„Der Schmerz verändert sich“
David Grossman im Interview mit Inge Günther

Der weltbekannte Autor David Grossman erhält am 10. Oktober den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Ein Gespräch über die existenzielle Angst der Israelis, Erfahrungen mit der Ohnmacht und den Tod seines Sohnes im Libanonkrieg.

Herr Grossman, Sie sind nicht nur eine literarische Stimme Israels sondern auch eine Ikone des Friedenslagers. Nach dem Tod Ihres Sohnes Uri, der in den letzten Tagen des Libanonkrieges fiel, umso mehr. Sie plädieren sogar für einen Dialog mit der Hamas. Waren da nicht auch ganz andere Instinkte, auf diesen tragischen Verlust zu reagieren?

Natürlich gab es sie, die ganze Skala. Wenn einem so etwas passiert, will man Vergeltung, man hasst, ist verletzt, die ganze Gefühlspalette. Ich glaube nicht, dass ein Mensch davon verschont wird. Die Frage ist bloß, was man damit macht. Immer, wenn ich dem Hass nachgab, spürte ich, dass ich mich meinem Sohn Uri nicht mehr nahe fühlte. Es ist so leicht, Vergeltungswünschen zu erliegen. Aber ich merkte, dass sie mir nur dazu dienten, den Kontakt mit dem Schmerz und die Sehnsucht nach einander zu vermeiden.

War das Schreiben ein therapeutischer Akt?

Ohne das Schreiben hätte ich ein ernstes Problem bekommen. Seit damals schreibe ich im Schatten dessen, was meiner Familie zugestoßen ist. Alles wird dadurch gefiltert. Für mich ist Schreiben die beste Art, um zu verstehen, was passiert ist, und mich ganz dem Innersten der Geschehnisse auszusetzen. Nicht in masochistischer Weise, sondern um die Bedeutung zu erfassen. Was bedeutet Leben in solcher Nähe zum Tod? Der Faktor Tod scheint etwas Monolithisches zu sein. Aber so dramatisch und total der Tod ist, kann unser Umgang mit ihm nuanciert und sogar flexibel sein.

Stimmt es, dass die Zeit die Schmerzen lindert?

Der Schmerz verändert sich ständig. Manche Tage sind leichter, andere schwerer. Ich empfinde es wie eine Landschaft, auf die täglich die Schatten in unterschiedlicher Weise fallen. Ich will in der Lage sein, das zu dokumentieren. So bleibe ich aktiv und bin nicht nur Opfer.

Als Ihr Sohn im Libanonkrieg umkam, schrieben Sie gerade an dem Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, das von der Sorge einer israelischen Mutter um ihren Sohn in der Armee handelt.

Ja, ich arbeitete damals schon seit drei Jahren daran. Weil die Angst um unsere Kinder sehr existenziell ist. Jeder kennt sie, auch wenn er keinen Sohn oder keine Tochter in der Armee hat. Die Angst ist immer da, entweder konfrontiert man sie oder leugnet sie. Israel als sehr vitale Gesellschaft neigt dazu, die Furcht auszublenden, um noch am Rand des Abgrunds spazieren zu können.

Verzweifeln Sie nicht manchmal daran, dass alle Friedensversuche bislang gescheitert sind?

Ich bin eine sehr emotionale Person, aber wenn es politisch wird, dürfen wir uns nicht nur Gefühlen hingeben. Man muss zwar die Ängste beider Völker, ihr gegenseitiges Misstrauen mit erleben. Wer nicht begreift, in welchem Ausmaß das Denken dadurch bestimmt wird, kann nicht helfen, diesen Konflikt zu lösen. Aber mit dieser Erfahrung muss man auch wieder kühl denken können. Anton Tschechow hat einmal gesagt, beim Verfassen seiner Romane gehe er eiskalt vor. Ich selbst habe nichts in meinem Leben eiskalt getan. Aber wenn wir eine Lösung für unseren Konflikt wollen, müssen wir kühl rangehen.

In Ihrer Rede im November 2006, wenige Monate nach Ende des Libanonkrieges, haben Sie bei der Friedensdemo zum Gedenken an Yitzhak Rabin, der damaligen Regierung Olmert vorgeworfen, „hohl“ zu sein. Unter Olmert gab es zumindest einen Friedensprozess. Statt seiner regieren jetzt die Nationalrechten: Netanyahu, Lieberman und Co. Hat sich politisch alles nur noch verschlechtert?

