Rabbiner und Rabbinerinnen von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart
von Michael Kühntopf

Dieses Buch ist im Wesentlichen eine Auskopplung aus meinem Hauptwerk „Juden, Juden, Juden. Jüdische Chronik“ (Norderstedt 2008), das in der aktuellen Manuskriptfassung zur zweiten Auflage derzeit einen etwa 10fachen Umfang hat.

Das vorliegende Rabbinerbuch - als Auskopplung genauso „vollständig“ oder unvollständig wie das (allerdings ständig wachsende) Hauptwerk - bringt eine grosse Anzahl von Rabbinern und der ganz wenigen Rabbinerinnen zur Darstellung, unabhängig von ihrer weltanschaulichen Verortung. Und zwar auch solche Persönlichkeiten, die heute historisch ganz anders einsortiert, mit ganz anderen Leistungen in Verbindung gebracht werden, die aber auch - bekannt oder unbekannt - Rabbiner waren oder sind. Oder zumindest sich während einer Phase ihres Lebens darauf vorbereiteten, Rabbiner zu werden. Zum Beispiel Mendele Moicher Sforim, Hermann Schapira, Scholem Aleichem oder Ed Fagan.

Wenn diese letzteren auch Rabbiner waren, ist nicht dies der Hauptfokus der Darstellung, sondern das, wodurch sie sonst bekannt wurden. Teilweise werden auch Personen beschrieben, die in einer bestimmten (meist familiären) Beziehung zu Rabbinern standen oder stehen. Auch so erfährt man etwas über Rabbiner und den Rabbinerstand bzw. über die Menschen, die aus Rabbinerfamilien hervorgingen.

Der Begriff „Rabbiner“ selbst ist sehr weit gefasst, manchmal werden zur Information auch jüdische Gelehrte gebracht, die in Beziehung zu Rabbinern standen, diese beeinflussten, Rabbiner ausbildeten usw. Der Umkehrschluss ist allerdings nicht zutreffend, in diesem Buch geht es nicht um eine Darstellung jüdischer Gelehrter, jüdischer Denker, um eine Darstellung der Entwicklung der jüdischen Religion, sondern Zentrum der Darstellung ist der Rabbiner, das Rabbinat, Rabbinerfamilien und die aus ihnen hervorgegangenen Persönlichkeiten und alles, was damit zusammenhängt.

Die Darstellung beginnt in der zeitlichen Abfolge, von hinführendem Vorgeplänkel und Zweifelsfällen (die eher zugunsten der Nennung entschieden wurden) einmal abgesehen, eigentlich erst mit der Ausbildung des Rabbinats als einer eigenständigen Funktion und Berufsgruppe, das heisst, jüdische Gelehrte des Altertums (Tannaiten, Amoräer etc.), also die Rabbinen im Unterschied zu den Rabbinern, sind nicht mit eingeschlossen, auch wenn sie den Ehrentitel Rab, Rabbi etc. trugen.

Nicht zuletzt werden auch literarische, historische oder sonstige Werke - bis hin zu Comics - angesprochen, die sich mit Rabbinern und ihren Beziehungen zu ihrer Umgebung, der jüdischen oder nichtjüdischen, beschäftigen.

Ich denke, das Thema Rabbiner und Rabbinat ist so interessant und religions-, kultur- und allgemeingeschichtlich bedeutsam, dass es eine spezielle Darstellung verdient.

Einige Erläuterungen zum Begriff „Rabbiner“

„Rabbiner“ (hebr. Sg. Rav, Pl. Rabbanim; deutscher Pl. Rabbiner) ist ein religiöser Titel im Judentum und wird von hebräisch Rav oder aramäisch Rabbuni („Meister, Lehrer“) abgeleitet.

„Rav“ bedeutet im biblischen Hebräisch „viel“, „übergenug“, „gross“, „mächtig“, daraus wurde dann „grosser Mann“, „Lehrer“, „Meister“, „Oberhaupt“ (gemeinsemitisch raba = gross sein, ähnlich wie Magister, Meister, lat. magnus; frz. sieur, eng. sir usw. von lat. senior).

„Rav“ oder „Raw“ oder „Rab“ oder „Rabh“ allein ist auch der Ehrentitel für Abba Aricha / Abba Arikha, der ca. 160 geboren wurde, letzter Tannait und erster und ältester Amoräer in einem, Begründer und Leiter des Lehrhauses in Sutra am Eufrat in Babylonien.

„Rabban“ („unser Herr, unser Lehrer“) ist auch die Bezeichnung für die talmudischen Patriarchen (beginnend mit Gamaliel I.) sowie insbesondere für Jochanan ben Zakkai.

Andere Bezeichnungen  für Rabbiner sind auch „Rebbe“ (im Chassidismus = Zaddik) oder „Lehrmeister“.

„Rabbenu“ = „unser Rav“. „Rabbenu haggadol“ („unser grosser Lehrer“) schlechthin ist Maimonides, Rabbenu Tam = Jakob ben Meir.

„Rabbi“ (= „mein Rav“, „mein Herr, mein Meister, mein Lehrer“) war um die Zeitenwende bis hinein ins Mittelalter ein Ehrentitel für besondere Tora-Gelehrsamkeit, für alle Tannaiten, palästinischen Amoräer (die babylonischen Amoräer wurden „Rav“ genannt, im pal. Talmud „Rabbi“) etc. Auch Jesus von Nazaret wird im Neuen Testament verschiedentlich mit dem Titel „Rabbi“ angesprochen.

„Rabbi“ allein ist auch Ehrentitel und Eigenname geworden für Jehuda ha-Nasi (daneben: Rabbenu hakkadosch, „unser heiliger Lehrer“).

Der Pl. für die jüdischen Gelehrten vor dem Mittelalter ist gewöhnlich „Rabbinen“, nicht „Rabbiner“.

