Form der Buchstaben formt ihre Bedeutung und gibt ihr eine Prägung. Hebräische Buchstaben erlangen dadurch eine Qualität des Gegenständlichen. So ist beispielsweise das ‚Umsortieren‘ von Buchstaben um ganz neue Sinnzusammenhänge
zu erhalten, eine der Argumentationsmethodiken im Talmud. Das Hebräische Wort für ‚Wort‘ (Davar) hat gleichfalls die Bedeutung von Sache, Ding, Objekt. Diese Objektqualität von Schrift, sowie das Konzept des Talmuds (der in Mainz eines der wichtigsten Orte seiner Lehre fand) als ein Verständnis von Raum, bilden die Entwurfsthemen des Gebäudes.

"Qadushah" ist das hebräische Wort für Erhöhen oder Segnen, dessen fünf Buchstaben in abstrahierter Form die Silhouette des Gebäudes prägen. Durch das Sprechen eines Segensspruches, beispielsweise der für Wein oder Brot, wird ein profaner und weltlicher Gegenstand erhöht. Er wird aus dem Alltäglichen herausgehoben
und zu etwas Besonderem. Genau dies soll ebenfalls die Jüdische Gemeinde in Mainz erfahren. Die glasierte
Keramikfassade verweist auf eine andere Ebene der Schrift und wird wie ein Prozess des ‘Inskribieren’ bzw. des Einritzens in Stein geformt. Die geriffelte Oberfläche ordnet sich in konzentrischen Mustern an, mit den Fenstern im Mittelpunkt liegend. Es entsteht eine Dreidimensionalität in der Fläche der Fassade, sowie ein Spiel von Körperhaftigkeit und Räumlichkeit durch das perspektivisch angeordnete Muster der Keramikelemente.

Städtebaulich bildet der Baukörper eine Blockrandbebauung entlang der Gabelsbergerstraße und der Hindenburgstraße.
Durch ein Abknicken des Baukörpers und die Orientierung der Synagoge nach Osten entsteht ein Synagogenvorplatz als öffentlicher Raum an dem sich der Haupteingang befindet, und ein geschützter und mehr introvertierter Synagogen-Innenhof, der den Kindern einen großen Platz zum Spielen und der gesamten jüdischen Gemeinde einen Raum zum Feiern und Leben geben soll.

Die Synagoge, die sich rechts vom Eingang erstreckt, wird durch ein Horn-förmiges Raumvolumen geprägt, welches auf das Shofar, das Widderhorn, verweist. Zurückgehend auf die verhinderte Opferung Isaacs durch Abraham
symbolisiert das Shofar die Verbindung und das Vertrauen zwischen dem Menschlichen und Göttlichen. Die Organisation eines Synagogenraumes wird in der Regel durch einen gewissen Widerspruch geprägt, da Synagogen
einerseits ausgerichtet und nach Jerusalem orientiert werden, auf der anderen Seite der Gottesdienst einen Zentralraum bevorzugt, da aus der Mitte der Gemeinschaft heraus, und aus der Mitte des Raumes, aus der Bibel vorgelesen wird. Dieser inhärente Widerspruch wird räumlich gelöst, in dem das Shofar-förmige Dach den Raum eindeutig nach Osten orientiert, das (östliche = Jerusalemer) Licht jedoch genau in die Mitte des Raumes führt und jene Stelle zum Erleuchten bringt, wo aus der Bibel gelesen wird.

Die Innenflächen der Synagoge sind durch ein mosaikartiges Relief gestaltet, dass sich aus dicht aneinander gereihten hebräischen Buchstaben zusammensetzt, die jedoch keinen semantischen Zusammenhang ergeben. An manchen Stellen lichtet sich diese Buchstabendichte und es werden ‘Piyutim’ (religiöse Dichtungen) lesbar, die von Mainzer Rabbinern während des Mittelalters geschrieben wurden. Die Piyutim schildern in einer fast Brecht’schen Sprache und in Anlehnung an das Hohe Lied, die Liebe zur Thora, und die Zerstörung der Gemeinden
während der ersten Kreuzzüge, und verweisen auf die zentrale Rolle von Mainz für das Judentum.

In den weiteren Bereichen des Gemeindezentrums finden sich die Verwaltungsbereiche, Schulräume, zwei Wohnungen sowie der Veranstaltungssaal. Dieser Raum stellt den sozialen und kulturellen Mittelpunkt des Gemeindezentrums
dar, und wird für Gemeinde-interne, sowie für öffentliche Veranstaltungen genutzt.

Die Gemeinde

Jüdische Gemeinden in Deutschland sind häufig von einem Wunsch geprägt, möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie spielen in der Regel im kulturellen Leben einer Stadt nur eine untergeordnete Rolle. Das stammt zum Teil aus einer Furcht vor einem Wiedererstarken von Antisemitismus, aber auch aus einem Schamgefühl (immer noch) im Land der Mörder der eigenen Familie zu leben. Diese Synagoge, in der Stadt einer der bedeutendsten jüdischen Gemeinden, versucht ein anderes Bewusstsein für die hier lebenden Juden zu bilden. Die neue Synagoge in Mainz ist ein Gebäude, welches mit Mut und Sichtbarkeit einen wichtigen Ort in der Stadt markiert. Es will Menschen, Juden sowie Nicht-Juden, anziehen und an den religiösen und kulturellen
Aktivitäten der Gemeinde teilhaben lassen. Es ist ein Gebäude welches Aufmerksamkeit erregen wird, Fragen aufwerfen soll, Interesse, Zweifel, vielleicht Ärger, aber auch Hoffnung wecken soll. Vor allem ist es ein Gebäude, welches die Juden in Mainz zu einem sichtbaren und aktiven Bestandteil der Stadt macht, und sie gleichzeitig mit ihrer reichen Geschichte verknüpft. In Deutschland, einem Land in dem Synagogen immer auch eine politische Relevanz haben, zeigt das Gebäude die Kraft der Diaspora.

Projektinformationen

Bauherr: Jüdische Gemeinde Mainz, Architekt: Manuel Herz Architekten, Bruttogeschossfläche: 2.500 qm, Baukosten: ca. 6.0 Mill. Euro

Quelle: http://www.manuelherz.com

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