Netanyahu hat die Ängste seines Volkes angestachelt, statt ihm eine wirkliche Vision zu bieten. Der einfachste Weg, in diesem Land gewählt zu werden. Als Premier ist er jetzt überrascht, dass die Menschen ihm nicht folgen, wenn er über Frieden redet. So war es mit jedem israelischen Premier – ein Teufelskreis. Genauso wie wir immer wieder auf Krieger setzen. Ich verstehe sogar, dass Leute, die in einem Dauerkonflikt leben, solche Führer wollen.

Die Sehnsucht nach der starken Hand ist durch Intifada sowie die Kriege in Libanon und Gaza noch gewachsen, oder?

Ja, aber vielleicht verhält es sich genau umgekehrt. Weil wir Krieger wählen, mangelt es unseren Regierenden an Kreativität, die Realität in einer komplexeren, differenzierten Weise zu verstehen. Es wird spekuliert, ob Syrien sich auf den Iran zubewegt, oder wer einmal nach Hosni Mubarak in Ägypten herrschen wird. Aber getan wird nichts, Israel verhält sich wie paralysiert. Es macht mich ganz verrückt. Weil doch jahrzehntelang zu den israelischen Qualitäten zählte, mutig und einfallsreich zu sein. Heutzutage reagieren wir nur auf Situationen, die uns aufgezwungen wurden.

Sind Sie von Israel enttäuscht?

Es war eine seltene Gelegenheit, dass wir diesen Fleck Erde hier bekommen haben. Hätten heute die Vereinten Nationen über eine Staatsgründung Israels zu entscheiden hätten, käme das nicht durch. Damals, 1947, stand das Fenster für kurze Zeit offen, und wir waren glücklich und clever genug, dieses Land zu schaffen. Es ist leicht, zu kritisieren und sogar zu dämonisieren. Aber ich vergesse nicht für eine Sekunde, wie schrecklich die Alternativen womöglich wären, hätten wir kein Israel.

Sie sind also doch ein Patriot!

Schauen Sie, Israel besteht jetzt 62 Jahre, und es gab keinen Tag ohne irgendwelche feindlichen Aktionen. Wir kamen aus Ländern, von denen nicht alle demokratisch waren, aus Polen und Russland, Marokko und Ägypten, und haben einen gemeinsamen Nenner gefunden. Wir haben die hebräische Sprache wiederbelebt, wir haben Agrikultur, Hightech und eine Armee geschaffen, die wir nicht unbedingt mögen, aber ohne die wir nicht hier wären. Es bricht mir das Herz, wie wir die Chance vertun, daraus das zu machen, wozu sie bestimmt war. Israel wurde gegründet, um eine Heimstatt der Juden zu werden, aber derzeit fühlen wir uns nicht heimisch.

Liegt das daran, weil Israel nicht von seinen arabischen Nachbarn akzeptiert wird?

Natürlich, das ist der Hauptgrund. Man fühlt sich nicht wirklich zu Hause, wenn andere Leute Ansprüche auf einige Zimmer erheben. Solange wir keine festen Grenzen besitzen, können wir uns nicht wirklich heimisch fühlen. Vor allem unsere Grenzen nach Osten hin, zur Westbank, sind völlig vage. Weil die Siedlungen dort hingepflanzt wurden, um jede Möglichkeit, eine klare Grenzlinie zu ziehen, zu verstellen.

Glauben Sie noch an die Zwei-Staaten-Lösung?

Die Lage gibt mir nicht viel Grund, optimistisch zu sein. Die Leute sehen keine Hoffnung und sind auch nicht aktiv, die Lage zu verändern, um Hoffnung entstehen zu lassen. Auch das ist ein Teufelskreis. Sie werden apathisch und damit zu leichten Opfern von Personen mit starken Meinungen. Man muss sich nur anschauen, wie entschieden die Siedler agieren. Mühelos organisieren sie eine Riesenkundgebung. Die Linken hingegen schwitzen Blut und Wasser, um 400 Leute zusammen zu trommeln.