„Raba“, „Rabba“ sind die Namen einzelner ausgezeichneter Amoräer im 3./4. Jahrhundert.

„Rabbaniten“ sind rabbinische Juden - im Unterschied zu den antitalmudischen Karäern.

„Rabbiner“ ist zunächst Titel hervorragender jüdischer Gelehrter, Lehrer der Tora, und besonders des Lehrhausvorsitzenden in Palästina (in Babylonien: „Rav“). Er war kein Priester und hatte keine sakramentalen Befugnisse.

Als besonderer Stand sind Rabbinen, seit Martin Luther in den meisten deutschen Bibeln als Schriftgelehrte bezeichnet, biblisch erstmals in der Zeit nach dem babylonischen Exil in Esra 7,11 genannt, dort wird der Priester Esra als ein mit dem Gesetz Mose erfahrener „Gelehrter der Schrift“ erwähnt. Nach jüdischer Überlieferung hat Esra das mosaische Gesetz, das beim Untergang Jerusalems 586 v. d. Z. verbrannt sein soll und nur noch mündlich weitergegeben wurde, neu aufgeschrieben. Die Aufgaben der Gelehrten in seiner Tradition waren Auslegung der Tora hinsichtlich des konkreten Praxisbezugs auf den jüdischen Alltag. Daraus ging später die Pharisäerbewegung hervor, die schliesslich das rabbinische Judentum begründete.

Bis ins Mittelalter durften Rabbinen mit der Tora kein Einkommen erzielen und auch später haben sie es sich als höchste Ehre angerechnet, darauf bewusst zu verzichten. Deshalb arbeiteten sie in Europa nebenberuflich in diesem Amt. Erst im 14. Jahrhundert wurde dies, nachdem die Anforderungen immer weiter gewachsen waren, schliesslich aufgegeben.

Heute zählt zu den Aufgaben eines Rabbiners die religiöse Unterweisung und die Entscheidung in halachischen Zweifelsfragen (Zivil-, Ehe-, Erbrecht usw.).

In liberalen Gemeinden leitet der Rabbiner oft die Schabbat- und Festtagsgottesdienste, während in traditionellen der Kantor oder Vorbeter (Chasan) zuständig ist.

Ein Rabbiner ist kein Priester, dem besondere religiöse Aufgaben alleine zustünden. Deshalb kann im Grunde auch jedes dazu befähigte Mitglied einer jüdischen Gemeinde den Gottesdienst leiten, vorbeten, aus der Tora vorlesen usw. Oft haben jedoch nur Rabbiner die dazu erforderlichen Kenntnisse. In den meisten liberalen Gemeinden muss der Rabbiner oder die Rabbinerin solche Aufgaben übernehmen, weil kein Chasan zur Verfügung steht.

Eine der wichtigsten Aufgaben eines Rabbiners ist heutzutage die Seelsorge für die Gemeindemitglieder und für Personen, die mit der Gemeinde in Verbindung stehen (z. B. Konversionskandidaten).

In orthodoxen Gemeinden wird aufgrund seiner Vorbildfunktion von einem Rabbiner erwartet, dass er verheiratet ist und Kinder hat.

Im liberalen, progressiven und konservativen Judentum können Frauen als Rabbinerinnen tätig sein, während dies im orthodoxen und ultraorthodoxen Judentum nicht möglich ist. Regina Jonas war wohl die erste ordentlich ordinierte Rabbinerin.

 

Chronologischer Hauptteil

70 n.d.Z.

Nach grausamen Kämpfen erobern die Römer unter Titus Jerusalem [Trauertag des 17. Tammus/Eroberung Jerusalems durch Babylonier bzw. Römer], zerstören Jerusalem und den Zweiten Tempel (9. Ab im Jahre 70 n. Chr.) [9. Aw Trauertag der Tempelzerstörung/1. und 2. Tempel], der niedergebrannt wird. Josephus berichtet, Titus habe angesichts der Zerstörungen geweint. Das mag stimmen, sicher ist aber jedenfalls, dass er befahl, inmitten der Ruinen den heidnischen Göttern ein Opfer darzubringen. Ebenso sicher ist auch, dass die Römer in der Oberstadt drei Wochen später es nicht dabei beliessen, zu plündern und zu vergewaltigen, sondern ein wahres Massaker veranstalteten, obwohl sie auf keinerlei Widerstand mehr stiessen. Titus feierte seinen Sieg drei Tage lang mit Gladiatorenkämpfen, in denen gefangene Juden umgebracht wurden. Die Juden wurden nun vertrieben, leben fortan im („grossen“) Exil/in der Diaspora, als Minderheit in Ländern mit anderen Religionen.

Zur Zeit der Zerstörung des Tempels gab es in Italien im Westen bis nach Indien im Osten bereits jüdische Gemeinden. Besonders zahlreich waren sie, wie schon aus den Missionsreisen des Paulus ersichtlich wird, im östlichen Mittelmeerraum. Im Lauf des 2. Jhdts. gelangten Juden an noch fernere Orte und waren bald in fast allen Küstenregionen des westlichen Mittelmeers, so in Spanien und Nordafrika, präsent. - Auch Christen werden vertrieben. Die sadduzäische, tempeldienstorientierte Bewegung findet hier praktisch ein Ende. Entstehung des rabbinischen Judentums, „doppelte Tora“ (schriftliche Tora im Pentateuch der Bibel, mündliche Tora in der rabbinischen Überlieferung): Das rabbinische Judentum entwickelte sich aus den Lehren der Pharisäer. Sie glaubten, dass das jüdische Gesetz nicht allein in den Schriften der Thora enthalten sei (wie die Sadduzäer meinten), sondern auch die mündliche Tradition (eine Sammlung von Verhaltensregeln und Auslegungen der Thora, die von Gelehrten und Weisen seit den Tagen des Propheten Esra überliefert worden waren) verbindlich sei.

