Die Qualifikationen der Eliten
Historiker-Bericht belegt die Verstrickung der NS-Diplomatie in den Holocaust
von Arno Widmann

Wir wissen seit langem, dass das Auswärtige Amt aktiv an der Judenvernichtung beteiligt war. Das einzig erhaltene Dokument der Wannseekonferenz vom Januar 1942, die die Vernichtung des europäischen Judentums organisierte, stammt schließlich aus den Akten. Doch die aktuelle Studie öffnet uns nochmals die Augen.

Allein das hier oben abgedruckte Schriftstück ist die 800 Seiten, ist die jahrelange Anstrengung der Historiker wert. Wir wissen seit langem, dass das Auswärtige Amt aktiv an der Judenvernichtung beteiligt war. Das einzig erhaltene Dokument der Wannseekonferenz vom Januar 1942, die die Vernichtung des europäischen Judentums organisierte, stammt schließlich aus den Akten des Auswärtigen Amtes. Man weiß auch, dass Vertreter des Auswärtigen Amtes immer wieder darum kämpften, dass ihre Institution an dieser Aufgabe beteiligt sein wollte.

Jetzt aber gibt es nicht mehr nur dieses oder jenes Dokument. Es ist vielmehr klar geworden, dass das Auswärtige Amt von ganz oben bis hinunter eifriger Mittäter war. Überdeutlich ist jetzt auch, dass die Vernichtung der Juden von Anfang an keine geheime Kommandosache war, von der nur ein kleiner Kreis Eingeweihter informiert war.

Die Judenvernichtung war eines der Hauptanliegen des NS-Staates und das Außenministerium legte seinen ganzen Ehrgeiz darein, dabei an vorderster Front mitzumachen und zwar so, dass alle davon wussten. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde mit Selbstbewusstsein und Stolz betrieben.

Der oben abgedruckte Eintrag aus einer Reisekostenabrechnung belegt das. Unter dem Rubrum Reisezweck steht „Liquidation von Juden in Belgrad“. Völkermord als Amtsgeschäft.

Das Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ beschreibt nicht nur die Einrichtung der mit der Judenvernichtung beschäftigten Amtsstellen. Sie liefert auch die Biografien der Referenten. Der Mann zum Beispiel, der „Liquidation von Juden in Belgrad“ unter Reisezweck eintrug, war Franz Rademacher: 1906 als Arbeitersohn geboren, Mitglied in der Brigade Ehrhardt, seit 1937 im Auswärtigen Amt.

Kein Karrierediplomat, sondern einer, der über das NS-Ticket in den Auswärtigen Dienst kam. Aber es fehlte nicht an Herren, die als Mitglieder der deutschen Elite führende Posten im Auswärtigen Amt innehatten und mit dem gleichen Enthusiasmus wie Franz Rademacher Erfüllungsgehilfen der Nazi-Rassen-Träume waren. Das Auswärtige Amt, darauf verweist die Studie, war durchdrungen von der SS. Himmler vor allem legte wert darauf, dass die jungen Leute in der SS waren. 1939 waren 60 Prozent der Attachées in der SS.

Man kann sich vorstellen, was für ein Ton dort herrschte. Man braucht es aber nicht mehr. Die Akten wurden jetzt geöffnet. Sie sprechen selbst. Man kann nachlesen, wie vorbehaltlos das Eichmann bei seiner Tätigkeit unterstützte. Als es zum Beispiel im März 1942, als es um die Abschiebung – das war der Terminus – von 6000 in Frankreich festgenommener Juden nach Auschwitz ging. Eichmann musste das Außenministerium fragen, ob es Einwände hätte. Es hatte keine. Paraphiert war das zustimmende Schreiben von Martin Luther, dem Chef der Deutschland-Abteilung des Auswärtigen Amtes, von Ernst Freiherr von Weizsäcker, dem Staatssekretär des AA und Ernst Woermann, Leiter der politischen Abteilung des AA.

Man kann mit Hilfe des Registers nachschauen, was aus den Herren wurde. Das macht den Hauptreiz des Buches aus. Das war ja auch der Auslöser für die Entstehung des Buches gewesen. Die personelle Kontinuität des Auswärtigen Amtes unter Hitler, Adenauer, Brentano, Schröder, Brandt, ja noch darüber hinaus, ist der zweite Schrecken des Buches. Exakt die Männer – es handelt sich ausnahmslos um Männer –, die die Unterwerfungs- und Ausrottungspolitik der Nazis betrieben hatten, wurden nach dem Kriege in dem neu errichteten Amt wieder eingesetzt.