Sie gehen trotzdem zu diesen kleinen linken Demos.

Zu der Demonstration in Scheich Dscharrah in Ost-Jerusalem, wo palästinensische Bewohner von jüdischen Siedlern vertrieben werden, gehe ich jede Woche. Und ich fühle mich dort viel besser, als wenn ich daheim herumzusitze. Zumindest lasse ich so meine Meinung raus – besser als zu schweigen. Das ist das Wichtigste, was die Linken derzeit tun können: Den Kanal für Dialog offen halten, bis unsere Führer verstehen, dass der Weg zu Frieden über Kompromisse führt.

Zumindest erfährt so die junge palästinensische Generation, dass Israel nicht nur aus Soldaten am Checkpoint besteht.

Es ist wichtig, ein anderes Gesicht Israels zu zeigen. Aber ich weiß nicht, wieweit das ins Bewusstsein der Palästinenser dringt. Wir Israelis sind uns auch nicht der Friedensaktivisten auf der anderen Seite sehr bewusst. Neulich habe ich mit einem Freund in Ramallah, ein Schriftsteller, telefoniert. Ich habe ihm gesagt, auch wenn wir uns nicht sehen, sind wir wie Bergleute, die von zwei Seiten an einem Tunnel graben und sich am Ende treffen werden. Ich weiß, dass sie von ihrer Seite aus graben. Aber selbst wenn es sie nicht gäbe, müssen wir tun, was wir tun. Ich sage es ganz offen, mein Hauptinteresse gilt Israel. Und die größte Gefahr für Israel ist, wenn sich nichts ändert. Verzweifeln ist ein Luxus, den ich mir nicht erlauben kann.

Auch im Inneren ist die israelische Gesellschaft nach rechts gerückt. Ein ganzes Bündel neuer Gesetzesinitiativen richtet sich gegen linke Initiativen. Macht Sie das besorgt?

Sehr. Wir sehen so viele Symptome dafür, dass Ängste in Rassismus, Xenophobie und Paranoia umschlagen – allesamt schlechte Berater für eine demokratische Politik. Es ist so einfach, dem rechten Lager und seinen Stereotypen anzuhängen, so einfach, auf alles eine scharfe Antwort zu haben. Die Führer der Rechten sind über Generationen hinweg in ihrer Rhetorik kindisch geblieben. Aber die Macht der religiösen oder extremen Parteien wie der von Avigdor Lieberman wächst.

Hat Ihnen wenigstens jemand von der Regierung zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gratuliert, der Ihnen im Herbst in Deutschland verliehen wird?

(David Grossman lacht) Nein, das tun die nie. Hätte ich als Tennisspieler irgendeine Trophäe gewonnen, hätte mich der Premier sicher angerufen. Aber Literatur und ein Friedenspreis sind nicht so populär.

In der Begründung der Jury heißt es, mit dem Preis ehre man einen Schriftsteller, der sich aktiv für die Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern einsetze. Offenbar wollte man auch Ihre politische Stimme stärken.

Ich bin sehr froh, dass sie das getan haben. Es ist ja nichts Selbstverständliches, wenn ein Israeli einen Preis für Literatur und Frieden in diesen Zeiten erhält. In linken Kreisen ist das als enorme Ermutigung aufgefasst worden.

Sprechen wir über die Macht der Worte. Ist die nicht in der Politik weit begrenzter als in der Literatur?

Ich widerspreche. Sehen Sie nur, wie Netanjahu derzeit redet. Ähnliches hat man mit Ariel Scharon oder Ehud Olmert erlebt. Ganz allmählich haben sie Positionen der Linken übernommen, wie sie Amos Oz und ich schon vor Jahren ausgedrückt haben. Für mich besteht die Macht der Worte darin, die Menschen aus ihrer Einengung zu befreien. Das gilt auch in persönlichen Bereichen. So oft kommen wir in unserem privaten Leben aus einer Geschichte nicht heraus, weil uns die Worte fehlen, die einen Ausweg zeigen. Über verfahrene Situationen reden die Leute meist in immer gleichen Klischees. Wenn man ihnen aber Worte vorschlägt, die authentisch wirken und die Situation ein wenig anders deuten, befreit das. Ich sage immer, ein Schriftsteller ist eine Person, die sich klaustrophobisch in den Worten anderer fühlt.