Das spätere rabbinische Judentum beharrte darauf, die mündliche Tradition sei Moses auf dem Sinai offenbart, dann aber nach dem Willen Gottes „vergessen“ worden. Den Rabbis jeder Generation sei die Aufgabe übertragen, dieses Gesetz wiederzuentdecken und die richtigen Lehren für die eigene Zeit daraus zu ziehen. Erstaunlicherweise lässt sich mit gewissem Recht behaupten, dass gerade die Zerstörung des Tempels eine Entwicklung in Gang gesetzt habe, die das Überleben der jüdischen Religion ermöglichte. Die Juden waren nun nicht mehr zur Pilgerfahrt in die ferne Stadt verpflichtet, und all jene rituellen Vorschriften, die nur in Jerusalem erfüllt werden konnten, wurden praktisch irrelevant. Die Juden waren damit frei, ihre Religion ganz unabhängig von ihrem jeweiligen Wohnort zu praktizieren.

Der Gottesdienst in der Synagoge oder das gemeinschaftliche Gebet in einem Privathaus konnte von jedem beliebigen Gläubigen geleitet werden, wenn er nur kompetent genug war. Der Status der Rabbiner in den Diasporagemeinden scheint bis zum 3. Jhdt. und darüber hinaus noch keineswegs eindeutig definiert. Aber sie wurden dann schliesslich im Lauf der Zeit zu den geistlichen Oberhäuptern ihrer Gemeinden, zuständig für die Auslegung des Gesetzes und massgebend in allen religiösen und weltlichen Fragen, ebenso wurden sie zu Repräsentanten ihrer Glaubensgenossen gegenüber der nichtjüdischen Welt.

Der strenge Monotheismus, die Sabbatgesetze und in besonderem Mass die Speisegebote verhinderten, dass sich die Diasporagemeinden in die christlich oder heidnisch geprägten Gesellschaften ihrer Umgebung voll integrierten. Es entwickelten sich zunehmende Spannungen zwischen den Glaubensgemeinschaften, und mancherorts gedieh bereits ein ausgeprägter Antisemitismus. Die Juden ihrerseits waren fremden Religionen gegenüber oft intolerant und fühlten sich in der Zeit unmittelbar nach Zerstörung des Tempels entwurzelt und heimatlos, Bedingungen, die allerlei Unruhen begünstigten.

Ein herausragender Gelehrter, der Rabbi (Ehrentitel „Rabban“; weitere Ehrentitel: „Leuchte Israels“, „mächtige Säule“, „gewaltiger Hammer“) Jochanan ben Zakkai (Jochanan b. Sakkai), führender Tannaite im 1. Jahrhundert, Begründer des Lehrhauses in Jawne, wurde zum Initiator der Erneuerung des jüdischen Glaubens, die das Überleben der Religion ermöglichte. Berichten zufolge soll er in den Kriegswirren des Jahres 70 aus Jerusalem entkommen (Jochanan-Sage: Sich tot stellend, lässt er sich in einem Sarg von zwei Schülern aus dem belagerten Jerusalem tragen und erwirkt bei Vespasian bzw. den römischen Feldherren die Erlaubnis zur Aufrechterhaltung der Akademie) und nach Jabne (Javne, Jawne, Jamnia) geflohen sein, einem unweit Jaffa in der Küstenebene gelegenen, mehrheitlich nichtjüdischen  Städtchen. Dort sammelte er eine Reihe anderer Gelehrter um sich, und gemeinsam machten sie sich daran, die Praxis des Judentums neu zu definieren.

Formen des Gottesdienstes zuhause oder in der Synagoge wurden entwickelt (so beispielsweise der Seder, die häusliche Passahfeier), um den Tempelkult zu ersetzen, und der Kanon des sog. Alten Testaments wurde festgelegt. Jede jüdische Gemeinde, egal ob in Judäa oder anderswo, war letztlich autonom. Es ist zweifelhaft, ob die griechischsprachigen Diasporagemeinden überhaupt in der Lage waren, mit ihren Glaubensgenossen in Judäa, die Aramäisch oder Hebräisch sprachen, zu kommunizieren. Die rabbinische Tradition hat den historischen Kern zu einer Gründungs-Legende ausgestaltet. Es ist nicht einmal gewiss, ob Jochanan der Schule Hillels oder gar den Pharisäern vor 70 angehörte. Schon früh galt er als Mystiker. Seine fünf wichtigsten Schüler waren laut Talmudtraktat Abot (II, 10 f.) Eliezer ben Hyrkanos, Jehoschua ben Chananja, Jose der Priester, Simeon ben Nataniel und Eleazar ben Arakh. Insgesamt waren nur wenige seiner Schüler ihm aus Jerusalem nachgefolgt. Eventuell waren sie gegen seine Flucht aus dem belagerten Jerusalem. Seine Gegnerschaft gegen eine Sonderstellung der Priester und die Tatsache, dass er nicht aus dem davidischen Geschlecht stammte und selbst kein Priester war, scheinen der Grund für die Distanz von Priestern gegenüber seinem Lehrhaus gewesen zu sein. Dennoch entwickelte sich Jawne zum neuen Mittelpunkt des rabbinischen Judentums mit Jochanan ben Zakkai als dem geistigen Führer. Er erhielt aber nicht den Titel „Nassi“.

ca. 100 n.d.Z.