Das Buch macht deutlich, wie die alten Seilschaften funktionierten und wie man dafür sorgte, dass die alten Kameraden nicht nur wieder in Amt und Würde kamen, sondern auch – selbst dann, wenn das Ausland Gegendruck machte – darin bleiben konnten. Wir wussten, dass die alte Bundesrepublik alles andere als reinen Tisch gemacht hatte mit den alten Nazis. Wir wussten, jedenfalls wir ältere wussten, dass es keinen Posten gab, auf den ein ehemaliges Mitglied der NSDAP es in der BRD nicht hätte schaffen können.

Die Studie aber lässt einen begreifen, wie das durchgesetzt wurde, wie die alte Elite dafür sorgte, dass sie auch wieder die neue war. „Das Amt und die Vergangenheit“ ist ein Lehrstück. In Sachen Vergangenheitsbewältigung durch Vergangenheitsleugnung. Ein Stück über erfahrungsresistentes gutes Gewissen.

Es wird – das ist zu hoffen – zu einer Debatte über die ersten Jahre der Bundesrepublik, über ihren Umgang mit den Untaten ihrer Bürger führen. Man wird sprechen müssen über den ungebrochenen Antisemitismus, über den Hass auf die „Anderen“ und darüber, wie tief die Rassenideologie das deutsche Volk ergriffen hatte und wie wenig dagegen in jenen ersten Jahren getan wurde.

Man wird auch sprechen müssen, welche Qualifikationen die NS-Diplomaten hatten, auf die der neue Staat nicht verzichten wollte und die er nirgendwo sonst hätte finden können. Was hat man sich unter einer Elite vorzustellen, die sich innerhalb der Lebensspanne eines Einzelnen ohne Probleme hatte mehrmals umstellen können von Demokratie auf Massenmord und wieder zurück?

Das sind Fragen, die das Buch nicht behandeln kann. Sie werden aber explizit und implizit aufgeworfen. Das „Amt und die Vergangenheit“ ist ein Stück historischer Aufklärung. Wir aber täten gut daran, es auch als einen Kommentar zur Gegenwart zu verstehen. Die aktuelle Debatte über die Notwendigkeit der Heranbildung von Eliten, die über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit und der ihrer Exponenten und nicht zuletzt der schleichende Rassismus unserer vorgeblichen „Integrationsdebatte“ verdienen durch die Brille dieser Untersuchungen noch einmal gründlich betrachtet zu werden.

Das Buch ist das Werk vieler Autoren, aber es liest sich wie aus einem Guss. Es ist exzellent geschrieben, mit Emphase und doch – meist, allermeist – mit kühlem Kopf. Nur selten geht der moralische Überschwang mit den Autoren durch. Gleich in der Einleitung ist eine dieser wenigen Stellen. Es ist ja leider keineswegs „präzedenzlos“, dass „Plünderung, Raub, Verfolgung und Massenmord“ zu den „Aufgabenfeldern“ der Außenpolitik gehören. Wenn es so wäre, hätte es zum Beispiel niemals einen europäischen oder irgendeinen Imperialismus gegeben.

Dass „Das Amt und die Vergangenheit“ nicht nur ein kluges, klüger machendes Buch, sondern auch eine aufregende, eine erregende Lektüre ist, das liegt nicht nur an Entdeckungen der Forscher. Das liegt auch an dem Endredakteur Thomas Karlauf. Vor drei Jahren erschien sein Buch über Stefan George. Davor betreute er als Ghostwriter die Autobiographien von Bruno Kreisky, Franz Josef Strauß und Eberhard von Brauchitsch. Die Historiker Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann und einige andere haben geforscht und geschrieben. Thomas Karlauf hat daraus – vermute ich – das großartige Buch gemacht, das wir in Händen halten.

zur sache
Joschka Fischer initiierte als Bundesaußenminister die Erforschung der Geschichte des Auswärtigen Amtes nach 1933. Das so entstandene Buch von Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, „Das Amt und die Vergangenheit. Die deutschen Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ erscheint bei Blessing. fr

Frankfurter Rundschau, 26.10.2010

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