In Ihren Essays über den Schreibprozess berichten Sie von Ihren Versuchen, möglichst tief in eine Romanfigur einzutauchen. Wieweit gehen Sie dabei?

Wir sind in unserem Leben so beschränkt auf die eigene Person. Das Innenleben anderer Menschen zu erforschen, ist solch ein Privileg! Es ist die süße Belohnung des Schreibens.

Stoßen Sie dabei auch an Grenzen, etwa bei einer Figur, die Sie im wahren Leben verachten würden?

Nein, in „Stichwort: Liebe“ habe ich über einen Kommandanten in einem Vernichtungslager geschrieben. Es war wirklich sehr schwer, ich habe während des Schreibens eine verheerende Zeit durchgemacht. Aber ich wollte verstehen, wie normale menschliche Wesen zu Nazis werden. Was sie von sich aufgeben, um Teil der NS-Maschinerie zu werden.

Lockt es Sie nicht, zwischendurch abzuschalten?

Ich liebe die Totalität des Schreibens. In meinem Buch „Der Kindheitserfinder“ gibt es diesen Moment, wo der Junge, der noch einen Milchzahn hat, obwohl er 14 Jahre ist – eine Metapher für seine Unreife – einen Freund überredet, ihm diesen Zahn zu ziehen. Vor lauter Angst und Schmerzen fällt er in Ohnmacht. Ich war bis dahin selbst nie ohnmächtig geworden. Deshalb habe ich Freunde gefragt, wie das ist, wenn man das Bewusstsein verliert. Aber es hat mir nicht gereicht. Eines Tages war ich beim Zahnarzt, der mir eine Spritze mit einem Mittel gab, gegen das ich offenbar allergisch bin. Mir wurde schwarz vor Augen. Irgendwie hörte ich noch, wie der Arzt seine Assistentin aufforderte, mir Zucker zu bringen. Und ich habe nur gerufen, „nein, lasst mich nur in diesem Zustand“.

Wie kommt Ihre Familie damit klar, wenn Sie derart tief in den Stoff eintauchen?

Oh, sie ist ein integraler Teil davon. Meine Kinder wissen immer, was ich schreibe und lesen Auszüge, noch bevor das Buch fertig ist. Meine Frau ist dabei ein ganz besonders starker Partner. Ich habe nie die Tür beim Schreiben zugemacht, auch nicht, als meine Kinder noch sehr klein waren. Ich wollte nicht, dass sie mein Schreiben als etwas für sie Bedrohliches empfinden. Sie besitzen eindeutig die Priorität.

Umso mehr muss es ein ungeheurer Kraftakt gewesen, sich nach dem Tod Ihres Sohnes wieder an den Schreibtisch zu setzen.

In den ersten Tagen, wenn so etwas passiert, bist du wie im Exil, fern von allem. Nichts ist mehr selbstverständlich. Alle Beziehungen zu deinen Freunden, deinem Land, deinen Werten brechen zusammen. Und dann, nach den sieben Tage Shiva, also nach der Trauerwoche, kehrst du langsam zurück, dringst du wieder durch das Dickicht, das dich umgibt.

Zur Person
David Grossman wurde 1954 als Sohn eines Busfahrers in Jerusalem geboren. Er studierte Philosophie und Theaterwissenschaft und arbeitete als Redakteur und Hörspielautor beim
öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Israel. 1988 wurde er dort entlassen, weil er sich gegen Zensurversuche gewehrt hatte.
1983 erschien sein erster Roman „Das Lächeln des Lammes“ . Mit dem Buch „Der gelbe Wind“ (1987), in dem er die israelische Besatzung im Westjordanland und in Gaza anklagt, wurde er international bekannt. Heute zählt er neben Amos Oz zu den bedeutendsten Autoren Israels. Seine Romane, die auf Deutsch beim Hanser Verlag erscheinen, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
2006 starb sein Sohn Uri – Soldat in der israelischen Armee – im Libanonkrieg. Grossmann verarbeitet seinen Zorn und seine Trauer in dem Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“.

Frankfurter Rundschau, 7./8.8.2010

 

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