Der Tempelverlust erzwang eine Neuordnung des Judentums. Auf der Synode von Jawne (Jamnia, Jabne, beim heutigen Tel Aviv) um das Jahr 100 setzten sich die Pharisäer unter dem Tannaiten Rabbi Gamliel II. – einem Hillel-Schüler – durch (die Autorität von Rabbi Jochanans Nachfolger Gamaliel II., dem ersten Patriarchen/Nassi und Vorsitzenden des Synhedrions zu Jawne, war offenbar weithin anerkannt; er stammte aus einer berühmten Rabbinerfamilie und wurde von den Römern als das offizielle Oberhaupt – der Ethnarch – des jüdischen Volkes betrachtet). Sie reformierten Halacha, Festriten und Tagesgebete und leiteten die Kanonisierung der jüdischen Tora ein. Damit erreichten sie eine Zusammenführung verschiedener jüdischer Strömungen, grenzten aber andere als Häresien aus – darunter Sadduzäer, Zeloten und Christen.

Zeitgleich verstärkten die Christen ihre Völkermission ausserhalb Palästinas und verschrifteten ihre Evangelien, um sich ihrerseits vom rabbinischen Judentum abzugrenzen und im feindlichen römischen Reich zu behaupten. Auch christliche Schriften, die nicht in das NT Eingang fanden, zeigen diesen Abgrenzungsprozess. Die älteste erhaltene Kirchenordnung, die Didache („Lehre“) der 12 Apostel, unterscheidet den christlichen vom jüdischen Gottesdienst um das Jahr 100 bereits mit Nachdruck: „Eure Festtage sollen nicht mit denen der Heuchler zusammenfallen … Auch sollt ihr nicht beten wie die Heuchler … Die jüdischen Feste wurden fortgesetzt, aber bewusst auf andere Wochentage verlegt. Das tägliche Achtzehnbittengebet (Achtzehngebet, Schemone essre) wurde durch das Vaterunser ersetzt. Die Ignatiusbriefe bestätigen, dass Christen den Sabbat anders als die Urgemeinde nicht mehr einhielten. Gleichwohl blieb der Glaube an Jesus für die erste Christengeneration Vollendung des Judentums. Die christlichen Missionare zogen daher durchweg Schriftbeweise heran, um Jesus als Messias zu verkünden: Ihre Adressaten waren zuerst Juden und „gottesfürchtige Heiden“, die im Raum der hellenistischen Handelsstädte zusammenlebten.

[Zum Achtzehngebet: Schmone Esre (hebr. „18“ [Segenssprüche]), auch „Amida“ (wörtlich: das Stehen) oder einfach „Gebet“ schlechthin (Tefilla) genannt. Das Achtzehngebet; achtzehn Segenssprüche, die die wichtigsten Bitten und Bedürfnisse jedes Menschen in allen Lebensbereichen zum Ausdruck bringen. Selbst als nach der Zerstörung des zweiten Tempels noch ein weiteres Gebet - „Den Verleumdern sei keine Hoffnung“ - hinzukam, hat sich sein ursprünglicher Name „Achtzehngebet“ erhalten, obwohl es 19 Bitten umfasst. Dieses nach talmudischer Überlieferung bereits in vormakkabäischer Zeit zusammengestellte zentrale Gebet / Hauptgebet wird dreimal täglich anstelle vom und ergänzend zum Opfergottesdienst gesprochen, der gehalten wurde, als der Tempel noch stand.

Wie aus dem 1. Buch Mose hervorgeht, haben schon die drei Erzväter des Volkes auf diese Gebete, das Morgen-, Nachmittags- und Abendgebet, hingewiesen. Der Name Amida wird vom Aufbau dieses Gebetes sowie der Art, wie es gesprochen wird, hergeleitet Der Name Amida rührt von der Pflicht her, dieses Gebet zu sprechen, indem man mit beiden Beinen zusammen fest auf dem Boden steht. Und wenn man vor Gott steht, ist es auch verboten, sich nach rechts oder links zu wenden, noch darf man seine Gedanken wandern lassen. Der Vers, von dem ausdrücklich die geschlossenen Beine hergeleitet werden, spricht von den dienenden Engeln, wie sie der Prophet Ezechiel im Traum sah. Er beschreibt die „Beine“ als „ein gerades Bein“: Beide Füsse zusammen waren wie ein  Bein (1,4 ff.).

Wenn die Juden das Schmone Esre in der Zerstreuung sprechen, wenden sie das Gesicht in Richtung Eretz Israel. Die Juden in Israel sprechen das Schmone Esre mit nach Jerusalem gewandtem Gesicht. Wer schliesslich in Jerusalem selbst ist, wendet sich beim Gebet zum Tempelberg, zur Stätte des Heiligtums, hin. Das Schmone Esre spricht man mit leiser Stimme, um den Nachbarn nicht zu stören. Trotzdem soll man es mit grossem Nachdruck, mit Konzentration und Aufmerksamkeit sprechen. Beim Schmone Esre am Morgen steht man schon bei den Worten „Lob dem höchsten Gott, ihrem Erlöser“ auf. Nach den Worten „erlöste Israel“ geht man drei Schritte nach vorn und beginnt mit dem eigentlichen Gebet. Man beschliesst das Schmone Esre mit dem Vers „Der da Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er wird auch Frieden bereiten uns“ und tritt drei Schritte zurück wie ein Diener, der seinen Herrn verlassen möchte und ihn dazu um Erlaubnis ersucht. Beim Schmone Esre verbeugt man sich nur beim Beginn des ersten Segensspruchs und am Ende beim „Schild Abrahams“. Das gleiche gilt auch für den Segensspruch, der mit „Wir danken dir“ beginnt und mit „Allgütiger ist dein Name, dir ist schön zu danken“ endet.

Aber nicht nur die Stelle, an der man sich verbeugt, ist festgelegt, auch die Art und Weise des Verbeugens. Beim Wort „Gelobt“ werden die geschlossenen Knie nach vorn gebeugt; beim Wort „du“ neigt man den Oberkörper nach vorn, und bei der Erwähnung des Namens Gottes strafft sich der Körper vollständig. Das Schmone Esre enthält neben den eigentlichen noch weitere Verse, die bei gewissen Gelegenheiten gesprochen werden (Schabbatende, Neumond, Halbfeiertage ... ), und es enthält einen Zusatz, der nur in Israel gesprochen wird. Beim Morgen- und Nachmittagsgebet wiederholt der Vorbeter laut das Schmone Esre. Keine Unterhaltung darf hier ablenken. Die Wiederholung des Vorbeters hat drei Zusätze: die Keduscha, den Dank der Rabbiner, den Priestersegen]

um 100 (?) n.d.Z.

Kaddisch, Entstehung des Kaddisch-Gebets, Kaddisch = aramäisch „Heiliger“, eines der wichtigsten und bekanntesten Gebete des Judentums: Verkündigung der Heiligkeit Gottes und der Erlösungshoffnung; a) Gebet im täglichen Gottesdienst, vornehmlich als Schlussstück, b) Waisengebet der Söhne bei der Beerdigung der Eltern, das ganze Trauerjahr hindurch und am Jahrzeit-Tage;

Übersetzung:
Erhoben und geheiligt werde sein grosser Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde - sein Reich soll in eurem Leben in den eurigen Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in nächster Zeit erstehen.Und wir sprechen: Amein! Sein grosser Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheissung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amein! Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden, sprechet Amein. Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprechet Amein.

Weitere Erläuterungen:
Kaddisch, das „Heiligkeitsgebet“; fast völlig aramäisch-sprachig; die Gemeinde, die das Kaddisch hört, sagt nach jedem Satz „Amen“, und sie hebt besonders den Satz „Sein grosser Name ... „ hervor. Nach Auskunft der Weisen wird für jeden, der „Amen, Sein grosser Name“ inbrünstig und aufrichtig sagt, das schon gefällte Urteil aufgehoben. Halbes Kaddisch: das sogenannte „halbe Kaddisch“ ist tatsächlich das „Kaddisch“ ohne jeden Zusatz; es ist das ursprüngliche Kaddisch (dient zur Unterteilung des Gottesdienstes bzw. zur Verbindung zwischen dessen liturgischen Komplexen) Das ganze Kaddisch: das ursprüngliche Kaddisch mit dem Zusatz: „Möge Erhörung finden das Gebet und die Bitte von ganz Israel vor seinem Vater im Himmel, sprechet: Amen! Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden, sprechet: Amen! Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprechet: Amen!“ Das „Kaddisch der Waisen“/“Kaddisch der Leidtragenden“ (Kaddisch jatom): Wenn ein Jude stirbt, ist eine Lücke entstanden unter jenen, die die Gebote befolgen. Die Seele des Verstorbenen steigt zu Gott empor, wenn sein Sohn oder ein anderer Angehöriger seinen Platz einnimmt und seine Pflichten übernimmt. Deshalb sagt eine Waise das Kaddisch. Das ist der Sinn des Ausdrucks „Kaddisch der Waisen“. Wer das Kaddisch spricht - und zwar zuerst bei der Beerdigung eines der „sieben nahen Angehörigen“ (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter oder Ehefrau - wiederholt es in den elf Monaten nach dem Tod des Betreffenden. Der Trauernde spricht das Kaddisch der Waisen, d.h. das ganze Kaddisch ausser dem Satz „Möge Erhörung finden das Gebet ... „, das nur der Vorbeter am Ende jedes Gebetes sagt. Das Kaddisch der Waisen wird an vielen Stellen eingeschaltet. Das „Kaddisch nach dem Studium“ : (= Kaddisch der Rabbiner/Kaddisch de-Rabbanan). Dieses Kaddisch spricht man nach dem Studium jedes beliebigen Abschnitts des mündlichen Gesetzes (Mischna, Baraita, Talmud). Es ist das übliche Kaddisch, erweitert lediglich um ein besonderes Gebet für das Wohl aller, die sich mit der Tora beschäftigen. Dieser Zusatz, dem das Kaddisch seine Bezeichnung „Kaddisch nach dem Studium“ verdankt, lautet: „Israel, den Lehrern, ihren Schülern, allen Schülern ihrer Schüler und allen, die sich mit der Tora beschäftigen, ... an diesem heiligen Ort und an jedem anderen Ort. Ihnen sei Fülle des Friedens, Gunst, Gnade, Erbarmen, langes Leben, reichlicher Lebensunterhalt und Erlösung vor ihrem Vater im Himmel und auf Erden, sprechet: Amen!“

942 n.d.Z.

Saadia Gaon / Saadja (Said) ben Josef Gaon in Sura (Babylonien) gestorben (geboren 882? in Fajjum, Oberägypten), erster Autor der rabbinischen Literatur (Begründer fast ihrer sämtlichen Literaturzweige, Erneuerer der geistigen Hegemonie des babylonischen Judentums, Verteidiger der mündlichen Lehre gegen Karäer und andere Sekten) und der erste wissenschaftliche jüdische Religionsphilosoph im modernen Sinn, Exeget, Grammatiker, Apologet und liturgischer Dichter, schrieb arabisch und hebräisch, Schulhaupt/Gaon von Sura, Bagdad. Im islamischen Bereich setzte bei den Karäern und dann auf rabbinischer Seite bei Saadja ben Josef Gaon unter dem Einfluss der arabischen Sprachwissenschaft und Koranexegese eine an Wort- und Sinnerklärungen orientierte jüdische Kommentartradition ein. Saadja war der Verfasser des ersten jüdischen Gebetbuches mit Texten (um den Gebetswortlaut festzuschreiben und den damals modisch wuchernden Pijjut-Bestand auf ein kontrollierbares Mass zu reduzieren). Sein Wirken war stark von der Auseinandersetzung mit den Karäern bestimmt – deren entschiedener Gegner er war –, die sich ja ganz besonders dem Studium der Bibel verschrieben hatten, aber auch stark beeinflusst vom mutazilitischen Kalam. Saadja fertigte arabische Transkriptionen hebräischer Bibeltexte an, regelrechte Übersetzungen, und paraphrasierend-auslegende Übertragungen, begründete auch eine Tradition jüdischer Bibel-Auslegung und biblisch-hebräischer  Sprachwissenschaft; leider ging sehr viel von seinen Schriften verloren. Jakob ben Isaak al-Qirqisani in Bagdad, Benjamin ben Mose al-Nahawendi in Persien waren im 10. Jhdt. die massgeblichen Exegeten der Karäer, die auslegungsgeschichtlich Bemerkenswertes geleistet und die rabbinische Konkurrenz auch auf diesem Gebiet herausgefordert haben. – Sa’adia verfasste das berühmte Buch „emunot we’deot“ („Glaubenslehren und -ansichten“, sein religionsphilosophisches System darstellend); er soll auch einen Mischna-Kommentar verfasst haben, der jedoch nicht erhalten ist; von seiner Schrift gegen Chiwi al Balkh, einen persisch-afghanischen Juden des 9. Jhdts., der zweihundert Einwände gegen die Bibel zusammengetragen hatte, sind Fragmente in der Geniza von Kairo wiedergefunden worden

um 960-1028 (1040?) n.d.Z.

Gerschom b. Juda, Gerschom ben (auch: bar) Jehuda, einflussreichste Autorität seiner Zeit, Meor ha-Gola / Maor ha-Gola („Leuchte des Exils“, „Licht der Diaspora“) genannt, aus Frankreich (Metz) stammend, Leiter der Talmud-Schule Mainz, Urheber der für das abendländische Judentum verbindlich gewordenen Verordnungen (Takkanot [wörtlich Verbesserungen, = rabbinische Anordnungen zur Ergänzung bzw. Begrenzung des pentateuchischen Gesetzes]): Verbot der Polygamie (die praktisch längst nicht mehr bestand; dieses Verbot anerkannt nur durch die aschkenasischen Gemeinden), der Ehescheidung ohne Zustimmung der Frau, der Verletzung des Briefgeheimnisses; aus seiner Schule kommen der Verfasser des Arukh und der grösste Talmudkommentator überhaupt, Raschi; Rabbenu Gerschom b. Jehuda steht nicht nur in Mainz, hebräisch Magenza, für die Blüte jüdischer Kultur und Religion; der einflussreiche Gelehrte eröffnete nach seinem Talmudstudium in Metz eine Talmudakademie in Mainz, die Schüler aus vielen Ländern anzog; Mainz wurde hierdurch zum religiös-kulturellen Mittelpunkt der drei SCHUM-Städte, jener drei Städte, die im Hebräischen von den drei Anfangsbuchstaben her zur Dreiheit zusammengefasst wurden – Speyer (Schpira für Spira), Worms (Vav für Warmaisa / V und W gelten dem U gleich) und Mainz (Mem für Magenza)  – und die die Geburtsstätten der aschkenasischen religiösen Kultur darstellen; zu seiner Zeit (um 1000) wurden auch die Friedhöfe Heiliger Sand in Worms sowie Judensand in Mainz angelegt; die Talmudlehrer der drei Städte, die weit über das Rheinland hinaus wirkten, schrieben mit dem Sefer Chassidim, dem Buch der Frommen, eine wichtige religiöse Abhandlung, eine reiche Quelle zum Alltagsleben der Juden im Mittelalter; die Lehrhäuser in Mainz und Worms wurden bei den Massakern an den Juden, derer heute in der jüdischen Liturgie als Gezerot Tatnu gedacht wird, während des Kreuzzuges 1096 und bei späteren Verfolgungen zerstört; Gerschom b. Jehuda starb 1028 oder 1040 in Mainz; sein bis heute oft besuchter mittelalterlicher Gedenkstein findet sich auf dem „Mainzer Judensand“

993-1055 n.d.Z.

Samuel ibn Nagrela, geb. in Cordova, gest. in Granada, Staatsminister des arabischen Königs von Granada (seit 1027), zugleich Oberhaupt (Nagid) der Juden, Rabbiner, Gelehrter und Dichter; sein Sohn und Amtsnachfolger Josef (1031-1066) fiel in Ungnade und wurde getötet

um 1000 n.d.Z.

Yehuda ben Meir, auch bekannt unter Yehuda ha-Kohen oder Judah von Mainz, deutscher Rabbiner, Talmud-Lehrer und Reisender des späten zehnten und frühen 11. Jahrhunderts; sein Buch Sefer ha-Dinim enthält eine Zusammenstellung seiner Reisen ebenso wie die anderer Juden in Osteuropa; in seinen Beschreibungen werden Przemysl und Kiew als Handelsplätze innerhalb des Radhaniten-Netzwerks erwähnt; Rabbi Yehuda war der richtungsweisende Lehrer Gerschom ben Jehudas, sein Werk beeinflusste die späteren Schriften Raschis; Yehuda wurde auch als „der Grosse“ und „der Gaon“ bezeichnet

[Auslassung von 1000 Jahren - d. Red.]

7. Juni 2001

In Zürich wird kurz vor 22:00 Uhr der Rabbiner Abraham Grünbaum auf offener Strasse erschossen (an der Weberstrasse am Hallwylplatz, er war zu Fuss unterwegs zur Synagoge Agudas Achim an der Weststrasse in Wiedikon); der Mord an dem 70-jährigen Israeli ist bis heute nicht geklärt; der Leiter einer Talmud-Schule war an seiner Kleidung als orthodoxer Jude erkennbar

seit 2003

Hahambaşı: Ishak Haleva

2006

Giessen, Deutschland: Yakov Gopin der erste hauptamtliche Rabbiner Giessens nach dem Krieg, er ist verheiratet und hat zwei kleine Töchter; vorherige Stationen: Chile, Argentinien, Hongkong, New York, Japan und die Ukraine

2006

Rabbi David Niederman wird im Jahr 2006 das Grosse Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich verliehen; er lebt in New York und ist Präsident der UJO (United Jewish Organizations) in Williamsburg (Brooklyn); in den siebziger Jahren hat er die „International Jewish Rescue Organization“ „Rav Tov“ gegründet, die laut dem österreichischen Konsul Andreas Launer mit Hilfe der österreichischen Bundesregierung Tausenden Juden aus der ehemaligen UDSSR und dem Iran zur Emigration in die USA verholfen hat

19.9.2006

Herzls Kinder: Am Mittwoch, dem 19.9.2006, finden die sterblichen Überreste zweier Kinder des Zionistenführers Theodor Herzl neben ihm auf dem Herzl-Berg in Jerusalem ihre letzte Ruhestätte. In seinem Testament hatte Herzl – er starb 1904 – bestimmt, dass dereinst alle seine nahen Angehörigen in dem neuen Staat der Juden bestattet werden sollten, wenn denn der Traum Wirklichkeit geworden sei. Tatsächlich holte der gerade ein Jahr alte Staat Israel 1949 Herzls Sarg aus seinem Grab bei Wien und bettete auch seine Eltern und seine Schwester nach Jerusalem um.

Doch bei seinen Kindern gab es Widerstand. Ohne Papiere herumvagabundierend von der französischen Polizei aufgegriffen, verarmt und von der zionistischen Organisation (World Zionist Organization) im Stich gelassen, starb Herzls älteste Tochter Paulina (Pauline, 29.3.1890-Sept. 1930) rauschgiftsüchtig mit 40 Jahren im September 1930 und wurde auf dem jüdischen Friedhof von Bordeaux beigesetzt. Schon vor ihrer Rauschgiftsucht hatte sie ihr Leben lang unter schweren gesundheitlichen und psychischen Störungen gelitten.

Ihr Bruder Hans (10.6.1891-1930), eng mit der Schwester verbunden, die er innig geliebt hatte, kam zu spät in Bordeaux an und konnte Paulina nur noch im Leichenhaus identifizieren. Voller Schuldgefühle beging der 39 Jahre alte Mann noch vor Paulinas Beerdigung Suizid (erschoss sich) und wurde mit ihr beerdigt (im Abschiedsbrief hatte er den Wunsch geäussert, im Sarg seiner Schwester begraben zu werden).

Das jüngste Kind Herzls, Margarethe (Trude, geb. 20.5.1893 in Paris, verheiratet: Margarete Neumann), hatte zeitlebens schwere psychische Probleme und wurde im September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 17. März 1943 ein Opfer der Shoah wurde. Ihr Leichnam wurde verbrannt. Ihr einziger Sohn Stephan (Stephan Theodor, der einzige Enkel Herzls, aus der Ehe Trudes mit einem reichen Geschäftsmann stammend), der nach Amerika gelangt war (er hatte in der britischen Armee gedient und 1945 Palästina besucht, wo man ihm eine Führungsposition in der zionistischen Bewegung angeboten hatte), sprang 1946 von einer Brücke in Washington in den Tod, als er erfuhr, dass seine Eltern in den Nazi-Lagern umgekommen waren. Herzls Familie ist damit ausgestorben.

Hans Herzl war sein Leben lang bemüht, die Erwartungen des Vaters und der World Zionist Organization zu erfüllen, und hatte ebenfalls schwere seelische Probleme. Die Organisation kam auch für seine Erziehung auf, denn sein Vater starb, als er gerade dreizehn Jahre alt war. Als 1907 dann auch die Mutter starb, blieben die Waisen mittellos zurück. Hans Herzl erhielt dennoch eine gute Ausbildung, konnte in Cambridge studieren. Doch er sah sich stets im Schatten seines Vaters – als Versager. 1924 konvertierte er zum Christentum und wurde Mitglied verschiedener Sekten. Die Vision eines Judenstaats hielt er für falsch: „Die transzendentale Identität der Juden ist so ein grosses Privileg, dass sie froh sein sollten, keinen Staat zu haben“, schrieb er: „Mein Vater war ein grosser Mann, und ich liebte ihn sehr, doch er irrte, als er seinen Idealismus darauf beschränkte, einen Staat gründen zu wollen.“

Paulina und Hans Herzl sollten also nach dem letzten Willen ihres Vaters neben ihm ruhen. Doch weil Hans Christ geworden war und gegen das jüdische Gebot Selbsttötung begangen hatte, beeilte sich Israel nicht, die Geschwister nach Jerusalem zu holen. Der Widerstand konnte erst spät überwunden werden dank Premierminister Ehud Olmert und der Jewish Agency. Vor allem aber half dabei, dass der orientalische israelische Oberrabbiner Shlomo Amar davon überzeugt werden konnte, Hans sei in seinen letzten Jahren zum Judentum zurückgekehrt und habe deswegen auch auf dem jüdischen Friedhof von Bordeaux bestattet werden können.

11.12.2006-12.12.2006

In Teheran findet, organisiert vom Ministerium für Politische und Internationale Studien (IPIS) und mit Billigung und Unterstützung von Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad, eine „Holocaustkonferenz“ statt, die die „Wahrheit“ über den Holocaust herausfinden soll, in Wirklichkeit aber eine reine Show-Veranstaltung der Gemeinde der bekannten (z. B. Robert Faurisson, der frühere französische Literaturprofessor, der wegen Leugnung des Holocausts mehrfach verurteilt worden war, oder der Amerikaner David Duke, Chef des rassistischen Geheimbundes Ku Klux Klan) und unbekannten Holocaust-Leugner und -verharmloser zum Zwecke der politischen Instrumentalisierung für die merkwürdigen Absichten Irans darstellt.

Stars der Veranstaltung waren fünf orthodoxe Rabbiner, Mitglieder der den Staat Israel ablehnenden Neturei Karta, überwiegend aus Amerika. Sie trugen Anhänger mit dem Motto „Jude, nicht Zionist“. Rabbi Mosche David Weiss aus New York schlug eine „friedliche Auflösung Israels“ vor. Rabbi (oder besser: Rabbinerdarsteller) Moische Ayre Friedman aus Wien, eine sehr zweifelhafte Figur, mit der die Juden Österreichs nichts zu schaffen haben wollen, der sich als „alter Freund der islamischen Republik Iran“ bekannte, sagte: „Das Land Palästina gehört nicht den Juden“. „Hunderttausende Juden auf Erden beteten für die Auflösung oder Zerstörung (sic!) Israels“. Für ihn ist der Holocaust eine „erfolgreiche historische Fiktion“.

Die Versammlung in Teheran hat sich den Titel gegeben „Studium der Massenvernichtung, eine globale Perspektive“ bzw. „Studien zum Holocaust: Die Sicht der Welt“, und das Ziel der Konferenz sei die Aufdeckung „verborgener und offener Aspekte“. Dazu passt es gut, dass man Personen, die auf der Konferenz gegenteilige Meinungen äussern wollten, erst gar nicht hatte einreisen lassen oder anderweitig fernhielt. Bereits in den Monaten, die der „Konferenz“ vorangingen, hatte der iranische Präsident immer wieder die Ermordung von Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs in Frage gestellt. Den europäischen Staaten warf er vor, mit Hilfe des „Mythos vom Holocaust“ Israels Gründung im Jahr 1948 erzwungen zu haben.

13.3.2007

Die 44-jährige Rabbinerin Toba Spitzer (sie amtiert seit 10 Jahren in einer Gemeinde des rekonstruktionistischen Judentums in der Nähe von Boston, Massachusetts) wird auf der in Arizona abgehaltenen Jahrestagung der rekonstruktionistischen Rabbinervereinigung zur Präsidentin gewählt, damit steht diesem nationalen Gremium zum ersten Mal eine Amtsinhaberin vor, die sich offen zu ihrer lesbischen Lebensweise bekennt; in keiner anderen Rabbinervereinigung des heutigen Judentums gab es bisher eine solche Ernennung; Toba Spitzers Partnerin Gina, mit der sie seit 6 Jahren zusammen ist und die sie vor 3 Jahren in Massachusetts zivilrechtlich geheiratet hat, ist Englisch-Lehrerin, das Paar hat zwei Kinder (Zach und Zoe), die aus Ginas erster Ehe stammen

7. September 2007

Im Frankfurter Westend wird auf der Eschersheimer Landstrasse gegen 20:30 Uhr der 42-jährige Rabbiner Zalman Gurevitch auf offener Strasse niedergestochen und dabei schwer verletzt; der allseits beliebte und als freundlich beschriebene Gurevitch wohnt seit 17 Jahren in Frankfurt; Täter war – wie sich eine Woche später herausstellt – ein 22-jähriger afghanisch-stämmiger Deutscher

seit 17. August 2008

Rabbiner der IKG Basel: Yaron Moshe Niesenholz (Nisenholz)

1. September 2008

Amtseinführung von Jaron Engelmayer (Yaron Baruch Engelmayer, geb. 1976 in Zürich) als Nachfolger von Netaniel Teitelbaum, der überraschend mit seiner Familie Deutschland verlassen hatte, als neuer Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln (Roonstrasse) und zugleich Oberrabbiner der Stadt Köln; aufgewachsen ist er in der Schweiz, lebte dann u. a. neun Jahre in Israel, wo er Studien an verschiedenen Hochschulen und Rabbinerseminaren (u. a. Jeschiwat Heser in Ma'ale Adumim) absolviert hat, wurde 2002 zum Rabbiner ordiniert (Smicha durch das aschkenasische Oberrabbinat in Israel) und amtierte vor seinem Amtsantritt in Köln drei Jahre als Rabbiner in Aachen

26.11.2008

Gross angelegte islamistische Terroranschläge in Mumbai (Bombay) mit ca. 200 Toten und ca. 300 Verletzten, einer der Schauplätze war das Chabad-Zentrum an der Hormusiji-Strasse 5 (Nariman-Haus), wo 9 Menschen sterben mussten, u. a. Rabbi Gavriel und Rivka Holtzberg (die das Gemeindezentrum aufgebaut haben; ihr zweijähriger Sohn Moseh Zvi wurde von einem indischen Hausmädchen gerettet), Rabbi Leibish Teitelbaum, Bentzion Chroman, Yocheved Orpaz und Norma Shvarzblat Rabinovich

Ende Jan. 2009

Papst Benedikt XVI. hebt die Exkommunikation des antisemitischen Holocaust-Leugners, Bischof Richard Williamson, auf, und verursacht damit scharfe Proteste in aller Welt; das Oberrabbinat Israels suspendiert alle Kontakte mit dem Vatikan

2. Juni 2009

Zum ersten Mal nach der Schoa wieder Semicha in Deutschland: In der Ohel Jacob Synagoge der jüdischen Gemeinde von München und Oberböhmen erhalten in Anwesenheit führender Rabbiner aus ganz Europa und des deutschen Innenministers Wolfgang Schäuble die zwei ersten Absolventen (Rabbi Zsolt Balla und Rabbi Avraham Radbil) des neu etablierten orthodoxen Rabbinerseminars („Rabbinerseminar zu Berlin“) ihre Semicha von Rabbiner Chanoch Ehrentreu

Rabbiner und Rabbinerinnen von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart (Autor/Herausgeber: Michael Kühntopf)

Norderstedt 2009, 240 Seiten, Euro 25,90 ISBN 978-3-8334-7153-7
Der vorliegende Auszug umfasst die Seiten 7-15 und 230-232

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Tel. 040-5343350 Fax 040-53433584
Homepage des Autors www.kuehntopf.ch

 

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